Gert
Pinkernell
Prof. em. an der Uni Wuppertal
Namen, Titel und Daten der französischen Literatur
Ein
chronologisches Repertorium wichtiger Autoren und Werke
Teil
I: 842 bis ca. 1800
Gewünschte
Autoren oder Werke (möglichst mit originalem Titel) bitte über die Suchfunktion
im Menü „Bearbeiten“ ansteuern!
Vorbemerkung
Die erste Version des Repertoriums
entstand um 1990 als Begleitskript zu einer Überblicksvorlesung. Es war eine
chronologische Liste von Namen, Titeln und Daten und erfasste, wie die
Vorlesung selbst, nur solche Autoren und Werke, die für die Entwicklung der
französischen Literatur als bedeutsam gelten und potenziell Gegenstand des
Literaturunterrichts französischer Gymnasiasten bzw. deutscher
Französischstudenten sind.
Im Lauf der Jahre hat sich aus der
bloßen Liste eine Sammlung von Artikeln entwickelt. 1998 habe ich sie ins
Internet gestellt und nach und nach um Autoren der zweiten Reihe vermehrt. Vor
allem bin ich ständig dabei, sie zu erweitern, zu verbessern und zu
korrigieren. Fast monatlich lade ich eine partiell aktualisierte Version hoch,
weshalb ich bitte, jeweils diese aufzurufen, sie nicht abzuspeichern und
höchstens auszugsweise zu drucken.
2004/05 habe ich die meisten Artikel
ins Wikipedia übertragen, allerdings werden sie dort nicht nur von mir
selber verändert, sondern, gemäß dem Wiki-System, auch von Dritten. Berechtigte
und nützliche Korrekturen baue ich, wenn ich sie bemerke, in mein Repertorium
ein; langatmige Erweiterungen und Anhängsel übernehme ich nicht. Zum einen
müssten sie meistens erst von Un- und Halbrichtigkeiten befreit werden, zum
anderen soll mein Repertorium ein Nachschlagewerk bleiben und kein Ersatz für
die Lektüre weiterführender Literatur werden.
Grundlage meiner Artikel sind jeweils
mehrere, ganz überwiegend französischsprachige Quellen, z.B. die meistens
vorzüglichen Einführungen zu Pléiade-Klassikerbänden und zu Taschenbuchausgaben
renommierter Reihen. Vor allem aber halte ich mich an die Nachschlagewerke Dictionnaire des littératures de langue
française und Dictionnaire des œuvres
littéraires de langue française von Jean-Pierre de Beaumarchais, Daniel
Couty und Alain Rey (jeweils 4 Bde., Paris: Bordas, 1992 bzw. 1994). Auch den Vorlesungen zur Geschichte
der französischen Literatur von Erich Köhler (8 Bde., Stuttgart 1983 ff.)
verdanke ich viel. Daneben nutze ich natürlich auch das französisch-, englisch-
und ggf. das spanisch- und das italienischsprachige Wiki. Auf die Angabe
weiterführender Literatur verzichte ich, weil man sie leicht über das Wiki oder
den Online-Katalog der Bonner Uni-Bibliothek erschließen kann, die die
Französistik als Sondersammelgebiet pflegt. Immerhin mochte ich mich nicht
enthalten, eigene Studien anzuführen oder sogar an Artikel anzuhängen. Auch
gebe ich, wenn mir Werke aus meiner Lehre und Forschung besonders vertraut
sind, des öfteren persönliche Deutungshinweise (die ich meistens nicht ins Wiki
übertrage).
Ein literarisches Werk ist für die
Leute vom Fach vor allem ein Element innerhalb eines Beziehungsgeflechts von
Werken vor, neben und nach ihm, d.h. Werken, die seinem Autor bekannt waren und
ihm als Vor- oder Gegenbild dienten, und Werken, auf die es seinerseits gewirkt
hat, weil deren Autoren es lasen. Für Nichtfachleute, was ja auch Studenten
noch sind, ist diese „intertextuelle“ Sicht mangels breiteren
literarhistorischen Wissens nur theoretisch nachvollziehbar. Für sie ist ein
Werk vor allem ein Einzelphänomen, nämlich die punktuelle Reaktion des Autors
auf eine bestimmte, oft problematische Situation in seinem Leben und seinem
konkreten historischen Umfeld. Entsprechend finden sie Zugang zum Werk am
ehesten über die Biografie des Autors, die meistens ja auch historisches und
literarhistorisches Wissen vermittelt. Eben diese laiengemäße biografistische
Sicht soll das Markenzeichen meines Repertoriums sein, zumindest ab dem späten
Mittelalter, wo die biografischen Informationen reichlicher sind. Die einzelnen
Artikel könnten also Autor XY: Leben und Schaffen überschrieben sein,
weil sie bemüht sind, Biografie und Werke im Verbund zu sehen. Dass mein
Biographismus nicht dem derzeitigen literaturwissenschaftlichen Mainstream
entspricht, soll mich nicht stören. Den Titel eines „Neopositivisten“, den mir
ein amerikanischer Kollege in einem anderen Kontext scherzhaft zuerkannt hat,
trage ich gern.
P.S. 1: Überflüssig zu sagen, dass mit
„Autor“ auch Autorinnen gemeint sind. Ich habe es mit „AutorIn“ versucht, fand
dies aber wegen der vielen dann nötigen „der/die“, „sein/ihr“ usw. zu schwerfällig.
P.S.: 2: Da ich annehme, dass die
meisten Benutzer meines Repertoriums zumindest rudimentäre Französisch- und
Frankreichkenntnisse haben, nenne ich Institutionen und historische Figuren mit
ihren französischen Namen und führe ich Werktitel im Original an. Wenn es
hierzu gängige deutsche Versionen gibt, füge ich sie häufig in Schrägdruck
hinzu, z.B. La Chanson de Roland / Rolandslied; eigene, möglichst
wortgetreue Übersetzungen von Titeln setze ich in Klammern, z.B. Le Livre du trésor (= das Buch vom Schatz).
P.S. 3: Für Anregungen und Hinweise bin
ich dankbar. Anfragen per Mail (pinkerne@uni-wuppertal.de) beantworte ich im Rahmen meiner
Möglichkeiten gern und in der Regel rasch.
Zur
Vorgeschichte der französischen Literatur
Ehe wir uns den
ältesten Namen, Titeln und Daten der französischen Literatur zuwenden, gehen
wir kurz zurück zu dem, was davor war. Und da wiederum springen wir zurück zum
Ende der Antike, d. h. zum Untergang des westlichen, lateinisch
sprechenden Teilstücks des Römischen Reiches. Denn das östliche, griechisch
sprechende Teilreich mit der Hauptstadt Byzanz oder Konstantinopel (dem
heutigen Istanbul) hat sich ja noch viele Jahrhunderte relativ stabil gehalten
und ist endgültig erst 1453 unter dem Ansturm der Türken gefallen.
Doch warum eigentlich ist das
weströmische Reich mit dem Zentrum Rom „untergegangen“, wie man so sagt? Hierzu
sind im Laufe der Jahrhunderte viele Hypothesen aufgestellt worden. Früher
wurden meist mentale oder moralische Ursachen vermutet. So meinte man, die
alten Römertugenden wie Bürgersinn, Opferbereitschaft, Disziplin, Mäßigkeit
usw. seien verlorengegangen, die Römer seien dekadent geworden, verweichlicht
und kraftlos. Heute sucht man eher nach materiellen Faktoren, und da kommt
natürlich schnell eine Vermutung zur anderen. Darunter sind zum Teil sehr
skurrile, z. B. die Vermutung, die spätrömische Herrschaftselite habe wegen der
schönen bleiernen Wasserleitungen in ihren Villen und Palästen unter
chronischer Bleivergiftung gelitten und hätte deshalb keine Energie mehr zum
Regieren oder gar zum Erobern gehabt.
Aber natürlich gibt
es auch plausiblere Vermutungen über die Ursachen. Die wichtigste darunter ist
die, dass irgendwann das gesamtrömische Reich als Organisationsstruktur an
seine Kommunikationsgrenzen gestoßen ist, nachdem im Westen mit dem Atlantik,
im Süden mit der menschenleeren Sahara und im Norden mit den fast
menschenleeren mitteleuropäischen Wald- und Sumpfgebieten die geographischen
Grenzen einer lohnenden Ausdehnung ohnehin schon lange erreicht worden waren.
D. h. der für weitere Eroberungen einzig interessante mittlere Orient, also
grosso modo der jetzige Irak, Iran und Pakistan rückte für die Hauptstadt Rom
in so weite Fernen, dass die Kommunikation dahin fast unmöglich wurde. Und
Gebiete, von denen man kaum mehr Nachrichten erhält, sind zwar vielleicht noch
zu erobern, aber schwer zu beherrschen und zu verwalten. Um 330 reagierte
Kaiser Konstantin auf diese Situation, indem er die Befehlszentrale des Reiches
weiter nach Osten verlegte, eben nach Konstantinopel. Dies war für Rom der
Anfang vom Ende. Zwar wurde Rom bei der anschließenden Zweiteilung des
Gesamtreichs zumindest wieder Teilhauptstadt, aber eben nur für das in mehr oder
weniger feste Grenzen eingezwängte Westreich. Das jedoch war insofern tödlich,
als jahrhundertelang die Wirtschaft in der und um die Millionenstadt Rom auf
Sklavenarbeit beruht hatte, d. h. auf ständig neu in Eroberungskriegen
gefangenen und nach Rom geschafften Arbeitskräften. Als dieser Sklavennachschub
ausblieb, weil das Westreich ja kaum mehr Eroberungskriege führte, ging es mit
der Wirtschaftskraft der Stadt und Mittelitaliens bergab. Der Mangel an
billigen Arbeitskräften und die nachlassende Wirtschaftskraft waren wiederum
Ursache dafür, dass die Entwässerungskanäle in der Tiber-Ebene und in anderen
italienischen Küstenebenen nicht mehr instandgehalten werden konnten und
Malaria sich ausbreitete (die möglicherweise samt der Anopheles-Mücke von Afrika
her eingeschleppt worden war). Die Malaria und vielleicht auch noch andere
Seuchen entvölkerten Rom, und dies desorganisierte die Wirtschaft weiter. So
entstand ein circulus vitiosus, der Rom in drei, vier Generationen von einer
Millionenstadt zur Mittelstadt absinken ließ, die in Konkurrenz zu anderen
Mittelstädten und bisherigen Unterzentren geriet und kein Hauptstadtgewicht
mehr besaß.
Ohne
funktionierendes Oberzentrum aber zerbröckelt ein so großer Staat, wie das
Weströmische Reich es trotz der Teilung immer noch war, sehr leicht. Die
Regionen verselbständigen sich, und wenn dann noch Einwirkungen von außen
dazukommen, ist es mit der staatlichen Einheit vorbei. Diese Einwirkungen
bestanden zwar seit langem in Form der germanischen Völkerwanderungen, denn
seit Jahrhunderten überschritten kleinere oder größere Völkerscharen die
nördlichen Grenzen. Doch wurden sie entweder besiegt und dabei teils
erschlagen, teils versklavt, oder aber sie wurden im Grenzgebiet innerhalb der
Reichsgrenzen angesiedelt und integriert. Im vierten und fünften Jahrhundert,
d. h. mit zunehmender Desorganisation der römischen Zentralgewalt,
funktionierte dieses System immer schlechter. Die Wacht an den Grenzen brach
nach und nach zusammen, und so konnten die herandrängenden germanischen
Wandervölker immer leichter auf dem Boden des römischen Reiches kleinere und
größere unabhängige Herrschaftsgebiete etablieren, z. B. die Reiche der
Westgoten, der Burgunder und vor allem der Franken. Hierbei bildeten sie in der
Regel aber nur eine Oberschicht von Kriegern und Grundherren und übernahmen von
der unterworfenen Bevölkerung meist nicht nur deren Sprache und die christliche
Religion, sondern auch Strukturen der vorhandenen Verwaltung bzw. der noch
vorhandenen Reste davon. D. h. sie übernahmen vor allem die Verwaltung der
katholischen Kirche, denn diese besaß die letzte auf Unterzentren, nämlich die
Provinzhauptstädte als Bischofssitze, bezogene funktionierende Organisation
(wobei die Beziehungen dieser Unterzentren zum alten Oberzentrum Rom eher nur
noch ideologisch waren und kaum mehr administrativ).
Mit der
Zersplitterung des römischen Reiches in einzelne Regionen verfielen nach und
nach auch die überregionalen Straßen, und mit ihnen der überregionale
Wirtschaftsaustausch. Damit aber verfielen alle in eine überregionale
Arbeitsteilung eingebundenen Wirtschaftszweige wie Handel, Verkehr und
industrielles Gewerbe. Hierdurch verarmten die Städte als Wirtschaftszentren
und leerten sich. Ein drastisches Beispiel ist hier Arles in Südfrankreich. In
seinen besten antiken Zeiten war es eine große Stadt mit einem großen
Amphitheater. In seinen schlechtesten frühmittelalterlichen Zeiten war es eine
Ministadt im Amphitheater, mit nichts drumherum außer zugewucherten Ruinen,
darunter den Resten eines riesigen großstädtischen Friedhofs, dessen Größe man
sich nicht mehr erklären konnte und den man für eine Geisterstadt hielt.
Die Gesellschaft
des ehemaligen römischen Reiches bzw. der ihm nachfolgenden Herrschaftsgebiete
wandelte sich also von einer städtisch geprägten, arbeitsteiligen Gesellschaft
zu einer ländlich-dörflichen Gesellschaft mit „Subsistenzwirtschaft“,
d. h. einer fast nur für den Eigenbedarf der Familien produzierenden
Wirtschaft praktisch ohne Arbeitsteilung. Solche ländlichen Gesellschaften aber
sind meist weder wirtschaftlich in der Lage, noch vom Selbstverständnis ihrer
Mitglieder her bereit, Individuen freizusetzen für so spezialisierte und dazu
nichtproduktive Tätigkeiten, wie es kulturelles Schaffen ist. Mit anderen
Worten, die Entstehung von Kunstwerken und somit auch von literarischen Werken
ging mit dem Niedergang der Städte stark zurück, weil künstlerisch begabte
Individuen kaum noch die Möglichkeit hatten, ihr Talent auszubilden und zu
betätigen.
Ein weiteres Moment, das speziell für
die Literatur zunehmend zur Schwierigkeit wurde, war die wachsende sprachliche
Zersplitterung. Spätestens um 300 n. Chr. war das Lateinische im Westteil des
römischen Reiches für den größten Teil der Einwohner von einer Verkehrssprache
zur Muttersprache geworden. Dieses Latein war natürlich nicht das ausgefeilte
und komplizierte Latein, wie man es z.B. von Caesar oder Cicero kennt, sondern
stand dazu etwa im selben Verhältnis wie unsere heutige deutsche Sprechsprache
zur Literatursprache von Schiller und Goethe. Auch war dieses Latein nicht
überall einheitlich, sondern regional gefärbt, ähnlich wie heute das Englische
in Amerika, Australien, Indien, Jamaica oder Kanada nicht ganz dasselbe ist.
Aber immerhin konnte sich jemand aus dem heutigen Portugal mit jemand aus dem
heutigen Rumänien, Tunesien oder Süd-England verständigen; und die
Schriftsprache war mehr oder weniger dieselbe für alle Alphabetisierten. Mit
dem Nachlassen des überregionalen Austauschs aber entwickelten sich die
Regionen auch sprachlich auseinander: die verschiedenen romanischen Sprachen
und ihre Dialekte begannen sich herauszubilden. Das alte Lateinische existierte
zwar als Schriftsprache und überregionale Verkehrssprache weiter, wurde aber
schließlich nur noch von wenigen Gebildeten verwendet, den Klerikern, für die
es zugleich zu einer Fremdsprache wurde, die man von Grund auf lernen musste.
Diese beiden Phänomene: einerseits die sprachliche Zersplitterung und das
daraus resultierende Bewusstsein potentieller Autoren, dass das, was man in der
eigenen Sprache verfasste, schon in der Nachbarregion kaum mehr verstanden
wurde, und andererseits die psychologische Barriere von Autoren und Publikum
gegenüber der Fremdsprache Latein waren sicher kein Stimulans für literarisches
Schaffen, selbst wenn alle anderen Vorbedingungen gegeben gewesen wären.
Immerhin ging mit
dem Niedergang der Städte und ihrer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht alle
höhere Kultur verloren. Ein gewisses beständiges Element in der allgemeinen
Auflösung bildete die katholische Kirche. Da, wie erwähnt, ihre
Verwaltungsstrukturen zumindestens zum Teil erhalten blieben, war sie die
einzige Institution, die in der nunmehr ländlich strukturierten Gesellschaft
ausreichend Mehrwert abschöpfen konnte, um zumindest für den Eigenbedarf ein
Minimum an kultureller Aktivität aufrechtzuerhalten, vor allem im Kunsthandwerk
oder in der Architektur, aber auch in der geistlichen Musik und Literatur. Die
Kirche war auch, dank ihrer bestehen gebliebenen ideologischen Ausrichtung auf
den Papst in Rom als gemeinsames geistliches Oberhaupt, die einzige
Institution, die das Weiterbestehen einer gewissen kulturellen und geistigen
Einheit der ehemaligen weströmischen Reichsgebiete gewährleisten konnte und die
vor allem Interesse hatte an der Pflege der lateinischen Sprache als
überregionalen Kommunikationsmittels.
Beides aber, die
Konzentration der noch möglichen kulturellen Aktivitäten im kirchlichen Bereich
und das hier gegebene Vorherrschen der lateinischen Sprache, führte dazu, dass
intellektuell anspruchsvollere Literatur, wenn sie entstand, erstens im Rahmen
der Kirche entstand und für eine Rezeption innerhalb der Kirche bestimmt war
und dass sie zweitens als Medium meistens nicht die Volkssprachen benutzte,
sondern das Lateinische. Hierdurch aber ist die Literaturgeschichte des frühen
Mittelalters im katholisch-christlichen Europa bis gegen 1100 fast ganz und gar
eine Geschichte lateinisch verfasster und religiös inspirierter Texte, neben
die erst nach und nach auch anspruchsvollere volkssprachliche Texte traten, und
erst noch später Texte, die weltliche Themen behandelten.
Eine weitere,
sozusagen technische Schwierigkeit, mit der alle Versuche zu kämpfen hatten,
nichtlateinische Texte zu konzipieren und vor allem, sie dann schriftlich zu
fixieren, war das Nichtvorhandensein volkssprachlicher Schriftsprachen, und
zwar im primitivsten Sinne des Wortes. Alle Leute, die überhaupt lesen und
schreiben lernten, lernten dies an lateinischen Wörtern und Sätzen. Damit aber
waren sie keineswegs auch fähig, die Sprechsprache zu verschriften, die sie
benutzten und um sich herum hörten. Mit anderen Worten: die wenigen in den
Volkssprachen konzipierten literarischen Texte wurden in der Regel von den
Autoren im Gedächtnis ausgearbeitet und mündlich vorgetragen. Wenn die Texte
gefielen, wurden sie von diesem oder jenem Zuhörer auswendig gelernt und
weitergegeben. Mündlich tradierte Texte aber gehen irgendwann verloren. Und so
kennen wir heute bestenfalls einen winzigen Bruchteil dessen, was im frühen
Mittelalter vielleicht an volkssprachlicher Literatur existiert hat.
Das, was wir
kennen, kennen wir entweder, weil es zufällig doch, und meist mehr schlecht als
recht, aufzuschreiben versucht wurde und weil es ebenso zufällig und meist
bruchstückhaft mit dem Blatt oder auch nur Fetzen Pergament oder Papier, auf
dem es stand, erhalten geblieben ist. Oder wir kennen es indirekt, weil hin und
wieder ein volkssprachlicher Text in eine lateinische Version umgearbeitet und
aufgezeichnet wurde. Oder wir kennen es noch indirekter, weil im kirchlichen
Schrifttum Reflexe davon zu finden sind, wie z. B. das berühmte Verbot an
(süddeutsche) Nonnen, "winileodes vel scribere, vel mittere", also
Liebeslieder zu verfassen oder zu verschicken.
Aber welcher Art
war jene volkssprachliche Literatur? Grundsätzlich wird man vermuten müssen,
dass die Texte eher kurz als lang waren, wie es überall auf dieser Welt in
Gesellschaften von Analphabeten der Fall ist. Denn selbst ein gut trainiertes
Gedächtnis setzt der Länge von mündlich vorzutragenden Texten Grenzen. D.h. ein
Großteil jener Texte werden Lieder gewesen sein: Tanzlieder, Liebeslieder,
Kinderlieder, Trinklieder und andere Geselligkeitslieder, dazu gereimte
Sprüche, wie Zaubersprüche, Lebensweisheiten oder Ähnliches, grosso modo also
das, was im weitesten Sinne unter Lyrik zu verstehen ist. Ein anderes Genus
waren Helden- und Familiensagen oder Heiligenlegenden, die meistens ebenfalls
in irgendeiner Weise in Versform verfasst waren, damit man sie besser auswendig
lernen und aus dem Gedächtnis vortragen konnte.
Im Bereich
der Lieder aller Art und der Heldensagen gab es sicher auch die ersten Profis,
die sog. Spielleute, d.h. Leute, die Texte im Hinblick auf den Vortrag vor einem
größeren Zuhörerkreis verfassten oder sich aneigneten und die ganz oder
teilweise von Geschenken ihres Publikums lebten. Dabei mussten sie dann
allerdings von Dorf zu Dorf und von Burg zu Burg wandern, da jahrhundertelang
an keinem Ort ein ausreichend großes Publikum vorhanden war, das einen solchen
Spezialisten auf Dauer hätte ernähren können und wollen.
Aber damit sind wir
etwa in dem Zeitraum, aus dem die ältesten erhaltenen Texte der französischen
Literatur stammen, die nun vorzustellen sind.
Mittelalter
Les Serments de Strasbourg /
Straßburger Eide
(842)
Sie sind zwar keine Literatur, doch beginnen
Literaturgeschichten häufig mit ihnen, weil der franz. Wortlaut dieser auf
Altfranzösisch und Althochdeutsch abgelegten Eide der älteste erhaltene Text in
franz. Sprache ist. (Althochdeutsche Texte sind noch einige ältere erhalten).
Die Eide sind überliefert als Zitate in der lateinischen Chronik Historiarum
libri IV des Mönches Nithard (9. Jh.), die ihrerseits in einer Abschrift
aus dem 10. Jh. vorliegt.
Sie wurden geschworen von dem
ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen und dem westfränkischen König Karl
dem Kahlen sowie ihren Unterführern, und zwar beim Abschluss eines Bündnisses
dieser beiden Halbbrüder gegen ihren ältesten Bruder, Kaiser Lothar. Dieser
nämlich gab sich nach dem Tod ihres Vaters, Kaiser Ludwigs des Frommen († 840),
und der von ihm verfügten Dreiteilung des Frankenreichs nicht mit dem
Mittelteil zufrieden, der ihm zugefallen war. Vielmehr beanspruchte er, da er
als Ältester auch die Kaiserwürde geerbt hatte, die Oberhoheit über das gesamte
Reich (also grosso modo das Gebiet des jetzigen Frankreichs, der
Benelux-Staaten, der alten Bundesrepublik plus Thüringen, der Schweiz,
Westösterreichs sowie Nord- und Mittelitaliens).
Bei ihrem Treffen in Straßburg schworen
zunächst die offenbar zweisprachigen beiden Könige, und zwar Ludwig der
Deutsche, damit er zugleich auch von Karls Unterführern verstanden wurde, in
„romana lingua“, dann Karl analog in „teudisca lingua“. Hiernach legten jeweils
die sichtlich nicht unbedingt zweisprachigen Unterführer den Eid ab, nämlich
die von Karl in ihrer französischen und die von Ludwig in ihrer deutschen
Sprache. Die beiden franz. Textpassagen lauten:
[Ludwig:] Pro deo amur et pro christian
poblo et nostro commun salvament, d'ist di in avant, in quant deus savir et
podir me dunat, si salvarei eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in
cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra salvar dift, in o quid il mi
altresi fazet, et ab Ludher nul plaid nunqua prindrai, qui meon vol cist meon
fradre Karlo in damno sit.
[Karls Unterführer:] Si Lodhuvigs
sagrament, que son fradre Karlo jurat, conservat, et Karlus meus sendra de sue
part lo franit, si returnar non l'int pois, ne io ne neuls, cui eo returnar int
pois, in nulla adhiuda contra Lodhuvig nun li iv er.
(In eigener, möglichst wortgetreuer
Übersetzung): Für Gottes Liebe und für des christlichen Volkes und unsere
gemeinsame Rettung, von diesem Tag vorwärts (=in Zukunft), in soweit Gott
Wissen und Können mir gibt, so werde beistehen ich diesem meinen Bruder Karl
sowohl in Hilfeleistung als auch in jeder Angelegenheit, so wie man von Rechts
wegen seinem Bruder beistehen soll, auf das dass er mir genauso tue; und mit
Lothar kein Abkommen werde ich niemals treffen, das meines Willens diesem
meinen Bruder Karl zum Schaden sei.
Falls Ludwig den Eid, den er seinem
Bruder Karl schwört, wahrt und Karl mein Herr seinerseits ihn bricht, wenn
abhalten nicht ihn davon ich kann, [dann] weder ich noch irgend jemand, den ich
davon abhalten kann, in irgendeiner Hilfeleistung gegen Ludwig nicht ihm dort
werde sein.
Wie man sieht, hatte (der im Auftrag
Karls des Kahlen arbeitende) Nithard bzw. der Schreiber des altfranz. Textes
Schwierigkeiten, die Sätze, die er gehört hatte, zu verschriftlichen, denn er
hatte, wie damals üblich, Lesen und Schreiben nur anhand lateinischer Texte
gelernt. So etwas wie eine eigene franz. Schriftsprache gab es noch nicht, denn
bis weit über das Jahr 1000 hinaus wurde alles, was für aufschreibenswert gehalten
wurde, von lateinkundigen Spezialisten, meist theologisch gebildeten
„Klerikern“, in Latein aufgeschrieben. (Dieses Latein, das sog. Kirchen- oder
Mittellatein, glich allerdings längst nicht mehr demjenigen, das um die
Zeitenwende herum im alten Rom gesprochen worden war und dessen literarisches
Register wir als klassisches Latein aus den Werken eines Cäsar, Cicero, Ovid,
Horaz oder Vergil kennen).
P.S.: Das damalige Frankenreich war in
sprachlicher Hinsicht sehr heterogen. Im Westteil wurden franz. und okzitanische
Dialekte gesprochen und im Ostteil nieder-, mittel- und oberdeutsche Dialekte;
das Mittelreich „Lotharingia“ (wovon sich die Bezeichnungen dt. Lothringen und
frz. Lorraine ableiten) umfasste zusätzlich auch noch alpenromanisch- und
italienischsprachige Gebiete.
(Stand: Juli 06)
La Cantilène de Sainte Eulalie /
Eulaliasequenz
(ca. 885)
Es ist das älteste bekannte
literarische Werk in franz. Sprache. Es hat die Form einer „Sequenz“ (wie sie
bei Gottesdiensten per Sing-Sang vorgetragen wurden) und berichtet von der Hl.
Eulalia, einer jungen Adeligen, die am 10. Dez. 304 im heute spanischen Mérida
den Märtyrertod erlitten haben soll. Der wahrscheinlich in Nordostfrankreich
(vielleicht im Benediktinerkloster Saint-Amand-les-Eaux) entstandene Text besteht
aus 29 Versen unterschiedlicher Länge (8 bis 12 Silben), die paarweise
assonieren, d.h. nur mit den Vokalen und nicht auch mit den Konsonanten der
Reimsilben reimen. Er ist verfasst in Anlehnung an eine inhaltsgleiche
lateinische Sequenz und folgt auch auf diese in der Sammelhandschrift, die sie
beide überliefert. Die betreffende Handschrift, die u.a. auch einen
althochdeutschen Text enthält, wurde übrigens 1837 von A. H. Hoffmann von
Fallersleben wiederentdeckt und erstmals abgedruckt.
Die Eulaliasequenz
lässt, wie alle sehr frühen erhaltenen franz. Texte, deutlich die
Schwierigkeiten erkennen, die die sonst nur lateinisch schreibenden Autoren
oder Kopisten bei der Verschriftlichung volkssprachlicher Wörter und Sätze
hatten. Der Anfang lautet (mit möglichst wortgetreuer Übersetzung von mir):
Buona pulcella fu Eulalia, // Gute
Jungfrau war Eulalia,
bel auret corps, bellezour anima.// schön hatte sie [den] Körper, schöner
[die] Seele.
Voldrent la veintre li deo inimi,// [Es] wollten sie besiegen die Gottes
Feinde,
voldrent la faire diaule servir.// wollten sie machen dem Teufel dienen.
Elle non eskoltet les mals conseillers,// Sie nicht hört die bösen Ratgeber,
qu'elle deo raneiet chi maent sus en ciel, // dass sie Gott verleugnet, der
weilt oben im Himmel,
Ne por or, ned argent, ne paramenz, // nicht für Gold, noch Silber, noch
Schmuck,
por manatce regiel, ne preiement.// [noch] durch Drohung königliche, noch
Bitte.
Niule cose non la pouret omque pleier,// Keine Sache konnte sie nicht jemals
beugen
[...]
Tuit oram que por nos degnet preier// Alle beten wir, dass für uns [sie] geruht
zu bitten,
qued avuisset de nos Christus mercit// dass habe für uns Christus Gnade
post la mort e a lui nos laist venir// nach dem Tod und zu ihm uns lasse kommen
par souue clementia.// durch seine Milde.
Die Eulaliasequenz
ist eines der Zeugnisse dafür, dass spätestens ab 800 im franz. Sprachraum die
Laien auch das eher schlichte Kirchenlatein nicht mehr verstanden (weshalb 813
das Konzil von Tours beschloss, dass die Predigten nicht mehr in Latein,
sondern in „lingua romanica“ zu halten seien). Sie ist zugleich ein Zeugnis
dafür, dass das geistige und potenzielle literarische Leben nach wie vor von
den Bedürfnissen der Kirche bestimmt wurden, die ihrerseits die einzige
Institution war, die die materiellen und organisatorischen Möglichkeiten hatte,
um intellektuell und künstlerisch begabte Individuen von den Zwängen der
Alltagsarbeit freizustellen, zu fördern und zu unterhalten.
(Stand: Juli 06)
Vie de saint Léger / Leodegarlied (gegen 1000)
Es ist der älteste erzählende Text, der
in franz. Sprache erhalten ist. Es handelt sich um eine Vita (Kurzbiografie)
des Abtes von Saint-Maixent und späteren Bischofs von Autun sowie königlichen
Beraters Leodegar. Dieser war 678 bei einer der im damaligen Frankenreich
häufigen Thronfolgewirren von einem politischen Rivalen, Graf Ebroin, gefangen
genommen, gefoltert und schließlich ermordet worden und wurde nach seinem Tod,
aus sicherlich ebenfalls politischen Gründen, zum Märtyrer verklärt.
Das Leodegarlied
(so die traditionelle Bezeichnung in der dt. Romanistik) ist offenbar in
Nordostfrankreich entstanden und besteht aus 240 paarweise teils assonierenden,
teils auch schon korrekt reimenden achtsilbigen Versen, den ältesten Versen
dieses Typs, die in der franz. Literatur überliefert sind. Es ist ein Beispiel
der damals florierenden Gattung Heiligenlegende, die aber meistens, zumindest
wenn die Texte aufgeschrieben wurden, das Kirchenlatein als Sprache benutzte.
Der Anfang lautet (mit möglichst wortgetreuer Übersetzung von mir):
Domine deu devemps lauder// Herrn Gott sollen wir loben
et a sos sancz honor porter.// und seinen Heiligen Ehre darbringen.
In su amor cantomps dels sanz// In seiner Liebe singen wir von den Heiligen,
quae por lui augrent granz aanz; // die für ihn hatten große Qualen;
et or est temps et si est biens// und nun ist Zeit und so ist es gut,
quæ nos cantumps de sant Lethgier.// dass wir singen vom heiligen Leodegar.
Primos didrai vos dels honors// Zuerst werde ich euch sagen von den Ehren,
Quæ il awret ab duos seniors.// die er
hatte bei zwei [hohen] Herren.
Apres ditrai vos dels aanz// Danach werde ich euch sagen von den Qualen,
que li suos corps susting si granz,// die der seinige Körper [=er] aushielt so
große,
et Ewruins, cil deumentiz,// und [von] Ewruin, diesem Gottleugner,
que lui a grant torment occist.// der ihn mit großer Tortur umbrachte.
[...]
Vie de saint
Alexis / Alexiuslied (ca. 1050)
Diese Nachdichtung einer lateinisch
verfassten Heiligenlegende gilt als der erste erhaltene franz. Text, der über
seine religiösen Intentionen hinaus deutlichen künstlerischen Ehrgeiz aufweist.
In Form und Stil ist das Alexiuslied (wie das Werk in der dt. Romanistik
traditionell heißt) beeinflusst von der Gattung Heldenepos (chanson de
geste, s.u.), die zu seiner Entstehungszeit schon florierte. Es war offenbar
zum Vortrag per Sing-Sang bestimmt und besteht aus 125 Strophen von je 5
assonierenden 10-silbigen Versen mit Zäsur nach der 4. Silbe, den ältesten
Strophen und Versen dieses Typs, die aus der franz. Literatur bekannt sind. Die
erzählte Geschichte beruht vermutlich auf der einer realen Person vom Anfang
des 5. Jh.:
Alexius ist zu Beginn der „Handlung“
der lang ersehnte, spät geborene einzige Sohn römischer Adeliger, der sich vom
Vater in eine schöne Karriere einführen und standesgemäß verloben lassen hat,
aber seiner Braut am Vorabend der Hochzeit erklärt, dass er nicht heiraten,
sondern Gott dienen wolle. Hiernach verlässt er sie und die Eltern ohne
Abschied und wird über Zwischenstationen nach Edessa geführt (in der heutigen
südlichen Türkei, nahe der Grenze zu Syrien). Dort lebt er 17 Jahre lang als
frommer Asket von Almosen und gibt sich z.B. Bediensteten seiner Familie, die
auf der Suche nach ihm sind, nicht zu erkennen. Als man ihn in Edessa als
Heiligen zu verehren beginnt und eine himmlische Stimme seine Heiligkeit
bestätigt, entzieht er sich der Verehrung und geht erneut auf Wanderschaft, bis
er auf einem Schiff vom Sturm zurück nach Rom geführt wird. Dort bittet er auf
der Straße unerkannt seinen Vater, ihm aus Liebe zu seinem verschollenen Sohn
einen Platz unter der Treppe in seinem Haus zu gewähren. Hier verbringt er
nochmals 17 Jahre in Armut, ernährt sich von Küchenresten und lässt sich
demütig vom Hauspersonal schikanieren. Sterbend verfasst er ein Schriftstück,
dank dem er vom Papst im Beisein seiner Eltern, seiner Braut und des Kaisers
als der Sohn des Hauses und als heilige Person erkannt wird. Danach wird er mit
großem Pomp und starker Anteilnahme der Bevölkerung bestattet, was zeigt, dass
ihm ein Platz im Himmel sicher ist.
Die Alexius-Legende, die zu einer
bedingungslosen „imitatio Christi“ (Nachahmung Christus’) aufruft, kam
ursprünglich aus Syrien, war von dort nach Konstantinopel gelangt und aus dem Griechischen ins Lateinische
übertragen worden. Diese Version wurde in Mittelalter und früher Neuzeit
zur Grundlage für Nachdichtungen in
verschiedenen europäischen Sprachen, von denen die franz. die älteste ist.
Diese ist in fünf z.T. unvollständigen Abschriften aus dem 12. und 13. Jh.
erhalten und entstand vermutlich im Nordosten des franz. Sprachgebietes. Sie
ist jedoch überliefert in einer Sprache, die anglonormannisch gefärbt ist, d.h.
Elemente desjenigen franz. Dialekts enthält, den die normannischen Eroberer
1066 aus der Normandie nach England mitgenommen hatten und als herrschende
Schicht mehrere Generationen lang dort sprachen (bis er vom Angelsächsischen
aufgesogen wurde und mit ihm zum Englischen verschmolz).
Der Anfang des Alexius-Liedes
lautet (möglichst wörtlich übersetzt von mir):
Bons fut li siecles / al tems
ancienour, // Gut war die Welt zur Zeit der Alten,
quer feit i eret / e justise ed amour; // denn Treue dort war und Gerechtigkeit
und Liebe;
s'i eret creance, / dont ore n'i at nul prout; // ebenso dort war Vertrauen,
wovon es jetzt keinen Nutzen gibt;
toz
est mudez, / perdut ad sa coulour: // alles ist verwandelt, verloren hat es
seine Farbe:
ja mais n'iert tel / cum fut as anceisours. // niemals wird es sein solches,
wie es den Vorfahren war.
Al tems Noe / ed al tems Abraam // Zur
Zeit Noahs und zur Zeit Abrahams
Ed al David, / cui Deus par amat tant,// und zur [Zeit] Davids, den Gott gar
liebte so sehr,
Bons fut li siecles; / ja mais n'iert si vaillanz; // gut war die Welt; niemals
wird [sie] sein so wacker;
Vielz est e frailes, / toz s'en vait declinant, // alt ist sie und gebrechlich,
alles ist am niedergehen,
Si'st empeiriez, / toz biens vait remanant. // und ist verschlimmert, alles
Gute ist am fortbleiben.
Puis icel tems / que deus nos vint
salver, // Nach jener Zeit, als Gott (=Christus) uns kam retten,
Nostre anceisour / ourent crestiantet, // [und] unsere Vorfahren bekamen
Christenglauben,
Si fust uns sire / de Rome la citet. // so war [da] ein Herr von Rom der Stadt.
Riches hom fut, / de grant nobilitet. // Reicher Mann war er, von großem Adel.
Pour ço'l vous di: / d'un suon fil
vueil parler.// Für das (=deshalb) es euch sage ich:
von einem seinen Sohn will ich reden.
Der Text zeigt, dass zu seiner
Entstehungszeit sichtlich die Grundlagen einer franz. Schriftsprache und
zweifellos auch einer überregional verständlichen „Koiné“ (Verkehrssprache)
geschaffen waren. Diese Schriftsprache pflegte aber, wie oben angedeutet, dialektal
gefärbt zu sein, d.h. Elemente des Dialekts des jeweiligen Autors oder auch
Kopisten aufzuweisen.
(Stand: Apr. 10)
Chansons de
geste
Die Gattung der Chansons de geste (von
lat. gesta „Heldentaten“) zählt zu den ältesten erzählenden Gattungen
der franz. Literatur. Ihre Entstehung fällt in das 11. oder sogar schon 10.
Jh., doch ist ihre Blütezeit das 12. Jh.. Wie die Bezeichnung „chanson“ besagt,
waren die Texte nicht zur schriftlichen Verbreitung und damit zum Lesen oder
Vorlesen bestimmt, sondern zum freien Vortrag in einer Art Sing-Sang durch i.
d. R. professionelle reisende Spielleute, die sich selbst mit einem
(Saiten-)Instrument begleiteten oder aber begleiten ließen. Sie richteten sich
(anders als der etwas spätere Höfische Roman, s.u.) an ein nicht spezifiziertes
Publikum, d.h. an Hörer aus allen Bevölkerungsgruppen.
Formal bestehen die Chansons aus
beliebig vielen Strophen, sog. Laissen. Diese stellen meistens jeweils eine
Handlungssequenz oder Episode dar, die manchmal in der nachfolgenden Laisse
leicht abgewandelt wiederholt wird. Die Zahl der Verszeilen pro Laisse war
nicht festgelegt und schwankt zwischen ca. 5 und ca. 20. Die einzelnen
Verszeilen bestehen meistens aus zehn, seltener aus zwölf und ganz selten aus
acht Silben und sind innerhalb ihrer Laisse durch Assonanz miteinander
verbunden.
Die franz. Literaturgeschichte kennt
gut 80 im Schriftform erhaltene Chansons, davon etliche in mehreren
unterschiedlichen, z.B. als erweitert oder gekürzt erscheinenden Versionen. Die
meisten sind ohne Autornamen, d.h. anonym, überliefert und beruhen offenbar auf
älteren, lange Zeit hindurch nur mündlich tradierten Vorlagen oder Vorstufen.
Häufig ranken sie sich ähnlich wie Serienromane um ein und dieselbe
Heldenfigur. Schon Zeitgenossen begannen deshalb, sie in Gruppen einzuteillen,
z.B. den Königs- bzw. Karlszyklus um Kaiser Karl den Großen und seinen Sohn
Ludwig den Frommen oder den Wilhelmszyklus um den Heerführer Guillaume und/oder
dessen Neffen Vivien, die in 24 der erhaltenen Epen im Mittelpunkt stehen.
Inhaltlich geht es meistens um
siegreiche Kriegszüge der Frankenkönige bzw. ̶kaiser und/oder ihrer Heerführer, z.B.
Wilhelms, gegen die „Heiden“, d.h. die Araber bzw. „Mauren“, die seit ihrem
Einfall nach Europa im Jahr 711/12 Süd- und Mittelspanien beherrschten, ab ca.
1000 aber vom christlich gebliebenen Nordspanien her zurückgedrängt wurden.
Daneben werden auch die um 800 geführten Unterwerfungskriege der Franken gegen
die noch länger heidnisch gebliebenen Sachsen behandelt. Nach 1095 kam die Thematik
der Kreuzzüge hinzu, d.h. der Versuche mitteleuropäischer Ritterheere, das seit
500 Jahren von Moslems beherrschte Jerusalem zu erobern und das Heilige Grab
unter christliche Herrschaft zu bringen.
Die Gattung der Chansons de geste, in
die auch Elemente der zeitgenössischen Heiligenlegenden eingeflossen sind,
scheint besonders in den Klöstern entlang der Pilgerstraßen durch Frankreich
nach Santiago de Compostela in Nordwest-Spanien gepflegt worden zu sein, als
Mittel zur Unterhaltung und Erbauung der dort jeweils übernachtenden Pilger.
Die Chansons kamen aber auch auf Jahrmärkten oder Burgen zum Vortrag.
Die letzten Chansons entstanden im 13.
Jh.; die Stoffe und zentralen Figuren der Gattung dienten jedoch noch bis ins
15. Jh. hinein als literarisches Material.
Nicht wenige französische Chansons
wurden Vorlage epischer Texte in anderen volkssprachlichen Literaturen, z.B.
der mittelhochdeutschen.
Eine Anmerkung, übernommen aus dem
Wiki:
Anfang des 13. Jahrhunderts unterteilte
Bertran de Bar-sur-Aube in seinem Girart de Vienne die Chansons in
drei Zyklen:
1. den
Königszyklus (cycle de Charlemagne), zu dem z. B. das Rolandslied/ Chanson
de Roland (s.u.) zählt;
2. die
Aufrührer- und Empörerepen, wie z. B. Gormond et Isembart
3. den
Zyklus über die Familie von Garin de Monglane, zu der auch Guillaume d’Orange
gehört. Wichtigste Beispiele aus diesem Zyklus sind die Chanson de Guillaume
aus dem 12. Jahrhundert, Le Charroi de Nîmes und Aliscans.
Die moderne Literaturgeschichte unterscheidet
noch drei weitere Zyklen:
1. den
Kreuzzugszyklus (cycle de la croisade), mit Werken wie Le Chevalier au cygne
oder die Chanson d'Antioche
2. die
Lothringergeste (geste des Loherains), mit z. B. Garin le Loherain
3. die Nanteuilgeste (geste de Nanteuil)
(Stand: Juni 10)
La Chanson de
Roland / Rolandslied (ca. 1100).
Dieses Versepos umfasst 4002
assonierende Zehnsilber in 291 „Laissen“ (Strophen) und ist eines der ältesten
sowie das vielleicht beste, heute jedenfalls das bekannteste Werk der Gattung „Chansons
de geste“ (s.o.). Von den Romantikern wurde es in Frankreich zu einer Art
frühem Nationalepos stilisiert, und zwar wegen der Liebe, mit der es von „la
douce France“ spricht, und wegen der herausragenden Rolle, die es den „Français
de France“ in dem multi-ethnischen Heer Kaiser Karls des Großen zuweist. Den
Nationalisten und Militaristen des späteren 19. und frühen 20. Jh. galten
natürlich der Held Roland und seine Recken sowie die mächtige Figur Karls des
Großen als vorbildhaft.
Die historische Basis des Rolandsliedes
(wie es in der deutschen Romanistik heißt) ist offenbar ein Überfall
baskischer Krieger auf die von Markgraf Hruotland geführte Nachhut eines
fränkischen Heeres, das im Jahr 778 auf dem Rückzug aus Spanien den
Pyrenäen-Pass von Roncesvaux überquerte.
Das Werk wurde verfasst oder
aufgeschrieben, vielleicht aber auch nur diktiert und/oder öfter vorgetragen
von einem sonst nicht näher bekannten Turoldus, von dem es im Schlussvers nicht
genau deutbar heißt, er habe das Werk „dekliniert“ (Ci falt [=hier endet] la
geste que Turoldus declinet).
Erzählt wird die folgende Geschichte:
Kaiser Karl der Große hat in sieben
Jahren Krieg fast das ganze heidnische Spanien erobert bis auf Zaragosa, dessen
König Marsilie ihm nun Unterwerfung und Konversion zum Christentum anbietet —
beides aber nur zum Schein, um den Abzug des fränkischen Heeres zu erreichen.
Karl versammelt den Rat der Barone, in dem sein Schwiegersohn Ganelon rät, das
Angebot anzunehmen, während sein Neffe Roland, der zugleich ungeliebter
Stiefsohn Ganelons ist, den Kampf fortsetzen will. Karl, der schon alt und
kriegsmüde ist, schließt sich Ganelon an, worauf Roland mit verletzender Ironie
diesen als Sendboten vorschlägt. Der beleidigte Ganelon sinnt auf Rache. Er
begibt sich zu König Marsilie, dem er Roland als einen Kriegstreiber darstellt,
ohne dessen Beseitigung es keinen Frieden geben werde. Marsilie soll deshalb
mit einer Übermacht die Nachhut des abziehenden fränkischen Heeres überfallen;
Ganelon will dafür sorgen, dass Roland ihr Befehlshaber ist. Alles geschieht
wie geplant. Als Roland mit seinen zwölf befreundeten Recken als Unterführern
den Hinterhalt bemerkt, wird er von seinem besonnenen Freund und Schwager in
spe Olivier gedrängt, mit dem Signalhorn Olifant das fränkische Heer zu Hilfe
zu rufen, doch stolz lehnt er ab. Erst als nach verlustreicher Abwehr der
ersten Angriffswelle die Lage aussichtslos ist, bläst er auf Rat des
streitbaren Bischofs Turpin das Horn. Nach der zweiten Welle (deren heldenhafte
Kämpfe wiederum liebevoll-ausführlich dargestellt werden) ist nur noch Roland
übrig. Nachdem auch er durch einen Hagel von Speeren und Pfeilen tödlich
verletzt ist, fliehen die Heiden, weil sie Karls Heer zu hören glauben. Roland
stirbt auf dem Schlachtfeld in der Pose des Siegers, der Erzengel Gabriel und
zwei weitere Engel geleiten seine Seele ins Paradies. Karl, der in der Tat
herbeigeeilt ist, verfolgt nun und vernichtet die Heiden, deren Reste mit dem
schwer verwundeten König Marsilie nach Saragosa flüchten. Dort trifft gerade
ein riesiges Heidenheer ein, geführt von „Admiral“ Baligant von „Babylonien“,
den Marsilie schon vor Jahren um Beistand gebeten hatte. Doch auch dieses Heer
vernichtet Karl, nicht ohne dass er selbst, der trotz seines Alters noch rüstig
ist, im Schlachtgetümmel auf Baligant trifft und ihn in langem Zweikampf mit
Hilfe eines Engels besiegt. Nach der Einnahme Saragosas und der Zwangsbekehrung
seiner Einwohner kehrt Karl zurück in seine Residenz Aachen. Hier muss er Aude,
der Verlobten Rolands, die Nachricht seines Todes überbringen, was auch ihren
Tod bewirkt. Er will nun Gericht halten lassen über Ganelon, doch 30 Verwandte
stellen sich schützend vor diesen, darunter Pinabel, der ihn im gerichtlichen
Zweikampf vertreten will. Erst als Thierry, der junge Bruder des Grafen von
Anjou, sich für die gerechte Sache zu kämpfen erbietet und Pinabel mit Gottes
Hilfe besiegt, kann Karl Ganelon samt seiner Familie bestrafen. Noch dieselbe
Nacht erscheint ihm der Erzengel Gabriel und fordert ihn auf, König Vivien zu helfen,
der in seiner Stadt „Imphe“ von Heiden belagert wird. Karl weint und rauft sich
den Bart – aber man ahnt: er wird gehen.
Lesen wir die ersten Laissen (d.h. die
für das Genre typischen ungleich langen Strophen aus assonierenden
Zehnsilbern), und zwar in der Version der sog. Oxforder Handschrift, die als
die beste gilt und in anglonormannischem Dialekt, d.h. auf englischem Boden,
redigiert ist. (Übersetzung, möglichst wörtlich, von mir) :
Charles li reis, nostre emperere
magnes, // Karl der König, unser Kaiser großer,
sept anz tuz pleins ad estéd en Espaigne, // sieben Jahre ganz volle ist er
gewesen in Spanien,
Tresqu'en la mer cunquist la terre altaigne; // bis an das Meer eroberte er das
Hochland,
N'i ad castel ki devant lui remaigne, // es gibt dort keine Burg, die vor ihm
verbliebe,
Mur ne citét n'i est remés a fraindre // Mauer noch Stadt ist dort verblieben
zu brechen
Fors Sarraguce, ki est en une muntaigne. // außer Saragosa, das ist auf einem
Berg.
Li reis Marsilie la tient, ki Deu nen aimet, // Der König Marsilie hat es inne,
der Gott nicht liebt,
Mahumet sert et Apollin recleimet ; // [sondern] Mohammed dient und Apollo
anruft;
Ne's puet guarder que mals ne l'i ateingnet. // er kann sich nicht behüten,
dass Böses ihn nicht dort erreicht.
Aoi! (=ein Ausruf, der im Rolandslied
regelmäßig das Ende einer Laisse markiert)
Li reis Marsilie esteit en Sarraguce,
// Der König Marsilie war in Saragosa,
Alez en est en un verger suz l'umbre, // gegangen hin ist er in einen Garten
unter dem Schatten,
Sur un perrun de marbre bloi se culched, // auf eine Steinbank aus blauem
Marmor legt er sich,
Envirun lui plus de vint milie humes. // herum um ihn mehr als zwanzigtausend
Mann,
Il en apelet et ses dux et ses cuntes: // er ruft davon sowohl seine Herzöge
als auch seine Grafen an:
„Oez, seignurs, quel peccét nus encumbret: //„Hört, Herren, welches Unglück uns
behelligt:
Li empereres Carles de France dulce // Der Kaiser Karl vom süßen (!) Frankreich
En cest pais nos est venuz cunfundre. // in dieses Land uns ist gekommen
zermalmen.
[...]
Das Rolandslied
war im Mittelalter nicht nur in Frankreich wohlbekannt und verbreitet, sondern
lieferte auch die Vorlage oder den Stoff für zahlreiche Übertragungen,
Bearbeitungen und sonstige Texte in anderen europäischen Sprachen, darunter
Altnordisch, Niederländisch, Spanisch und Englisch. In Deutschland z.B. wurde
es um 1170 vom Pfaffen Konrad nachgedichtet. In Italien machten noch 1476
Matteo Maria Boiardo und etwas später Ludovico Ariosto die Rolands zum
Protagonisten ihrer vielgelesenen heroisch-komischen Versromane Orlando innamorato (= der verliebte
Roland) und Orlando furioso (Der rasende Roland, 1505-1532), die
ihrerseits der Figur neue große Bekanntheit verschafften.
(Stand: Sept. 09)
Romanze von
Rainaut und Harembourg (ca.
1100).
Sie
ist ein hübsches Beispiel der meist untergegangenen mittelalterlichen Lyrik im
volkstümlichen Stil, d.h. einer Literatur, die für ein breites, sozial nicht
spezifiziertes Publikum geschaffen wurde und deren AutorIinnen namentlich meist
unbekannt sind:
Quant vient en mai, que l'on dit as
lons jors,
Que Franc de France repairent de roi cort,
Reynauz repaire, devant, el premier front.
Si s'en passa lez lo mes Arembor,
ainz n'en dengna le chef drecier amont.
E Raynaut, amis !
Als [es] kam in den Mai, den man nennt
[den] mit den langen Tagen, wo die Franken (=die Freien =die Adeligen)
Frankreichs zurückkehren vom Königshof, Reinald kehrt zurück, vorneweg, in der
ersten Reihe. So ging er vorbei neben dem Haus Haremburgas, aber deshalb
geruhte er nicht, den Kopf nach oben zu richten. He, Reinald, Freund!
Bele
Erembors, a la fenestre, au jor,
sor ses genolz tient paile de color.
Voit Frans de France qui repairent de cort
et voit Raynaut devant, el premier front.
En haut parole si a dit sa raison :
E Raynaut, amis!
Schön Haremburga, am Fenster, am
Tageslicht, auf ihren Knien hält sie Stoff von Farbe (=farbig). Sie sieht die
Franken Frankreichs, die zurückkehren vom Hof, und sie sieht Reinald vorneweg,
in der ersten Reihe. Mit lautem Wort, so hat sie ihm ihre Rede gesagt.
"Amis
Raynaut, j'ai ja veu cel jor,
se passisoiz selon mon pere tor,
dolanz fussiez, se ne parlasse a vos !"
"Ja mesfeistes, fille d'empereor :
Autrui amastes, si obliastes nos."
E Raynaut, amis!
"Freund Reinald, ich habe schon
jenen Tag gesehen, [wo], wenn [Ihr] bei meines Vaters Burgturm vorbeigegangen
wäret, bekümmert gewesen wäret, wenn ich nicht zu Euch gesprochen hätte."
– "Schon handeltet [Ihr] schlecht, Kaiserstochter, einen andren liebtet
[Ihr], und so vergaßet [Ihr] uns."
"Sire
Raynaut, je m'en escondirai.
A cent puceles, sor sainz, vos jurerai,
A trente dames que avuec moi menrai,
c'onques nul ome fors vostre cors n'aimai.
Prennez l'emmende et je vos baiserai."
E Raynaut, amis!
"Herr Reinald, ich werde mich
dessen rechtfertigen. Mit hundert Jungfrauen, auf Heiligen[reliquien] werde
[ich] Euch schwören, mit dreißig Damen, die [ich] mit mir führen werde, dass
ich niemals irgendeinen Mann außer Euren Körper (=Euch) liebte. Nehmt die
Wiedergutmachung, und ich werde Euch küssen."
Li
cuens Raynauz en monta lo degré,
gros par espaules, greles par lo baudré,
blond ot le poil, menu recercelé,
en nule terre n'ot si biau bacheler.
Voit l'Erembors, si comence a plorer.
E Raynaut, amis!
Der Graf Reinald daraufhin erstieg die
Stufe, breit bei [den] Schultern, schmächtig in der Gürtellinie, blond hatte er
das Haar, fein gelockt, in keinem Land hatte [es einen] so schönen Jüngling.
Sieht ihn Haremburga, und so beginnt [sie] zu weinen.
Li
cuens Raynauz est montez en la tor,
si s'est assis en un lit peint a flors.
Dejoste lui se siet bele Erembors
..................................
Lors recomencent lor premieres amors,
E Raynaut, amis!
Der Graf Reinald ist gestiegen in den
Burgturm, und so hat er sich gesetzt auf ein Bett bemalt mit Blumen. Neben ihm
setzt sich schön Haremburga. Da beginnt neu ihre erste Liebe. (Vers 4 der
Strophe fehlt – vermutlich nicht per Zensur, sondern durch ein Versehen des
Kopisten.)
Philippe de
Thaon, Le Comput (nach 1113, vor 1119)
Der Compoz (so der originale Titel) ist das älteste in franz. Sprache erhaltene
Sachbuch. Es handelt in sechssilbigen Reimpaaren von der Einteilung der Zeit in
Stunden, Tage, Wochen, Monate und (Kirchen)Jahre, von den Tierzeichen und
anderen regelmäßig wiederkehrenden Phänomenen, z.B. Sonnenfinsternissen, und
zeigt den Stand des damaligen Wissens in diesen Bereichen. Philippe, der in
England arbeitete und im anglonormannischen Dialekt schrieb, verfasste gegen
1125 auch ein Tierbuch (Bestiarium), das er der englischen Königin Aelis
widmete. Dieses gibt das zeitgenössische Wissen von den einzelnen Tieren (auch
Fabelwesen) wieder, das in vielen Punkten von Religion und Aberglauben bestimmt
war.
(Stand: Juli 06)
Le Voyage de Saint Brendan /
Brendansreise (um 1120).
Diese Verserzählung ist eines der
ersten Beispiele franz.sprachiger Unterhaltungsliteratur und wirkt wie eine
Mischung aus Heiligenlegende, Visionsbericht, Märchen und Abenteuergeschichte.
Ihr Autor ist ein sonst nicht näher bekannter Kleriker, der sich selbst Benediz
nennt (in Literaturgeschichten aber meist Benoît oder Benedeit heißt). Die 1834
Verse sind verfasst im anglonormannischen Dialekt und bestehen aus paarweise
reimenden Achtsilbern, d.h. der Form, die sich inzwischen in der
franz.sprachigen Heiligenlegende durchgesetzt hatte. Das Werk ist in immerhin
sechs Handschriften erhalten, wurde also zu seiner Zeit offensichtlich häufig
abgeschrieben. Es ist der Königin Aelis von England gewidmet und war demnach
zur Zerstreuung des englischen Königshofes gedacht, der zu jener Zeit
überwiegend frankophon war.
Benediz benutzt als Vorlage die in ganz
Europa verbreitete lateinische Navigatio Sancti Brandani (10. Jh.) und
berichtet die fiktive Geschichte des historischen irischen Abtes Brendan (†
578), der mit vierzehn seiner Mönche zu einer Seefahrt aufbricht. Diese soll
ihn, wie von einem Eremiten verheißen, bis zum Paradies führen. Auf seiner
siebenjährigen Fahrt begegnet Brendan vielen seltsamen Tierwesen, findet
verschiedene wundersame Inseln, von denen sich eine als Rücken eines
Riesenfisches erweist, und den Eingang zur Hölle sowie schließlich inmitten
eines Nebelringes auch das Paradies. Nachdem ein Engel ihn und die Seinen durch
dessen Vorgarten geführt hat, kehrt er nach Irland zurück. Hier wird er dank
seiner Frömmigkeit zum Heiligen.
Die Brendansreise
ist eines der vielen Zeugnisse für die beginnende Säkularisierung des geistigen
Lebens, d.h. seine Entkirchlichung und Verweltlichung, die ausgelöst wurde von
dem wachsenden Wohlstand und den zunehmenden Unterhaltungsbedürfnissen der
vielen über das Land verstreuten Fürstenhöfe. Dies waren z.B. die Höfe des
franz. und des englischen Königs sowie die Höfe von Territorialfürsten
(Herzögen und Grafen), an denen sich neue Freiräume und Verdienstmöglichkeiten
boten für nicht kirchengebundene Künstler und Autoren (obwohl letztere von
ihrem Werdegang her meist Kleriker, clercs,
waren).
(Stand. Juli 06)
Lyrisme courtois / höfische Lyrik (ab ca. 1100).
Es ist eine meistens sehr kunstvolle
Lyrik, die ursprünglich spanisch-arabischen Vorbildern folgte, sich aber auch
aus volkstümlichen und aus mittellateinischen Quellen speiste. Sie wurde für
ein überwiegend adeliges Publikum an Fürstenhöfen verfasst und dort gesungen
vorgetragen. Ihre Blütezeit war war um 1200, doch haben ihre Vorstellungswelt
und Bildersprache bis ins 15. Jh. hinein fortgelebt.
Die höfische Lyrik spricht vor allem
von der liebenden Verehrung eines Ichs, das i.d.R. mit dem Autor identisch
gedacht ist, für eine Dame, die zugleich als sozial überlegene Herrin vorgestellt
ist. Hierbei wird diese Dame (das Wort kommt von lat. Domina !) weniger als potenzielle Geliebte gesehen denn als
unerreichbares ideales Ziel der Sehnsucht und des Strebens.
Wichtigste Dichter (trouvères) im nördlichen Frankreich sind
die Kleinadeligen Gace Brulé (1165–ca. 1212) und Conon de Béthune (ca.
1150–1220), der Stadtbürger Jean Bodel (1165-1209) sowie der hochadelige Graf
Thibaud de Champagne (1201–1253).
Der Ursprung und das Zentrum dieser
Lyrik allerdings lagen im 12. Jh. in der damals okzitanisch sprechenden und
schreibenden, politisch quasi unabhängigen Südhälfte Frankreichs mit ihren
florierenden Städten und vielen kleinen und mittleren Höfen, an denen sich
zahlreiche trobadors (dt. Troubadours
oder Troubadoure) unterschiedlichster sozialer Herkunft betätigten, sowie auch
einige adelige weibliche trobadoriz.
Es war eine kulturell sehr lebendige Welt, die aber zerstört wurde im Gefolge
des brutalen „Kreuzzugs“, den 1209, mit Rückendeckung des Papstes, Graf Simon
de Montfort begann, um die in Südwestfrankreich verbreitete prä-protestantische
Sekte der Katharer bzw. Albigenser zu rekatholisieren oder auszumerzen – ein
Unternehmen, das 20 Jahre Krieg auslöste. Dies wiederum führte zum wirtschaftlichen
Ruin der Region sowie zu ihrer politischen Vereinnahmung durch die franz.
Könige und anschließend zu ihrer kulturellen Kolonisierung durch Paris.
Einer der bedeutendsten
altokzitanischen Lyriker war der mächtige Territorialfürst Herzog Wilhelm
(Guilhem) von Aquitanien (1071–1126), der als erster Troubadour überhaupt gilt.
Weitere bekannte Namen sind Marcabru (s.u.), Bernart de Ventador, Jaufré Rudel
(s.u.), Bertran de Born, Arnaut Daniel. Die Themen, Motive, Stilmittel und
Formen der Troubadours inspirierten nicht nur die nordfranzösischen Trouvères,
sondern auch die Minnesänger in Deutschland und die Dichter der
süditalienischen „Scuola siciliana“ sowie des Florentiner „dolce stil novo“ um
Cavalcanti und Dante.
Eine Kostprobe (samt eigener, möglichst
wortgetreuer Übersetzung) von Herzog Guilhem in Altokzitanisch bzw.
„Provenzalisch“, wie die deutschen Hochschul-Romanisten diese Sprache nannten,
als sie sie noch lernten:
Ab
la dolchor del temps novel // Mit der Süße der neuen [Jahres]Zeit
foillo li bosc, e li aucel // beblättern sich die Wälder, und die Vögel
chanton, chascus en lor lati, // singen, jeder in ihrem „Latein“,
segon lo vers del novel chan; // gemäß dem Vers[maß] des neuen Sanges.
adonc esta ben c'om s'aisi // Da ist es gut, dass man sich erfreut
d'acho dont hom a plus talan. // an dem, wozu man am meisten Lust hat.
De
lai don plus m'es bon e bel // Von dort, wo es mir am besten und schönsten ist
[=von der Geliebten]),
non vei mesager ni sagel, // sehe ich weder Boten noch [Brief]Siegel,
per que mon cor no'm dorm ni ri, // weshalb mein Körper [=ich] mir nicht
schläft noch lacht,
ni no'm aus traire ad enan // noch ich mich wage zu bewegen voran,
tro que eu sacha ben de fi // bis dass ich weiß ganz zu Ende (=endgültig),
s'el es aissi com eu deman. // ob sie ist so, wie ich verlange.
La
nostr' amor vai enaissi // Unsere Liebe geht so
com la branca del albespi, // wie der Ast des Weißdorns,
Qu'esta sobre l'arbr' en treman, // der auf dem Baum ist, zitternd,
la nuoit, ab la ploia ez al gel, // nachts, beim Regen und beim Frost,
tro l'endeman,qu'el sols s'espan, // bis zum nächsten Morgen, wo die Sonne sich
ausbreitet
par las fueillas verz e'l ramel. // durch die grünen Blätter und das Geäst.
Enquer me menbra d'um mati, // Noch erinnere ich mich eines
Morgens,
que nos fezem de guerra fi, // wo wir machten mit dem Krieg Schluss
e que'm donet un don tan gran: // und wo sie mir gab ein so großes Geschenk:
sa drudari' e son anel. // ihre Trautheit/Zärtlichkeit und ihren Ring.
Enquer me lais Dieus viure tan // Noch lasse Gott mich so lange leben,
c'aia mas mans soz so mantel! // dass ich meine Hände unter ihrem Mantel haben
möge!
Qu'eu no ai soing de lor lati //
Denn ich habe keinen Kummer wegen ihres [=der anderen Leute] „Latein“
[=Gerede]),
Que'm parta de mon Bon-Vezi, // dass es mich trennen könnte von meinem
Gutnachbarn [=der Geliebten],)
Qu'eu sai de paraulas com van, // denn ich weiß von den Worten, wie sie gehen
[=kenne den Wortlaut]
Ab un breu sermon que s'espel: // von einer kurzen Rede [=Sprichwort], die sich
buchstabiert:
Que tal se van d'amor gaban: // Dass [zwar] manche am Sich-Brüsten sind
hinsichtlicht der Liebe [die sie zu genießen behaupten],
nos n'avem la pessa e'l coultel. // wir [aber] haben davon das Stück [Braten?]
und das Messer.
Wie man sieht, war bei Guilhem, dem es
als reichem und mächtigem Mann sicher nicht schwer fiel, willige Objekte seiner
Wünsche zu finden, die Sicht der Liebe noch relativ handfest und nicht so
idealistisch wie die Vorstellung, die sich anschließend im Dichten der meist
kleinadeligen, sozial niedriger stehenden Troubadoure herausbildete. Deshalb
eine Kostprobe auch aus der späteren Lyrik, und zwar von Graf Thibaud de
Champagne (1201-1253), der als Größter seiner Zeit gilt und rd. 80 Lieder
hinterlassen hat. Thibaud war zwar ein fast ebenso reicher und mächtiger Fürst
wie Guilhem, doch war inzwischen in der höfischen Lyrik die idealistische
„platonische“ Vorstellung von Liebe und ihre Einbettung in eine bestimmte
Begrifflichkeit und Metaphorik so fest etabliert, dass auch er diese
Konventionen respektiert. Ein direkter Bezug des Textes zur Lebensrealität des
Autors scheint bei Thibaud (sowie den anderen höfischen Dichtern der Zeit) kaum
mehr vorhanden und wird sichtlich auch nicht angestrebt. Typisch für die späteren
Epochen der höfischen Lyrik ist auch die gängige Verwendung von Allegorien,
d.h. Personifikationen von Tugenden, Lastern u.ä.:
Ausi comme
l'unicorne sui // So wie das Einhorn bin ich,
qui s'esbahist en regardant // das sich erschreckt/fasziniert ist beim Blicken,
quant la pucele va mirant. // wenn es die Jungfrau am Anschauen ist.
Tant est liee de son ennui, // So froh ist es gegenüber seinem [bisherigen?]
Kummer,
pasmee chiet en son giron // [dass] verzückt es fällt in ihren Schoß.
lors l'ocit on en traïson. // Dann tötet man es verräterisch/heimtückisch.
Et moi ont mort d'autel senblant // Und [auch] mich haben sie getötet mit
demselben [tückischen] Schein
Amors et ma dame, por voir: // „Liebe“ und meine Dame, fürwahr.
Mon cuer ont, n'en puis point ravoir. // Mein Herz haben sie, von ihnen kann
ich es nicht zurückhaben.
Dame,
quant je devant vous fui // Dame, als ich vor Euch trat
et je vous vi premierement, // und ich Euch sah zum ersten Mal,
mes cuers aloit si tressaillant // war mein Herz so erzitternd,
qu'il vous remest quant je m'en mui. // dass es Euch verblieb, als ich mich
hinweg bewegte.
Lors fu menez sanz raençon // Da wurde es geführt ohne Lösegeld[möglichkeit]
en la douce chartre en prison // in den süßen Kerker in Gefangenschaft,
dont li piler sont de Talent// dessen Pfeiler sind aus „Lust/Begehren“,
et li huis sont de Biau Veoir // und die Türen sind aus „Schönem Anschauen“
et li anel de Bon Espoir. // und die Ringe [zum Anketten?] aus „Guter
Hoffnung“.
De
la chartre a la clef Amors // Von dem Kerker hat den Schlüssel „Liebe“,
et si i a mis trois portiers: // und so hat sie [Amors ist damals häufig
Femininum!] dort aufgestellt drei Türhüter:
Biau Semblant a nom il premiers, // Schönes Aussehen“ hat Namen der erste,
et Biautez cele en fet seignors; // und „Schönheit“ macht jene [=Amors] davon
[=vom Kerker] zum Oberherrn;
Dangier a mis a l'uis devant, // „Dangier“ [eine in der deutschen Literatur
unbekannte allegorische Figur, die alles den Liebenden Feindliche verkörpert]
hat sie an die Tür vorne gestellt,
un ort, felon, vilain, puant, // einen schrecklichen, niederträchtigen,
grobschlächtigen, stinkenden [Kerl],
qui moult est maus et pautonniers. // der sehr böse und rüpelhaft ist.
Cil troi sont et viste et hardi: // Diese drei sind fix und furchtlos:
Mult ont tost un homme saisi. // sehr bald haben sie einen Mann gegriffen.
Qui
porroit sousfrir les tristors // Wer könnte ertragen die Trübseligkeiten
et les assauz de ces huissiers?// und die Attacken dieser Türhüter?
Onques Rollanz ne Oliviers // Niemals haben Roland und Olivier
Ne vainquirent si grans estors; // besiegt so große Anstürme/Angriffe.
il vainquirent en conbatant, // [Und wenn, dann] siegten sie kämpfend,
mais ceus vaint on s'humiliant. // aber jene [Türhüter] besiegt man [nur], indem
man sich demütigt.
Sousfrirs en est gonfanoniers. // „Leiden“ ist ihr Bannerträger.
En cest estor dont je vous di // In diesem Angriff, von dem ich euch sage,
n'a nul secors fors de Merci. // gibt es keine Hilfe außer von
„Gnade/Erbarmen“.
Dame,
je ne doute mais riens plus// Dame, ich fürchte niemals irgendetwas mehr
que tant que faille a vous amer. // als soviel, dass ich mich verfehle am Euch
lieben.
Tant ai apris a endurer // So sehr habe ich gelernt auszuhalten,
Que je sui vostres tout par us .// dass ich Euer bin, ganz aus Gewohnheit.
Et se il vous en pesoit bien, // Und [auch] wenn es Euch ziemlich
belastete/störte,
ne m'en puis je partir pour rien // ich kann davon mich um nichts fortbewegen,
que je n'aie le remenbrer // ohne dass ich die Erinnerung hätte
et que mes cuers ne soit adés // und ohne dass mein Herz nicht sofort wäre
en la prison et de moi pres. // in der Gefangenschaft und von mir weggenommen.
Dame,
quant je ne sai guiler, // Dame, wenn ich doch nicht zu tricksen verstehe,
merciz seroit de seson mes // wäre Gnade/Erbarmen zur rechten Zeit [=jetzt]
angebracht,
de soustenir si greveus fais. // um eine so große Bürde aushalten [zu können].
(Stand: Juli 10)
Marcabru (1. Hälfte 12. Jahrhundert, Schaffenszeit ca. 1130 bis ca.
1150)
Er zählt zu den ältesten
südfranzösischen, d.h. okzitanisch dichtenden Troubadouren. Er ist bedeutsam
als Verfasser der ältesten überlieferten Pastourelle (Gedicht um die Begegnung
eines Ritters in freier Natur mit einer Hirtin, die er zu verführen versucht)
und vor allem als einer der Schöpfer des gewollt hermetischen Dichtungsstils
des sog. „trobar clus“ (verschlossenes Dichten), das nach ihm in Mode kam.
Zwar
ist sein Werk mit gut 40 Gedichten (davon vier mit Melodien) relativ gut
überliefert, doch ist über sein Leben nichts Genaues bekannt. Die beiden
altokzitanischen Kurzbiografien (vidas), die es über ihn gibt, scheinen ihre
Daten aus bestimmten seiner Gedichte bezogen zu haben, d.h. sie sind nicht
historisch fundiert und weichen überdies stark voneinander ab. So wäre er, nach
der einen, kürzeren, Sohn einer armen Gascognerin namens Marcabruna („brauner
[Leber-?]Fleck“) gewesen und habe schlecht von den Frauen und der Liebe
geredet. Nach der anderen, ausführlicheren, wäre er als Findelkind einem
reichen Mann namens Aldric del Vilar vor die Tür gelegt, unter dem Namen „Pan
perdut“ (=verlorenes Brot) von ihm aufgezogen und von dem (historischen)
Spielmann und Troubadour Cercamon im Dichten und Komponieren unterrichtet
worden. Später habe er den Namen Marcabru angenommen, unter dem er bekannt
wurde. Er sei schließlich von den Grafen der Gascogne, über die er viel
Schlimmes gesagt habe, umgebracht worden.
Etwas fundierter als die genannten
Vidas sind die Hypothesen, welche die moderne Philologie aus verstreuten Angaben
und Andeutungen in seinen Texten sowie anderen Indizien aufgestellt hat.
Hiernach würde Marcabru in der Tat wohl aus der Gascogne stammen und aus
kleinen Verhältnissen kommen. In den 1130er Jahren scheint er zunächst in
Beziehung zum Hof von Graf Wilhelm X. von Aquitanien gestanden zu haben (dem
Sohn des ersten Troubadours), der überwiegend in Poitiers residierte. 1137
könnte er der Tochter Wilhelms, Eleonore, nach Paris gefolgt sein, als sie den
franz. König Louis VII heiratete. Sichtlich blieb er dort aber nicht lange,
sondern ging nach Nordspanien, wo er sich Alfonso VII. von León und Kastilien
anschloss, dem Herrscher eines der dortigen kleinen Königreiche, die sich
anschickten, die Reconquista zu aktivieren, d.h. die Rückeroberung der
arabisch-islamisch beherrschten Landesteile. Für den Hof Alfonsos (wo man das
Okzitanische offenbar ausreichend verstand) verfasste Marcabru in den 1140er
Jahren auch politische Lyrik, worin er zum innerspanischen Kreuzzug aufrief,
den er als eine „Waschküche“ (lavador) bezeichnet, in der die die Seelen ebenso
rein gewaschen würden wie beim Kreuzzug ins Heilige Land.
Insgesamt war er offenbar nicht
ungebildet und betätigte er sich in fast allen lyrischen Gattungen der Zeit.
Obwohl er als Autor von den Zeitgenossen durchaus anerkannt wurde, scheint er
als Person schwierig gewesen zu sein. Als Dichter gefiel er sich jedenfalls in
der Rolle des Kritikers und Satirikers, der z.B. die „falsche“, nur den
Lustgewinn anstrebende Liebe der adeligen Herren und auch Damen anprangerte
oder die Heuchelei von Kirchenleuten denunzierte.
(Stand: Aug. 08)
Jaufré Rudel (um
1150)
Er ist heute einer der bekanntesten provenzalischen Troubadours. Er
verdankt seinen Ruhm nicht zuletzt einer aus dem Mittelalter überkommenen
sentimentalen Kurzbiografie (vida), die allerdings kaum den Fakten entspricht,
sondern aus seinen Gedichten abgeleitet scheint. Sie erzählt, wie Jaufré aufgrund der
Berichte von heimgekehrten Jerusalem-Pilgern und Kreuzfahrern eine unstillbare
Sehnsucht nach der schönen Gräfin von Tripolis im Heiligen Land entwickelt,
deshalb am nächsten Kreuzzug teilnimmt, aber während der Seefahrt erkrankt und
kurz nach seiner Ankunft stirbt - immerhin in den Armen der sofort
benachrichtigten und gerührt herbeigeeilten Gräfin, die anschließend Nonne
wird.
Über
die Person Jaufrés ist wenig bekannt, außer dass er „prince“ (Fürst) des
kleinen Lehens Blaya (um das das heutige Städtchen Blaye im Département
Gironde) war und wohl 1148 seinen Onkel und Lehnsherrn, den Herzog von
Angoulême, auf dem zweiten Kreuzzug (1147-49) begleitete.
Insgesamt
acht Gedichte von ihm sind erhalten, vier davon mit Noten. Das bekannteste, Lanquand
li jorn son lonc en mai (Wenn die Tage lang sind im Mai), umkreist
kunstvoll das Motiv der „Fernliebe“ (amor de lonh) und war wohl der
Ausgangspunkt der o.g. Biografie.
Die
Geschichte Jaufré Rudels wurde zur Zeit der Romantik auch außerhalb Frankreichs
bekannt und in Deutschland von Heinrich Heine und Ludwig Uhland aufgegriffen.
Alfred Döblin zitiert sie, fantasievoll leicht erweitert, in seinem letzten
Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1956).
(Stand:
Aug. 08)
Antiken-Romane
/ Romans antiques oder
d’Antiquité
Die Gattung der sog. antikisierenden
oder Antiken-Romane (frz. romans antiques ou d’Antiquité) entstand offenbar
gegen 1120, hatte ihre Blütezeit aber von ca. 1150 bis ca. 1180. Sie spiegelt
das im 12. Jh. wachsende Interesse für die Antike und wurde geschaffen von
Autoren, die i.d.R. lateinkundige Kleriker waren. Wie der Name besagt, stammen
die Stoffe und Figuren der Antiken-Romane aus literarischen und
historiografischen Werken der römischen und der griechischen Antike, wobei
diese jedoch ausschließlich über lateinische Texte vermittelt ist. Das
angesprochene Publikum waren Fürsten, z.B. der englische König, sowie das
adelige Personal und die Damenwelt ihrer Höfe. Im Sinne der Vorstellungswelt
und der Erwartungen dieses Publikums dichteten die Autoren ihre antiken
Vorlagen und Quellen ganz unbefangen um, ohne sich zu scheuen, deren Sinn zu
verändern und ohne ein authentisch wirkendes historisches Kolorit anzustreben
(wie die historischen Romane der Neuzeit dies tun). Die Antiken-Romane bilden,
indem sie erstmals die Darstellung von Rittertaten und das Thema Liebe
verbinden, eine Art Zwischenstufe zwischen der älteren Gattung Chanson de geste
und der neuen Gattung Höfischer Roman, die wenig später von Chrétien de Troyes
(s.u.) geschaffen und perfektioniert wurde. Formal bestehen sie überwiegend aus
fortlaufenden, paarweise reimenden achtsilbigen Versen. Sie waren also zur
Lektüre bzw. zum Vorlesen bestimmt und nicht mehr, wie die Chansons de geste,
zum freien Vortrag per Sing-Sang.
Die bekanntesten Antiken-Romane sind:
Le Roman de Thèbes
/ Thebenroman (ca. 1152-54)
Er ist zwar nicht das älteste Werk der Gattung,
hat sie aber offenbar stark geprägt.
Der namentlich nicht bekannte Autor
stammte sichtlich aus einer der damaligen westfranz. Besitzungen des englischen
Königs Henry II Plantagenet und gehörte wohl zum Umfeld von dessen Hof.
Seine literarische Vorlage war vor
allem die Thebais des antiken
lateinischen Autors Statius (1. Jh. n. Chr.), ein Epos, das die Sage vom
tragischen Schicksal der Zwillingsbrüder Eteokles und Polineikes verarbeitet,
die nach dem Tod ihres Vaters Ödipus einen Krieg um die Herrschaft im
griechischen Theben führen und sich am Ende gegenseitig auf dem Schlachtfeld
erschlagen. Der Theben-Roman umfasst gut 10.000 paarweise reimende Achtsilber
und ist in fünf Handschriften und zwei Versionen erhalten, deren längere
offenbar nachträgliche Einschübe enthält. Der Roman zeigt noch viele
thematische und stilistische Übereinstimmungen mit den Chansons de geste,
insbes. bei der ausführlichen Darstellung von Kämpfen und Schlachten; er nimmt
aber auch schon Elemente des höfischen Romans vorweg, z.B. indem er einigen
Frauengestalten wichtige Rollen zuweist. Anders als die nachfolgenden Werke der
Gattung gibt er dem Thema Liebe, ohne es ganz auszuklammern, relativ geringen
Raum.
Le Roman d'Énéas / Äneasroman (um oder eher kurz nach 1160)
Er umfasst gut 10.000 Verse. Der
unbekannte Verfasser folgt überwiegend dem Rom-Gründungsepos Vergils, der Æneis
(um 20 v. Chr.), benutzt aber auch zusätzliche lateinische Quellen, z.B. Werke
Ovids. Auch er schildert gerne Kämpfe, räumt aber der Liebe einen hohen
Stellenwert ein. Vermutlich war es seine einfühlsame Darstellung der den Helden
Äneas liebenden Frauen Dido und Lavinia, die kurz nach 1170 den Minnesänger
Heinrich von Veldeke anregte, den Roman in mittelhochdeutschen Versen
nachzudichten.
Le Roman
d'Alexandre / Alexanderroman (ca. 1120 –ca. 1180)
Alexander der Große (356-323 v. Chr.)
galt in Antike und Mittelalter als Prototyp des stets nach neuen Eroberungen
und Erfahrungen dürstenden Helden und hochherzigen Herrschers, aber auch als
Verkörperung menschlicher Hybris. Seine Figur steht im Mittelpunkt drei sehr
unterschiedlicher altfranz. Romane, deren ältester zugleich den Beginn der
Gattung Antiken-Romane markiert und deren jüngster an ihrem Ende steht. Der
Stoff ist mehreren lateinischen Vorlagen entnommen, die ihrerseits aus diversen
griechischen Quellen schöpfen, welche von Anbeginn an neben Fakten auch viele
sagen- und märchenartige Elemente enthielten. Die lateinischen Vorlagen waren
vor allem die romanartige Alexander-Vita des Julius Valerius (ca. 320 n.Chr.)
sowie die chronikartige Historia de proeliis Alexandri Magni des Leo von
Neapel (10. Jh.).
Die älteste der drei franz. Versionen
wurde in frankoprovenzalischem Dialekt wohl schon gegen 1120 verfasst. Sie ist
nur als Fragment von 105 Achtsilblern in 15 einreimigen Strophen (Laissen)
erhalten. Ihr Stil entspricht dem der zeitgenössischen Chansons de Geste. Laut
dem Pfaffen Lamprecht, der sie um 1120/30 ins Mittelhochdeutsche übertrug,
wurde sie von einem „Alberich von Bisenzun“ (= Albéric de Pisançon?) verfasst, der aber nicht näher
bekannt ist.
Eine zweite, ebenfalls nur
fragmentarisch überlieferte Fassung (785 Zehnsilbler in zehnzeiligen Laissen),
wurde wohl kurz nach der Mitte des 12. Jh. von einem unbekannten Autor
geschrieben.
Die Version, die am weitesten
verbreitet und mit knapp 16.000 paarweise reimenden Zwölfsilblern auch am
längsten ist, entstand offenbar um 1180. Sie stammt von Alexandre de Bernay
bzw. de Paris und schildert, nunmehr eher im Stil eines höfischen Romans, das
gesamte Leben Alexanders. Sie besteht aus vier sehr ungleich langen Teilen oder
„Branchen“ (=Zweigen), wobei Alexandre angibt, er habe die unvollständigen
Werke zweier anderer (nicht mehr näher bekannter) Autoren eingearbeitet,
nämlich eines gewissen Eustache (als Branche II) und eines Lambert le Tort (als
Branche III). Schon ab ca. 1190 begannen anonyme Redaktoren zusätzliche
Episoden an den Roman anzuhängen oder in ihn einzufügen.
In der zweiten Hälfte des 13. Jh. wurde
der Alexander-Roman in eine Prosafassung umgeschrieben, von der zahlreiche
Handschriften aus dem 14. und 15. Jh. und sogar einige frühe Drucke erhalten
sind. Sie alle zeugen von dem langandauernden Erfolg des Werkes.
Alexandres Version ist der erste
längere Text der franz. Literatur, der als Versmaß den Zwölfsilbler benutzt,
den deshalb in Frankreich so genannten „vers alexandrin“ (Alexandriner).
(Stand: Juli 10)
Le Roman de Troie
/ Trojaroman (ca. 1165).
Dieses in mehr als 50 Handschriften
erhaltene Werk von gut 30.300 Versen war das erfolgreichste und bedeutsamste
der Gattung Antiken-Roman. Es schildert in der Hauptsache die Eroberung Trojas
durch ein Bündnis griechischer Könige, enthält als Vorspann aber auch eine
Darstellung der Argonautensage um Jason und als Anhänge die Geschichten einiger
griechischer Helden, z.B. des Odysseus.
Der Trojaroman wurde verfasst für den
Hof des englischen Königs Henry II. und seiner Gattin Aliénor von Aquitanien,
der ein beachtliches franz.sprachiges intellektuelles Zentrum war. Über die
Person des Autors Benoît ist nichts Näheres bekannt, außer dass er offenbar aus
Sainte-Maure in der Grafschaft Touraine stammte, d.h. aus einer der damaligen
Besitzungen der englischen Könige auf franz. Boden.
Als stoffliche Vorlage des Werkes
diente nicht das damals in Westeuropa nur vom Hörensagen bekannte Epos Homers,
die Ilias, sondern zwei angeblich von
Augenzeugen verfasste, tatsächlich aber aprokryphe spätantike lateinische
Darstellungen des trojanischen Krieges, nämlich die Ephemeris belli Trojani
eines gewissen Dyctis (4. Jh.), der die Dinge auf griechischer Seite erlebt
haben will, und die De excidio Troiae historia eines gewissen Dares (6.
Jh.), der in Troja dabeigewesen zu sein vorgibt und eingangs Homer für seine
märchenhafte Darstellung tadelt (was Benoît übernimmt). Von „Dyctis“ und
„Dares“, vor allem vom letzteren, entlehnt Benoît jedoch nur den groben Rahmen,
den er fantasievoll und geschickt mit Liebesgeschichten, ritterlichen
Kampfszenen, Beschreibungen und gelehrten Exkursen ausstaffiert.
Der Roman
de Troie wurde nach 1200 offenbar für ein eher städtisch-bürgerliches
Publikum in eine stark raffende, weitgehend auf die bloße Handlung reduzierte
Prosaversion umgeschrieben, die ihrerseits um 1215 eingefügt wurde in ein
jahrhundertelang gelesenes und abgeschriebenes und hierbei immer wieder
überarbeitetes Kompendium der Alten Geschichte, die sog. Histoire
ancienne jusqu'à César.
Verbreitung in ganz Europa fand der
Troja-Stoff à la Benoît in einer mittellateinischen Prosaversion: der 1272 begonnenen
und 1287 abgeschlossenen Historia destructionis Troiae des Sizilianers Guido delle Colonne,
die wohl einer der größten Bucherfolge des gesamten europäischen Mittelalters
war. Etwa gleichzeitig (um 1280) entstanden die mittelhochdeutschen Versionen
Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg.
Im Frankreich des 13. bis 16. Jh. war
Troja übrigens auch aus ideologischen Gründen bedeutsam, denn die franz. Könige
leiteten damals ihren Stammbaum (Genealogie) von einem legendären Francus her,
der sich bei der Eroberung Trojas durch die Griechen zusammen mit dem späteren
Rom-Gründer Äneas auf ein Schiff gerettet und seinerseits das erste
Frankenreich (Francia) gegründet habe.
(Stand: Dez. 10)
Benoît de Sainte-Maure (2. Hälfte 12. Jh.)
Über die Person Benoîts ist nichts
Näheres bekannt, außer dass er offenbar aus Sainte-Maure in der Grafschaft
Touraine stammte, d.h. aus einer der damaligen Besitzungen der englischen
Könige auf franz. Boden, und dass er für und wohl weitgehend auch an deren Hof
arbeitete.
Sein Hauptwerk ist der um 1165
verfasste Roman de Troie (Trojaroman) (s.o.).
Nach der guten Aufnahme des Trojaromans
wurde Benoît 1174 von König Henry II. beauftragt, eine ebenfalls gereimte
Geschichte der Normannenherzöge bzw. (ab 1066) der Könige von England zu
schreiben. Aus unbekanntem Grund (Tod des Autors?) bricht das Werk jedoch bei
Vers 44.544 ab, d.h. es endet bei König Henry I..
(Stand: Nov. 07)
Le Jeu d'Adam / Adamsspiel
(ca. 1150, evtl.
aber auch erst um 1200).
Dieses Werk eines unbekannten Autors
ist der älteste bekannte dramatische Text in franz. Sprache. Er kommt aus der
Tradition des lateinischsprachigen kirchlichen Theaters der Zeit (der einzigen
dramatischen Gattung, die es damals gab) und ist entstanden vielleicht auf englischem
Boden, überliefert jedenfalls in einer anglonormannisch gefärbten Version.
Das nur in einem einzigen Manuskript
und nicht ganz vollständig erhaltene Stück besteht überwiegend aus paarweise
reimenden Achtsilblern, enthält aber auch Strophen aus vierzeilig reimenden
Zehnsilblern. Es zeigt, nicht ohne psychologisches Geschick, die Versuchung
Adams und vor allem Evas durch den Teufel, die Erschlagung Abels durch Kain,
das Erscheinen der Propheten des Alten Testaments mit ihren Weissagungen zum
Kommen Christi sowie eine Ankündigung des jüngsten Gerichts.
Die Regieanweisungen sind lateinisch
verfasst, die Aufführenden oder zumindest die Aufführungsleiter waren also
offensichtlich Kleriker; als Aufführungsort dienten zweifellos improvisierte
Bühnen vor oder in Kirchen.
(Stand: Juli 06)
Marie
de France (zweite
Hälfte 12. Jh.).
Sie ist die erste bekannte Autorin der
franz.sprachigen Literatur, doch hat man keine Informationen über ihre Person
außer der eigenen Angabe „Marie ai nun, si suis de France“ (Ich heiße Marie und
bin aus Franzien), wonach sie aus der Île de France, d.h. dem Pariser Raum
gebürtig sein müsste. Ihrer profunden Bildung nach zu urteilen kam sie sicher
(als legitimiertes außereheliches Kind eines Hochadeligen und einer
kleinadeligen Dame?) aus höchsten Kreisen. Ihr Zielpublikum jedenfalls war der
überwiegend franz.sprachige englische Hof von Henry II., in dessen Umfeld sie
offenbar lebte und für den sie entsprechend im anglonormannischen Dialekt
schrieb.
Maries bekanntestes und originellstes Werk
sind die Lais, zwölf jeweils zwischen
ca. 100 und ca. 1000 Verse umfassende Versnovellen („lais“). Sind sind offenbar
um 1170 über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden und verarbeiten viele
Märchenmotive und Sagenstoffe, wobei letztere meist „britannischer“, d.h.
keltischer Herkunft, sind. Darunter ist
auch der Tristan-Isolde-Stoff, der hier zum ersten Mal greifbar wird,
wenn auch nur in einer einzigen seiner zahlreichen Episoden.
Die Themen der schlicht, aber
feinsinnig erzählten und auch heute noch ansprechenden Novellen sind sehr
unterschiedlich, vor allem aber geht es um die Schwierigkeiten Liebender,
zueinander zu kommen und/oder beieinander zu bleiben.
Ein weiteres, größeres Werk von Marie
ist eine Sammlung von 102 Fabeln, der Esope
oder Ysopet (1170-80). Ihre Vorlage,
so gibt sie am Ende an, sei altenglisch und stamme von „König Alfred“, der
seinerseits einer lateinischen Übertragung der altgriechischen Fabelsammlung
Aesops (6. Jh. v. Chr.?) gefolgt sei (aber sichtlich auch noch andere Quellen benutzt
hat).
Offenbar ebenfalls von Marie stammt das
anonyme, ihr lange Zeit zugeschriebene, dann zwischenzeitlich aber aberkannte
Werk Le Purgatoire de Saint Patrice.
Es entstand wohl um 1190 auf der Grundlage eines lateinischen Prosatextes, den
es in franz. Verse umsetzt.
(Stand: Dez. 09)
Chrétien
de Troyes
(zweite Hälfte 12. Jh.).
Er gilt als der eigentliche Begründer
und zugleich bedeutendste Autor des Höfischen Romans (roman courtois), einer
nach ihm noch jahrhundertelang florierenden Erzählgattung. Von Chrétien
überliefert sind vor allem fünf Romane, deren Stoffe überwiegend aus der sog.
„matière de Bretagne“ stammen, d.h. aus dem keltisch-britannischen Sagenkreis
um König Artus. Diese Stoffe reichert Chrétien an mit erfundenen Episoden und
verlegt die Handlungen in eine Welt, wie sie den Vorstellungen und Erwartungen
entsprach, die an den Höfen seiner Zeit bestanden. Auch die Ideale des in der
Troubadourlyrik entwickelten Minnedienstes fließen in seine Epen ein, zumal in
deren zahlreiche Dialoge und innere Monologe. Sein Verfahren, aus diesen
verschiedenen Elementen eine kunstvoll strukturierte und bedeutungsvolle
Handlung zu schaffen, nennt Chrétien mit schriftstellerischem Selbstbewusstsein
eine „molt bele conjointure“ (sehr schöne Verbindung).
Konkrete Lebensdaten von Chrétien sind
nicht bekannt, außer dass er in seinem Roman Érec et Énide Troyes als
seine Heimatstadt angibt (er schrieb auch im Dialekt der Champagne) und dass er
eine gute Bildung nach Art eines Klerikers genossen haben muss. Seine Schaffenszeit
erstreckte sich offensichtlich von ca. 1160 bis in die 1180er Jahre. Einer
seiner Romane, Lancelot, wurde nach eigener Auskunft im Auftrag der
Gräfin Marie de Champagne verfasst, also nach 1164, wo sie diesen Titel durch
ihre Heirat erhielt;, sein letztes und unvollendetes Werk dagegen, der Conte
du Graal, ist Graf Philippe de Flandre gewidmet, der diesen Titel 1169
übernahm und 1180 Regent von Frankreich wurde, was die offenbar vor diesem
Datum verfasste Widmung nicht erwähnt. Chrétien muss also jeweils nach 1164 und
vor bzw. um 1180 länger oder zeitweilig in Beziehung zu den genannten Fürsten
gestanden haben.
Sein Publikum waren entsprechend diese
und ggf. andere fürstliche Mäzene samt ihren Gattinnen und deren Hofdamen und
Edelfräulein, sowie der an ihren Höfen lebende oder verkehrende kleinere und
mittlere Militär- und Verwaltungsadel. Sein Schaffen dokumentiert den Höhepunkt
der Macht dieser größeren und kleineren Territorialfürsten (Herzöge, Grafen
u.ä.), deren Höfe im 11./12. Jh. als Macht- und Kulturzentren mit dem Hof der
franz. Könige rivalisierten.
Nicht alle Werke Chrétiens sind
erhalten. Eine Liste der vor etwa 1170 entstandenen gibt er selbst zu Beginn
seines Romans Cligès. Hiernach hätte er zuerst Érec et Énide
verfasst, dann je eine Übertragung der Ars amatoria und der Remedia
amoris von Ovid, danach eine Geschichte von „König Marke und der blonden
Isolde“ sowie drei wohl kürzere Bearbeitungen von Verwandlungssagen aus Ovids Metamorphosen.
Bis auf den Érec und die Verwandlungssage um Philomena (die Nachtigall)
sind diese Werke jedoch verloren.
Erhalten sind (neben einigen wenigen
Gedichten zum Thema höfische Liebe) vor allem die folgenden in paarweise
reimenden Achtsilblern verfassten Romane:
Érec
et Énide
(entstanden nach 1160): Es ist die Geschichte des Königsohns Érec, der nachdem
er sich früh am Artushof ausgezeichnet hat, heiratet und über der Liebe zu
seiner jungen Frau Énide die Pflicht des Ritters vernachlässigt, Taten zu
vollbringen. Von Enide darauf hingewiesen, erkennt er seinen Fehler, zweifelt
aber auch an ihrer Liebe und zieht deshalb gemeinsam mit ihr zu Abenteuern aus.
Hierbei besteht er zahlreiche Kämpfe, erfährt aber auch ihre Treue, wonach er
ruhmbedeckt an den Hof von König Artus zurückkehrt und später seinem Vater Lac
als König nachfolgt.
Cligès (entstanden wohl zwischen 1165 und
1170). Die 6784 Verse bilden zwei Teile, eine Vorgeschichte und die eigentliche
Geschichte. Erstere erzählt vom byzantinischen Kaisersohn Alexandre, der zum
Artushof reist, sich dort in die Hofdame Soredamors verliebt, sie heiratet und
nach längerer Zeit mit ihr und seinem Söhnchen Cligès nach Byzanz zurückkehrt,
wo inzwischen sein jüngerer Bruder Alis den Thron okkupiert hat, den er auch
behält, weil Alexandre stirbt. Statt, wie versprochen, unverheiratet zu bleiben
und seinem Neffen Cligès die Thronfolge zu überlassen, beschließt Alis, die
Tochter Fenice des deutschen Kaisers zu ehelichen. Bald nach der Ankunft der
byzantinischen Delegation in Köln verlieben sich Cligès und Fenice und
versprechen sich einander. Eine zauberkundige Amme sorgt dafür, dass Fenice,
die gleichwohl Alis heiraten muss, von diesem immer nur in seinen Träumen
berührt wird. Cligès, der das Warten nicht erträgt, geht auf Abenteuerfahrt zu
König Artus. Nachdem er zurückgekehrt ist, bewerkstelligt er es, Fenice als
scheinbar Verstorbene zu entführen und im Verborgenen eine Weile zu lieben. Er
wird jedoch entdeckt und flüchtet mit ihr, bis er sie nach dem Tod des Onkels
schließlich (anders als Tristan die Isolde) heiraten und mit ihr den Thron
besteigen kann. Der Anfang des Cligès enthält die berühmte These von der
„translatio studii“, wonach die Gelehrsamkeit von den Griechen auf die Römer
und von diesen auf die Franzosen übergegangen sei.
Le
Chevalier de la charrette
(Der Karrenritter, entstanden wohl um 1170): Erzählt wird die bunte
Geschichte der Abenteuer, die der junge Ritter Lancelot besteht, um die
entführte Königin Guenièvre, die Gattin von König Artus, zu finden und ihr
seine entsagungs- und hingebungsvolle Liebe zu beweisen (die immerhin auch
einmal kurz belohnt wird). Die letzten rd. 1000 Verse des Lancelot wurden
von einem gewissen Godefroi de Lagny verfasst, offenbar mit Wissen und nach
Plänen Chrétiens, der in diesem Auftragswerk für Marie de Champagne von
Anbeginn an etwas lustlos wirkt.
Le
Chevalier au lion
(Der Löwenritter, entstanden wohl gegen 1170): Es ist die Geschichte des
Artusritters Yvain, der die junge Witwe eines von ihm im ritterlichen Zweikampf
getöteten Burgherrn heiratet, sich bald aber von ihr beurlauben lässt und auf
Abenteuer und Turniere auszieht, den gesetzten Jahrestermin seiner Rückkehr
vergisst, von seiner Frau verstoßen wird und diese Schmach in vielen Prüfungen
gutmacht, wo er Bedrängten, u.a. einem von einem Drachen bedrohten Löwen, zu
Hilfe eilt und sich so zum idealen Ritter läutert.
Le
Conte du Graal
(begonnen wohl gegen 1180 für Philipp von Flandern): der Versuch, in der
Geschichte des jungen Ritters Perceval die Gattung des Höfischen Romans mit
christlichen Elementen zu durchdringen. Das Werk, das Chrétien sichtlich als
eine Summe seines Denkens und Schaffens geplant hatte, blieb zunächst, offenbar
durch seinen Tod, nach rd. 9000 Versen unvollendet stehen. Es wurde dann von
mehreren unbekannten Fortsetzern weitergeführt und auf rd. 32.000 Verse
verlängert.
Auch in Deutschland fand Chrétien
großen Anklang: Die Romane um Érec und um Yvain wurden gegen oder um 1200
nachgedichtet von Hartmann von Aue, der Roman um Perceval bald nach 1200 von
Wolfram von Eschenbach – eines der Zeichen dafür, wie vorbildhaft die franz.
Literatur insgesamt in Frankreichs Nachbarländern zu dieser Zeit war.
Fast alle Romane Chrétiens wurden im
13. Jh. für ein überwiegend städtisches Publikum in Prosa umgeschrieben. Vor
allem der Prosa-Lancelot fand weite Verbreitung und wurde bis ins 15. Jh.
hinein gelesen.
Ein lange
Zeit Chrétien zugeschriebener Abenteuer-Roman um einen (nicht historischen) englischen König,
der sog. Guillaume d'Angleterre, stammt nach neuerer Forschungsmeinung wohl
von einem anderen, sonst unbekannten Verfasser mit dem gleichen Namen
Chrestien.
(Stand: Dez. 10)
Les romans de
Tristan et Yseut / Tristan-Romane (ca.1170–1180)
Wohl in den 1170er Jahren entstanden
die beiden ältesten der uns bekannten romanartigen Versionen des
Tristan-Isolde-Stoffes. (Ein vielleicht um 1160 von Chrétien de Troyes (s.o.)
verfasster Tristan-Roman ist nicht erhalten.) Die beiden Versionen gehen
offensichtlich auf etwas unterschiedliche ältere Texte zurück und sind nur als
Fragmente überliefert.
Die erste ist ein ca. 1172-75 für den
englischen Hof verfasster Versroman des sonst unbekannten Autors Thomas
d'Angleterre, von dem in fünf verschiedenen Handschriften insgesamt acht
Teilstücke mit zusammen gut 3000 Versen aus dem letzten Drittel der Handlung
erhalten sind (Tristans Heirat mit der nur als Ersatz betrachteten
namensgleichen Isolde Weißhand, einige weitere Abenteuer T.s und sein
tragisches Ende).
Die andere Version ist ein wohl gegen
1180 entstandener Versroman des ebenfalls als Person nicht näher bekannten
Spielmanns Béroul, von dem in einer einzigen Handschrift knapp 4500 Verse des
Mittelstücks erhalten sind (Tristans und Isoldes heimliche Liebe am Hof von
König Marke, der T.s Onkel und I.s Ehemann ist; die Entdeckung ihres
Verhältnisses, T.s Flucht, I.s Verurteilung und ihre Rettung durch T., das
gemeinsame Leben der beiden in einer Laubhütte im Wald, ihre schließliche
Rückkehr an den Hof, I.s Wiederaufnahme durch Marke und T.s Aufbruch ins Exil).
Die Gesamthandlung des Thomas’schen
Romans kennen wir dank einer stark raffend erzählenden altnordischen
Prosaübertragung von ca. 1225 und dadurch, dass Gottfried von Straßburg ca.
1200–1210 seinen (unvollendet gebliebenen) mittelhochdeutschen Tristan auf der Basis von Thomas’ Text
verfasste. Dem Roman Bérouls wiederum entspricht weitgehend, ohne wohl eine
direkte Übertragung oder Bearbeitung zu sein, der in toto erhaltene
mittelhochdeutsche Tristan des
Eilhart von Oberg von ca. 1180.
In Frankreich kompilierte um 1230-35
ein unbekannter Autor (oder mehrere Autoren?) den sog. Tristan en prose, einen sehr umfänglichen, in zahlreichen
Handschriften und leicht divergierenden Versionen überlieferten, bis ins 16.
Jh. hinein gelesenen Prosaroman, der den Tristan-Stoff mit anderen Stoffen
verbindet, vor allem dem König Artus-Stoff, und somit Tristan zum dicht- und
sangeskundigen Ritter der Tafelrunde macht.
Der Tristan-Isolde-Stoff ist übrigens
nicht, wie man als Deutscher und Wagner-Adept glauben könnte, germanischer
Herkunft, sondern keltischer, denn er stammt aus der
schottisch-walisisch-bretonischen Sagenwelt, der sog. matière de Bretagne, aus der in der zweiten Hälfte des 12. Jh.
viele Stoffe und Motive in die franz. Literatur eingeflossen sind, z.B. in die
höfischen Romane von Chrétien de Troyes (s. o.).
(Stand: Juli 10)
Le Roman de Renard / Fuchsroman (ab 1174).
Die erste Version dieses sehr lange
Zeit hindurch populären Werkes verfasste ein sonst nicht näher bekannter Pierre
de Saint-Cloud auf der Basis mittellateinischer Vorlagen; sie wurde
anschließend über mehr als hundert Jahre hinweg von ca. zwanzig verschiedenen,
überwiegend anonymen Autoren erweitert, variiert und umgearbeitet.
Protagonist dieses in paarweise
reimenden Achtsilblern erzählenden Tierepos bzw. Tierschwanks ist der schlaue
Fuchs, der stets nur seinen Vorteil sucht und diesen mal mehr, mal weniger
abenteuerlich und erfolgreich auf Kosten anderer Tiere oder auch von Menschen
findet.
Der Roman
de Renard scheint ursprünglich in vielem ein humoristisch-realistisches und
teils parodistisches Kontrastprogramm zum sehr idealistischen Höfischen Roman à
la Chrétien de Troyes gewesen zu sein. Die angesprochene Leser-/Hörerschaft war
also zunächst dieselbe wie die des Höfischen Romans. Allerdings fand der Renard rasch Anklang auch beim
städtisch-bürgerlichen Publikum, das sich gegen 1200 herauszubilden begann.
Die Figur des verschlagenen Renard
wurde durch den Roman so populär, dass sein Name (der dem deutschen ‚Reinhard’
entspricht) zur Vokabel wurde, die das ursprüngliche franz. Wort für „Fuchs“, goupil,
verdrängt hat.
Eine erste deutsche Nachdichtung wurde
schon gegen Ende des 12. Jh. von Heinrich dem Glichesaere verfasst, wodurch die
Figur auch im deutschsprachigen Raum heimisch wurde.
(Stand: Febr. 05)
Die Gattung „Fabliau“ und ein Beispiel: Auberée (ca. 1200).
Im Zentrum der Handlung steht die
pfiffige Kupplerin Auberée, die einer jungen Frau und ihrem Galan beim Betrügen
(cocuage) des schon ältlichen Ehemanns hilft.
Diese lustige Verserzählung eines anonymen
Autors ist eines der ältesten und gelungensten Beispiele für eine im gesamten
13. Jh. sehr erfolgreiche Gattung: das alle erdenklichen komischen Sujets
bearbeitende Fabliau oder Fablel (Schwank).
Die Fabliaux, deren Texte meist einen
Umfang von 400–500 paarweise reimenden Achtsilblern haben, waren vielleicht die
erste literarische Gattung, die sich im bürgerlichen Milieu der franz. Städte
entwickelte. Diese hatten sich in Spätantike und frühem Mittelalter stark
verkleinert, wuchsen aber seit dem 11. Jh. langsam wieder und etablierten sich
im 12./13. Jh. als Zentren wirtschaftlicher und politischer Macht sowie auch
als Kulturzentren, in denen nicht nur die Architektur und die bildende Kunst
(Kirchen- und Rathausbau samt Ausschmückung) florierten, sondern wo auch die
Literatur ein wachsendes und zunehmend gebildetes Publikum fand.
Ähnlich wie der franz. Höfische Roman
wurde das Fabliau ein Exportschlager und fand Nachahmung in der englischen,
niederländischen, deutschen und italienischen Literatur (hier z.B. bei
Boccaccio).
(Stand: Dez. 10)
Jean
Bodel (1165-1209).
Dieser Bürger der reichen Tuchweber-
und Tuchhändler-Stadt Arras ist in die Literaturgeschichte eingegangen als
Verfasser des ältesten mit Autornamen (d.h. nicht anonym) überlieferten
dramatischen Textes der franz. Literatur: des erstmals am 5. Dez. 1201
aufgeführten Mirakelspiels Le Jeu de
Saint Nicolas (= das Spiel vom Hl. Nikolaus). Das Stück ist in seiner
Mischung von ernsten und lustigen Elementen nicht untypisch für die Gattung und
wurde bis weit ins 14. Jh. häufig aufgeführt.
Die Handlung beginnt mit ausführlich
dargestellten Kämpfen zwischen Heiden und Christen, wobei nur ein einziger
Christ überlebt, der aber den Emir der Heiden über die Macht des heiligen
Nikolaus bzw. einer Statuette von ihm aufklärt, zu der er sich gerettet hat.
Der Emir will nun, um ihre Kraft auf die Probe zu stellen, seinen Schatz von
ihr bewachen lassen, der jedoch von drei Dieben samt der Statuette gestohlen
wird. Es folgen fabliauxhafte Szenen in einem Wirtshaus, wo die Diebe ihre
Beute zu Geld zu machen versuchen. Als ihnen jedoch der Heilige selber
erscheint (er ist bekanntlich zuständig für das Wiederfinden verlorener
Objekte), bringen sie reumütig alles zurück, worauf sich die Heiden beeindruckt
bekehren.
Jean Bodel schrieb auch Fabliaux und
war einer der anerkanntesten nordfranz. Trouvères in allen lyrischen Gattungen
der Zeit. Er verfasste eine der letzten Chansons de geste (=Heldentatenlieder
bzw. -epen), die Chanson des Saisnes.
Diese schildert Kriege Karls des Großen, insbes. gegen die noch heidnischen Sachsen (Saisnes), die u.a. in der
sich wacker verteidigenden Stadt „Tremoigne“ (Dortmund?) belagert werden. Im
Grunde jedoch geht es in den Saisnes um die gerade aktuellen Kreuzzüge,
zumal den Vierten (begonnen 1202), an dem Bodel nicht teilnehmen konnte, weil
er sich mit Lepra angesteckt hatte.
Er starb in der „léproserie“, vor den
Toren seiner Heimatstadt, nicht ohne sich mit einem längeren Gedicht an Freunde
und Bekannte verabschiedet zu haben.
Der pikardische Dialekt, den er
verwendete, war um 1200 dank dem Mäzenatentum wohlhabender Patrizier in den
florierenden pikardischen Tuchmetropolen der wichtigste franz. Literaturdialekt
neben dem anglonormannischen.
(Stand: Dez. 10)
Geoffroi de Villehardouin (ca. 1150–1213).
Er ist Autor des ältesten erhaltenen
historiografischen (=geschichtsschreibenden) Werks in franz. Prosa, der Histoire de la conquête de Constantinople (1207–1213),
womit er in eine Domäne einbrach, die bis dahin dem Lateinischen vorbehalten
war.
Der aus einem Adelsgeschlecht der
Champagne stammende Villehardouin wurde um 1190 „sénéchal de Champagne“ und
nahm vielleicht mit seinem Herzog Henri II am 3. Kreuzzug (1189–92) teil. Als
dessen Misserfolg durch einen nächsten Kreuzzug wettgemacht werden sollte, war
er ab 1199 einer der Hauptorganisatoren und verhandelte z.B. 1201 mit der
Republik Venedig, die die Schiffe für die Überfahrt nach Palestina zur
Verfügung stellen sollte.
In seiner Chronik schildert
Villehardouin den dann wiederum enttäuschenden Verlauf des Unternehmens:
Nämlich wie das Kreuzfahrerheer kleiner blieb als erwartet und wie es, nach
seinem Aufbruch 1202, von den Venezianern erst zur Eroberung der dalmatinischen
Hafenstadt Zara und danach zur Einmischung in innere Querelen des oströmischen
Kaiserreichs Byzanz missbraucht wurde, wo es dem legitimen, aber von einem
Usurpator verdrängten Thronfolger Alexis IV. zur Herrschaft verhelfen sollte;
weiterhin wie das Heer 1203, statt das wieder heidnisch gewordene Jerusalem zu
erobern, das christliche Konstantinopel (das heutige Istanbul) einnahm und es
1204 grausam plünderte, als der neugekrönte Alexis sein Versprechen brach, die
Fortführung des Kreuzzugs finanziell und militärisch zu unterstützen; weiter
wie Alexis ermordet und danach der Kreuzfahrer Graf Baudouin von Flandern zum
Kaiser ausgerufen wurde; wie aber dieser und seine überwiegend aus Franzosen
rekrutierte Funktionselite, darunter Villehardouin, das okkupierte Reich nicht
in den Griff bekamen und 1207, nach der verlorenen Schlacht von Adrianopel, bei
der Balduin in Gefangenschaft geriet, in inneren und äußeren Schwierigkeiten
endeten.
Villehardouin selbst, der für seine
Verdienste zum „maréchal de Romanie“ befördert worden war und bei Adrianopel
den geordneten Rückzug geleitet hatte, blieb in Griechenland, wo sich
kurzlebige Kreuzfahrerstaaten etablierten. Er wurde 1207 von dem ursprünglichen
Führer des Kreuzzugs, Boniface de Montferrat, der sich zum König von
Thessaloniki (Thrakien) ausgerufen hatte, mit der Stadt Mosynopolis als Lehen ausgestattet. Hier begann er mit der
Niederschrift seiner Chronik. Er starb, offenbar bald nach deren Abschluss,
wohl im Jahr 1213, wo sein in Frankreich gebliebener Sohn sich erstmals als
Herr von Villehardouin bezeugt ist.
Die Chronik gefällt durch ihren
nüchternen und realistischen Stil, verfolgt natürlich aber das Ziel, den
neuerlichen Misserfolg des Kreuzzugs zu erklären und zu relativieren sowie
dessen Anführer und den Autor selbst zu rechtfertigen.
(Stand: Jan. 07)
Le Lancelot en prose (1215–35).
Es ist vermutlich der erste Prosaroman
der franz. Literatur und bearbeitet den von Chrétien de Troyes (s.o.)
überkommenen Artus-Lancelot-Graal-Stoff. Das sehr umfangreiche Werk wurde
vielleicht unter der Leitung eines nicht bekannten Chefredaktors von mehreren
ebenfalls anonymen Autoren verfasst und ist in über 60 Handschriften und in
mehreren unterschiedlichen Versionen überliefert. Es war also sehr erfolgreich
und wurde entsprechend häufig abgeschrieben (was inzwischen übrigens nicht mehr
nur in klösterlichen Skriptorien geschah, sondern zunehmend in gewerblichen
städtischen Schreibwerkstätten).
Der Lancelot
ist der Prototyp des um die Themen Abenteuer, Kampf und Liebe kreisenden
Ritterromans, einer seit Chrétien in fast ganz Europa jahrhundertelang
florierenden Gattung, zu der u.a. auch die nach 1500 zunächst in Portugal und
Spanien florierenden Amadis-Romane gehören.
Mit seiner Verklärung des Rittertums
entsprach der Lancelot (wie auch
andere franz. Ritterromane nach ihm) offenbar nicht zuletzt einem
Evasionsbedürfnis des franz. Adels, dessen Macht ab ca. 1200 durch den
energischen König Philippe Auguste († 1223) und seine Nachfolger stark
eingeschränkt wurde. Das Buch kam aber sichtlich auch dem
Unterhaltungsbedürfnis von Bürgern in den wachsenden und wirtschaftlich
aufstrebenden Städten entgegen.
(Stand: Jan. 09)
Aucassin et
Nicolette (ca. 1225).
Diese „chantefable“, wie der
unbekannte, pikardisch schreibende Autor sein Werk nennt, ist das erste
Prosimetron (Mischung aus Prosa- und Versen) der franz. Literatur. Das nicht
sehr lange Werk zeugt nicht nur von der Kunst, sondern auch von der Belesenheit
seines Autors, denn es enthält zahlreiche, teils parodistische Anlehnungen an
die Literatur der Zeit, z.B. an die Chanson de Geste, die höfische Lyrik, den
höfischen Roman, den Tristan-Roman, den neuen Prosa-Ritterroman usw. So hübsch
und interessant diese „chantefable“ späteren Literaturhistorikern erscheint, damals hat sie keine Schule
gemacht und auch selbst ist sie nur in einer einzigen Handschrift erhalten
geblieben. Ob der dargestellte Triumph der Liebenden über den Willen der Väter
zu subversiv und die Figur der relativ emanzipierten Nicolette zu kühn war?
Erzählt wird in 21 Vers- und 20 Prosapassagen
mit Sympathie und feinem Humor die folgende Geschichte:
Aucassin, der Sohn des Grafen von
Beaucaire, liebt die schöne Nicolette, eine Sarrazenin, die ein gräflicher
Beamter einst als Kind auf dem Sklavenmarkt erworben, aber getauft und bei sich
aufgezogen hat. Als Feinde die Grafschaft angreifen, erklärt Aucassin seinem
Vater, dass er nur dann in den Kampf zieht, wenn er Nicolette heiraten darf,
doch der Graf lehnt diese Mesalliance ab. Auch der Beamte versucht Aucassin die
Heirat auszureden und sperrt, als das nichts nützt, Nicolette ein. Sie kann
aber fliehen und tröstet durch eine Mauerspalte Aucassin, der inzwischen
seinerseits im Kerker sitzt, weil er im Kampf zwar Heldentaten vollbracht,
danach jedoch neuen Streit mit dem unbeugsamen Vater gehabt hat. Sie baut sich
nun eine Hütte im Wald und sendet ihm, als er endlich frei ist, Lebenszeichen
von dort.
Nachdem er sie gefunden hat, gehen sie
gemeinsam in ein fremdes Land, werden dort aber bei einem Überfall
nordafrikanischer Piraten gefangen und getrennt verschleppt. Während Aucassin
dank einem Schiffbruch just bei Beaucaire wieder freikommt, den Tod seines
Vaters erfährt und neuer Graf wird, gerät Nicolette nach Karthago. Hier stellt
sich heraus, dass sie die geraubte Tochter des dortigen Königs ist, der sie
sogleich mit einem muslimischen Fürsten verheiraten will. Sie flieht jedoch und
schlägt sich durch bis Beaucaire, wo sie als Spielmann verkleidet Aucassin
ihrer beider Geschichte vorträgt. Als er ergriffen den vermeintlichen Spielmann
bittet, ihm die Geliebte zu suchen, steht dem Happy End nichts mehr im Weg.
(Stand: Dez. 10)
Guillaume de Lorris (* um 1205, vermutlich in
Lorris-en-Gâtinais, † nach 1240).
Der als Person gänzlich unbekannte
Guillaume gilt als Autor eines 4068 Verse zählenden Romanfragments, das er
gegen 1240 wohl in Paris für ein überwiegend höfisches Publikum begann und das
gegen 1280 von Jean de Meung fortgesetzt und einem Ende zugeführt wurde: des
sog. Roman de la Rose / Rosenroman.
Guillaumes besondere Leistung bestand
darin, drei Elemente gekonnt miteinander verbunden zu haben, die sämtlich in
der Literatur der Zeit zwar vorhanden, aber wenig geläufig waren: die Form der
Ich-Erzählung, die Darstellung einer ganzen Romanhandlung in Gestalt eines
Traumberichts und die Verwendung allegorischer Figuren als handelnder Personen.
Von der Meisterschaft Guillaumes zeugt auch seine so einfühlsame wie
anschauliche Darstellung der Psychologie des Verliebtseins.
Offenbar
war Guillaume auch der Erfinder der allegorischen Figur des Danger (aus
mittellat. domniarium „Herrschaft, Herrschaftsanspruch“). Dieser Unhold,
der alles verkörpert, was den Liebenden, vor allem dem liebenden Mann, die
Erfüllung ihrer Wünsche erschwert, war anschließend über 200 Jahre hinweg eine
außerordentlich verbreitete Figur in der franz. Literatur, vor allem der Lyrik.
Wahrscheinlich hat sie die Bedeutungsverschiebung von „Herrschaft“ zu „Gefahr“
verursacht, die das Wort danger im späten Mittelalter im Französischen
erlebte. In der deutschen Literatur scheint die Figur des Danger keine
Entsprechung zu haben.
(Stand: Jan. 09)
Le Roman de la
rose / Rosenroman (ca. 1230–1280).
Dieser lange allegorische Roman in
paarweise reimenden Achtsilblern ist das erste große in Paris entstandene Werk
der franz. Literatur und war wohl der meistgelesene und einflussreichste
franz.sprachige Text des Mittelalters. Er wurde zwischen 1230 und 1240 begonnen
von dem als Person nicht näher bekannten Guillaume de Lorris (* ca. 1205, † ca.
1240, s.o.) und blieb zunächst Fragment, das bei Vers 4028 abbrach. Von
Guillaume offenbar stammte die bahnbrechende Idee, drei in den Romanen seiner
Zeit zwar vorhandene, aber kaum geläufige Elemente miteinander zu verbinden:
die Form der Ich-Erzählung, die Darstellung einer ganzen Romanhandlung als Traumbericht
und die Verwendung allegorischer Figuren als handelnder Personen. Das Werk
wurde fortgesetzt und gegen 1280 mit Vers 21.750 zu einem Abschluss gebracht
von Jean de Meung (s.u.).
Der Roman beginnt mit einer kleinen
Vorrede, worin der Autor dem Leser/Hörer ankündigt, er wolle seiner Dame zu
Gefallen einen quasi Wahrheit gewordenen Traum berichten, den er vor fünf
Jahren als Zwanzigjähriger gehabt habe. Der Bericht enthalte „die ganze Kunst
der Liebe“ und heiße „der Roman von der Rose“. Denn mit dieser Blume sei seine
Dame zu vergleichen.
Der dann folgende Traumbericht ist
einem Ich-Erzähler (einem der ersten der franz. Literatur) in den Mund gelegt,
der zugleich Protagonist der Handlung und, wie sich bald zeigt, fast die
einzige als realer Mensch vorzustellende Figur hierin ist. Alles beginnt damit,
dass der Erzähler vor einen mauerumschlossenen paradiesischen Garten gelangt,
dessen Besitzer Déduit (Spaß, Vergnügen) dort mit einer fröhlichen
Gesellschaft, darunter Amor, tanzt und singt. Er wird von Oiseuse (die Müßige)
eingelassen und darf etwas mitfeiern, erkundet dann jedoch den Garten, heimlich
verfolgt von Amor. Im Spiegel eines Brunnens, dem von Narziss, erblickt er das
Bild einer Rosenknospe, die er fasziniert sofort sucht und an einem großen Busch
auch findet. Bei dem Versuch, sich ihr zu nähern, wird er von den Pfeilen Amors
getroffen. Sie verwandeln seine Faszination in Liebe und machen ihn zu Amors
Vasallen. Nachdem er ihm Treue und Gehorsam gelobt hat, wird er ausführlich
belehrt über die Pflichten eines Liebenden (u.a. dass er allen, zumal Frauen,
gegenüber zuvorkommend ist, sich sauber hält und adrett kleidet) sowie sehr
anschaulich aufgeklärt über die Seelenqualen, die ihn erwarten. Bei seinen
weiteren Annäherungsversuchen an die Rose bekommt er es mit vielerlei
allegorischen Figuren zu tun, insbes. Bel-Accueil (Freundlicher Empfang), der
sich ihm zu helfen erbietet, Raison (Vernunft), die ihn warnt, und den
Bösewichten Malebouche (Verleumdung), Peur (Furcht), Honte (Scham) und vor
allem Dangier ([unrechtmäßiger] Herrschaftsanspruch), einem anschließend in der
franz. Literatur allgegenwärtigen Unhold, der das Zusammenkommen Liebender nach
Kräften behindert. Schließlich schafft der Liebende es zwar mit der Hilfe von
Venus, Danger zu überlisten und einen Kuss der Rose zu erhaschen, doch lässt
nun Jalousie (Eifersucht) um den Rosenbusch herum eine Burg errichten und
Bel-Accueil in den Burgturm sperren, so dass der Liebende verzweifelt in eine
lange Klage anstimmt – womit der von Guillaume de Lorris verfasste Teil
abbricht.
Die ursprüngliche, bis hierher noch
deutliche Gesamtkonzeption ist die der Vermittlung einer idealistischen „ars
amatoria“ (Liebeskunst) an ein höfisches Publikum. Der liebende adelige Mann
sollte durch die theoretischen Belehrungen Amors und durch das praktische
Beispiel der Handlung die Kunst des Minnedienstes lernen, der in der völligen
Hingabe an die geliebte Dame und der geduldigen Überwindung von Widerständen
und Hindernissen besteht und eine moralische Läuterung bewirkt.
Guillaume
hatte den Liebenden/Erzähler einerseits beiläufig anmerken lassen, er werde
später den tieferen Sinn des Werkes erklären, und hatte ihn an einer anderen
Stelle andeuten lassen, er werde die Rose erst am Ende einer langen Schlacht
bekommen. Offenbar waren es diese Bemerkungen, die Jean de Meung (s.u.) auf die
Idee einer Fortsetzung brachten. Jean
führt zunächst die Klage des Liebenden fort, doch ändert sich sofort die
Atmosphäre des Textes. Der Liebende wirkt skeptischer, offener für Zweifel.
Auch lässt Jean ihn Aufklärung suchen, zunächst bei Raison, die ihm einen so
nüchternen wie langen Vortrag über die Probleme und Spielarten der Liebe hält,
ihn aber noch ausführlicher über moralisches und unmoralisches Handeln
überhaupt aufklärt, ihn vor dem launischen Walten Fortunas warnt und ihn zur
Aufkündigung seines Vasallenverhältnisses zu Amor drängt, was der Liebende
natürlich ablehnt. Auch im nächsten Abschnitt, dem Vortrag über praktische
Lebensregeln aller Art, den eine Figur namens Ami (=Freund) auf Bitte des
Liebenden hält, geht es nur am Rande um die Probleme Verliebter. Dem Autor Jean
ist offensichtlich vor allem an allgemeiner Unterweisung seiner Leser gelegen.
Die
Handlung kommt in seinem Teil fast zum Stillstand, das eigentliche Ziel, die
Rose, scheint eher nebensächlich geworden, auch wenn der Liebende sie
schließlich dank der Hilfe von Amor und seiner Mutter Venus und am Ende eines
heftigen Kampfes der allegorischen Figuren um die Rosenburg erlangt und
pflückt. Jean nämlich verschafft sich bzw. seinen Figuren ständig neue
Gelegenheiten zu gelehrten und satirischen Exkursen. So diskutiert er unter
häufiger Berufung auf antike und jüngere Autoritäten philosophische,
theologische und moralische Probleme, breitet seine beachtlichen
mythologischen, astrologischen und naturkundlichen Kenntnisse aus und nimmt zu
aktuellen Fragen Stellung, indem er etwa die Bettelmönchsorden satirisch
aufs Korn nimmt oder
die Herrschenden und die Vertreter der Kirche kritisiert.
Insgesamt steht Jean, der sichtlich für
ein vorwiegend städtisches Publikum schrieb, in einer ironischen Distanz zur
höfischen Denkungsart seines Vorgängers Guillaume. Aus einer fast misogynen
Grundhaltung heraus, wie sie typisch war für den mittelalterlichen Kleriker,
sieht er die Liebe nicht als Ideal, sondern als einen von der Natur gesteuerten
Trieb, der von moralischen Vorstellungen bestenfalls gezügelt wird. Die Frau
sieht er entsprechend nicht als Mittel der Läuterung, sondern als Versuchung,
vor der er den Liebenden von Raison nochmals eindringlich warnen lässt.
Dem Erfolg des Romans tat die
Diskrepanz der beiden Teile keinen Abbruch. Hierbei wurde von den
spätmittelalterlichen Lesern wahrscheinlich weniger der dichterisch schönere
Teil Guillaumes geschätzt als der gelehrtere und vielfältigere Teil von Jean.
Diesen hielt man denn auch für den Verfasser des Gesamtwerks. Insgesamt sind
mehr als 300, häufig prachtvoll illuminierte Manuskripte erhalten (eine enorme
Zahl für einen mittelalterlichen Text) und an die 20 frühe Drucke bis 1538.
Entsprechend groß war der Einfluss des Werkes auf die franz. Literatur, wo es
die Gattung Traumgedicht heimisch machte und (anders als in Deutschland) in
allen Gattungen allegorische Figuren zur Selbstverständlichkeit werden ließ.
Der Rosenroman wurde von so gut wie allen franz. Autoren zwischen 1300 und 1530
gelesen und als Inspirationsquelle benutzt. 1527 versuchte Clément Marot
(s.u.), den Text durch eine sprachliche Modernisierung zu revitalisieren. Diese
Fassung des Romans wurde jedoch nur viermal nachgedruckt, ehe er der so starken
wie raschen Veränderung des literarischen Geschmacks zum Opfer fiel, die von
der Wiederbelebung der Antike durch die Humanisten und dem Einbruch des
kulturellen Einflusses Italiens in Frankreich ausgelöst wurde.
In der Übertragung Chaucers hat der
Rosenroman die englische Literatur beeinflusst, in einer parodistischen,
vielleicht von Dante verfassten Version, auch die italienische. In der
deutschen Literatur scheint er keine nennenswerten Spuren hinterlassen zu
haben.
(Stand:
Juli 08)
Jean
de Meung
(auch Jean Clopinel oder Chopinel; * um 1240, wahrscheinlich in
Meung-sur-Loire; † spätestens 1305, wahrscheinlich in Paris).
Über seine Biografie ist so gut wie
nichts Genaueres bekannt. Aus seinem Schaffen lässt sich erschließen, dass er zumindest
die Artistenfakultät absolviert haben muss und Kleriker war. Auf jeden Fall
hatte er die Möglichkeit, sich eine profunde philosophische, theologische,
literarische und naturkundliche Bildung anzueignen. Auch scheint sicher, dass
er den größten Teil seiner aktiven Jahre in Paris verbracht hat.
Literarhistorisch bedeutend wurde Jean
vor allem durch seine Fortsetzung des um 1230/40 von Guillaume de Lorris
begonnenen Rosenromans (Roman de la Rose,
s.o.), die er wohl 1275-80 verfasste und durch die er die gut 4000 Verse
Guillaumes um fast 18.000 Verse erweiterte. Der Rosenroman war einer der
größten Bucherfolge, vielleicht sogar der größte, des franz. Mittelalters, und
zwar obwohl die beiden Teile nicht nur in der Länge sehr verschieden sind,
sondern auch in ihrem Geist und ihrer Machart. Der Hauptanteil an dem Erfolg
gebührt wahrscheinlich nicht dem dichterisch schöneren Teil Guillaumes, sondern
dem gelehrteren und vielfältigeren Teil Jeans, unter dessen Namen das Werkganze
denn auch anschließend lief.
Die sonstige Aktivität von Jean de
Meung bestand vor allem im Übertragen lateinischer Texte ins Franz., womit er
offenbar die Bedürfnisse der zunehmenden Zahl von Lesekundigen und Wissensdurstigen
vor allem in den wachsenden und prosperierenden Städten seiner Zeit
befriedigte. So übertrug er insbes. das Standardwerk der Kriegskunst De re militari von Vegetius (4. Jh. n.
Chr.), die Briefe Abälards und Heloises (12. Jh.) und das Trostbuch De Consolatio Philosophiae von Boethius
(523/24 n. Chr.). Wie so häufig bei erfolgreichen Autoren, wurden ihm postum
auch Werke zugeschrieben, die er nicht verfasst hat.
(Stand: Jan. 09)
La Châtelaine de
Vergi (ca. 1250).
Diese anonyme, traurig-schöne höfische
Erzählung in 958 Versen gilt seit ihrer Wiederentdeckung zur Zeit der Romantik
als ein Juwel der älteren franz. Literatur. Sie variiert das aus der Bibel
bekannte Joseph-Putiphar-Motiv1) in folgender Geschichte:
Die Châtelaine (Burgherrin) von Vergi
und ein Ritter haben ein geheimes glückliches Verhältnis. Die Herzogin von
Burgund verliebt sich in den Ritter, der sie abweist, ohne zu sagen warum.
Gekränkt beschuldigt sie ihn beim Herzog mit der Lüge, er stelle ihr nach. Als
jener den Ritter tadelt und bestrafen will, weiht dieser ihn in sein Geheimnis
ein und lässt ihn versteckt sogar ein Rendez-vous mit der Châtelaine
belauschen. Der Herzog, der von der Herzogin zu erklären gedrängt wird, warum
er den Ritter nicht bestraft hat, sagt ihr schließlich den Grund. Hierauf
deutet die Herzogin der Châtelaine an, sie kenne ihr Geheimnis, und zwar aus
dem Munde des Ritters. Die Châtelaine glaubt sich verraten und stirbt vor
Kummer; der Ritter nimmt sich das Leben, als er die Tote findet und den Grund
ihres Todes erfährt. Der Herzog erdolcht im Zorn seine Frau und geht zur Buße
als Tempelritter nach Palästina.
Die offenbar recht erfolgreiche
Erzählung (18 mittelalterliche Handschriften sind erhalten), wurde immer wieder
modernisiert, ins Italienische sowie ins Niederländische übertragen und zu
englischen und deutschen Versionen verarbeitet.
1) Die geläufige Bezeichnung ist
eigentlich unkorrekt, denn Putiphar ist der Name des Gatten der Frau, die sich
in Joseph verliebt hat.
Rutebeuf (auch Rustebués genannt; Schaffenszeit
ca. 1250–1285).
Er gilt heute als der erste bedeutende
Pariser Autor in der franz. Literaturgeschichte. Über seine Biografie sind wir
nur vage aus flüchtigen Angaben in seinen Werken informiert. Deren
Entstehungsdaten müssen aus ihrem Inhalt und anderen Indizien erschlossen
werden. Auch sein eigentlicher Name steht nicht fest. Er selbst erklärt
„Rutebeuf“ als Beinamen, der seinen Hang zu den heftigen Attacken ausdrücke,
die ihn als „rude beuf“ (rüder Ochse) erscheinen ließen.
Offenbar war Rutebeuf zum Studium, wohl
aus der Champagne, nach Paris gekommen, das unter den lange und erfolgreich
regierenden Königen Philippe "Auguste" (1180-1223) und Louis IX
(1226–1270) zum unbestrittenen Macht- und Kulturzentrum Frankreichs aufgerückt
war. Er hatte jedoch, wie er angibt, durch eigene Schuld, nämlich Trunk- und
Spielsucht, keinen festen Platz in der Gesellschaft gefunden. Vielmehr führte
er, zunehmend pessimistisch und verbittert und ständig über seine Armut
klagend, eine unsichere Existenz als Auftragsdichter wechselnder Gönner, als
Unterhalter mit Text- und Gesangsdarbietungen in den Häusern reicher Leute und
wohl vor allem als Spielmann auf Volksfesten.
Als Autor war er sehr vielseitig und
betätigte sich in vielen Genres, mit Ausnahme der höfischen Lyrik und des
höfischen Romans. Er verfasste Gesellschaftssatiren (z.B. La Bataille des vices contre la vertu), ein Mirakelspiel (Le Miracle de Théophile), Heiligenviten
(z.B. Vie de Sainte Marie l’Égyptienne), Fabliaux (=Schwänke), eine
satirische allegorische Fuchs-Dichtung (Renart
le bétourné), persönliche Lyrik, die meist sein Unglück thematisiert (z.B. Le
Mariage de Rutebeuf oder La Complainte de Rutebeuf), aber auch
gereimte Kreuzzugspropaganda, die die Lethargie der Christen und ihrer Führung
anprangert. Ein nicht unerheblicher Teil seiner Gedichte, z.B. der Renart,
diente ganz oder nebenher der Polemik gegen die jungen Bettelmönchsorden, die
die Volksbelustigungen bekämpften, von denen er und seine Schausteller- und
Spielmannskollegen lebten. Allerdings polemisiert er auf einer eher politischen
Ebene, indem er den Einfluss der Mönche auf den König und andere Mächtige
geißelt und die Heuchelei anprangert, mit der sie, wie er glaubt, ihren
Machthunger und ihre Gier kaschieren. Zugleich versuchte er mit seiner Polemik
die Pariser Universität, der er sich verbunden fühlte, in ihrem Abwehrkampf
gegen die Orden zu unterstützen, die an ihren Privilegien teilzuhaben
trachteten.
Rutebeuf, der sich nicht zu Unrecht
unter Wert gehandelt fühlte, ist eine relativ isolierte, unkonventionell
wirkende Stimme in der Literatur seiner Zeit. Er wird von anderen Autoren kaum
erwähnt oder zitiert und hat auch keine Schule gemacht. Der 200 Jahre jüngere
François
Villon, mit dem er gern verglichen wird, hat vermutlich nichts von ihm gewusst.
(Stand.: Sept.. 07)
P.S.: Nachdem Paris aufgrund seiner
günstigen Lage am Zusammenstrom von vier Flüssen, auf denen sich Lebensmittel
heranschaffen ließen, früh zur festen Residenz des Königshofes geworden war,
entwickelte es sich im 13. Jh. nicht nur zur eindeutig größten Stadt im
Königreich, sondern wurde, nicht zuletzt dank der Universität, auch zum
intellektuellen und kulturellen Zentrum, das alle bisherigen anderen Zentren
zweitrangig werden ließ. Hieraus erklärt sich auch der im 13. Jh. einsetzende
Siegeszug des Dialekts der Île de France, des Franzischen, das allmählich zur
Standardsprache wurde und die bisher mit ihm als Literatursprachen
rivalisierenden Dialekte bzw. Sprachen verdrängte, d.h. das Anglonormannische
(das ohnehin langsam mit dem Angelsächsischen zum Englischen verschmolz), das
Normannische, das Champagnische, das Pikardische sowie das Okzitanische
Südfrankreichs.
Brunetto
Latini bzw. Brunet Latin (ca.
1230–1294)
Der Name dieses ersten Italieners in
der franz. Literaturgeschichte verbindet sich mit dem nach 1260 begonnenen Livre du trésor (=das Buch vom Schatz), einem Kompendium des
geographisch-naturkundlichen, philosophisch-moralischen und
biblisch-althistorischen Wissens der Zeit und zugleich der Politik und
Rhetorik.
Das Werk entstand in Paris während
einer Verbannung des hochgebildeten Frühhumanisten Brunetto aus seiner von
inneren Machtkämpfen zerrissenen Heimatstadt Florenz. Es war gedacht als
Lehrbuch und Nachschlagewerk für ein breiteres, d.h. nichtklerikales, vor allem
städtisch-patrizisches Publikum.
Der in nüchterner franz. Prosa
geschriebene Trésor, für den es
damals nur lateinisch verfasste Vorbilder gab, wurde seinerseits Vorbild für
zahlreiche ähnliche in den Volkssprachen verfasste Werke in Frankreich und anderswo
in Europa. Die Tatsache, dass Brunetto französisch schrieb, um (wie er selbst
vermerkt) möglichst viele Leser zu erreichen, bezeugt die Bedeutung, die das
Französische inzwischen als europäische Lingua
franca gewonnen hatte, d.h. als Verkehrssprache, die vielerorts, bis in den
Vorderen Orient hinein, verstanden und benutzt wurde.
Brunetto kehrte übrigens 1267, nachdem
seine Partei in Florenz wieder an die Macht gekommen war, dorthin zurück und
gelangte in höchste Ämter dieses seinerzeit reichen und mächtigen, als Republik
verfassten Stadtstaates. Dante bezeichnet ihn in seiner Divina commedia
(I, 15) als seinen Lehrer, versetzt ihn allerdings zu den Sodomiten in die
Hölle.
(Stand: Febr. 05)
Adam de la Halle (ca. 1235 – ca.
1285).
Adam, der auch „le Bossu“ (der
Bucklige) genannt wurde, ist heute vor allem bekannt als der Autor von Le Jeu de la feuillée (1276/77), dem
ersten satirischen Theaterstück der franz. Literatur. Hierin bringt er sich
selbst, seinen Vater, seine Frau, Verrückte und Feen sowie diverse reiche
Patrizier seiner Heimatstadt Arras auf die Bühne und karikiert sich und sie
überwiegend boshaft in einer Serie von Szenen, die wie bissige Rundumschläge
aus einer Lebenskrise heraus erscheinen (von der er sich offenbar gern durch
einen Wechsel ins intellektuell lebendigere Paris befreit hätte).
Ca. 1284 (Adam stand inzwischen im
Dienst des Grafen Robert von Artois) verfasste er in Neapel ein weiteres Stück,
das Singspiel Le Jeu de Robin et de
Marion. Dieses sollte zur Unterhaltung des franz. Heeres beitragen, mit dem
Robert 1283 nach Neapel gezogen war, um dem jüngeren franz. Königssohn Charles
d'Anjou (der seit 1266 König von Neapel-Sizilien war) zu helfen, das seit 1282
aufständische Sizilien zurückzuerobern.1)
Die Handlung des Jeu de Robin et de
Marion spielt in einer halb realistischen, halb konventionell-arkadischen
Hirtenwelt und rankt sich um das traditionelle Pastorellen-Motiv, d.h. die
Begegnung in freier Natur zwischen einem liebeshungrigen Ritter und einer
jungen Schäferin (wobei im vorliegenden Fall Marion ihrem Robin treu bleibt und
den Ritter abblitzen lässt – ähnlich wie es oft auch in den zahlreichen
anderen, meist in Gedichtform verfassten "Pastourelles" geschieht).
Adam war in seinen jüngeren Jahren auch
als Lyriker (und Komponist seiner Texte) nicht unbedeutend. Die reiche
Tuchmetropole Arras verfügte zu dieser Zeit durchaus über ein eigenständiges
geistiges Leben, z.B. mit regelmäßigen Wettdicht- und Wettsingveranstaltungen
(„puis“), in denen er sich profilieren konnte.
1) Frankreich war im 13. Jh. dank einer
Serie tüchtiger Könige von Philippe II „Auguste“ (1180-1223) bis zu Philippe IV
„le Bel“ (1285–1314) die politisch stärkste Macht in Europa! Die
Wiedereingliederung Siziliens in das Königreich Neapel allerdings gelang für
dieses Mal nicht.
Marco Polo (ca. 1254–1324).
Dieser venezianische Patrizier,
Kaufmann und Reisende ist in die franz. Literaturgeschichte eingegangen mit Le Livre des merveilles du monde (1298),
dem ersten weitgehend realistischen Bericht über die in Westeuropa bis dahin
praktisch unbekannten Länder und Völker in Fernost.
Im Mittelpunkt steht China, wo Polo
sich zunächst als noch jugendlicher Begleiter seines Vaters und seines Onkels,
dann als Günstling des Großkhans (=Kaisers) 17 Jahre lang (1275–1292) aufgehalten
hatte, während derer er viel in dem Riesenreich selbst herumkam, aber auch
Indien und Burma bereiste. Ebenfalls beschrieben werden der Hinweg über die
berühmte Seidenstraße und der Rückweg, der per Schiff bis Persien, über Land
bis Konstantinopel und dann wieder per Schiff nach Venedig führte.
Das Buch entstand durch den Zufall,
dass Polo bei einem Seegefecht zwischen Venezianern und Genuesen in genuesische
Gefangenschaft geriet und von einem Mitgefangenen, dem auch als Autor anderer
Werke bekannten Rustichello da Pisa, gedrängt wurde, ihm den Bericht seiner
Reise zu diktieren, wobei die beiden als geeignetste Sprache das ihnen
ausreichend vertraute Französische wählten (in das sie allerdings viele
Italianismen mischten).
Der "Marco Polo" wurde in den
nachfolgenden zwei Jahrhunderten sehr viel gelesen, denn mehr als 80
Handschriften, auch von Übersetzungen in andere Sprachen, sind erhalten.
Darüberhinaus wurde er von Gelehrten aller Art ausgewertet, vor allem
Geographen, die seine sehr exakt wirkenden Entfernungsangaben für ihre Karten
übernahmen. Noch Kolumbus benutzte diese Angaben zur Errechnung der Länge einer
Seefahrt quasi hinten herum nach Indien (wobei er aber viel zu optimistisch
kalkulierte und verhungert und verdurstet wäre, hätte er nicht Amerika,
genauer: eine karibische Insel gefunden).
Jean de Joinville (* 1224 oder
1225; † 24.12.1317)
Er ist vor allem bekannt als Verfasser
einer Darstellung von König Louis IX des Heiligen (1214-70), die als erste
franz.sprachige Biographie in einem modernen Sinne gilt.
Joinville gehörte einer Familie an, die
nicht zuletzt durch reiche Heiraten in den Hochadel aufgestiegen war und in der
das (Richter-)Amt eines Sénéchal de Champagne erblich war. Im Alter von ca.
acht Jahren verlor er seinen Vater, wonach er von seiner Mutter erzogen wurde,
die aus der Familie der Grafen der Bourgogne stammte.
1241 ist Joinville ein erstes Mal in
seinem Rang als Sénéchal nachweisbar, und zwar bei einem königlichen Hoftag in
Saumur. Anschließend unternahm er eine Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela.
Nach seiner Rückkehr heiratete er.
1245 oder 46 nahm er erstmals als
Ritter an Kampfhandlungen teil anlässlich der Fehde eines Onkels, des Grafen
von Chalon.
Ostern 1248, inzwischen war er Vater
zweier Kinder, darunter eines Sohnes, nahm er das Kreuz, wie es schon mehrere
Vorfahren von ihm getan hatten, und schloss sich mit zehn von ihm besoldeten
Rittern dem Sechsten Kreuzzug an, zu dem Louis IX von Marseille aus aufbrach.
Während der längeren Zwischenstation auf Zypern trat er, nicht zuletzt wohl aus
finanziellen Gründen, in das königliche Gefolge ein.
Bei der Landung des Kreuzfahrerheeres
im Nil-Delta Anfang 1249 und der Einnahme der dortigen Hafenstadt Damiette
zeichnete Joinville sich aus. Wenig später nahm er an der desaströsen
Belagerung von al-Mansura teil, an welcher der Kreuzzug scheiterte. Auf dem
Rückzug nach Damiette geriet er im Februar zusammen mit König Louis in
Gefangenschaft. Gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes wurde er im Mai
freigelassen, gemeinsam mit Louis, mit dem er sich nach Akkon in Palästina
einschiffte. In dieser Hafenfestung, die noch von Kreuzfahrern gehalten wurde,
blieb er vier Jahre lang mit ihm zusammen und begleitete ihn 1254 zurück nach
Frankreich. In diesen Jahren täglichen Umgangs mit seinem König wurde er zu
dessen engen Vertrauten, was er in der Folgezeit als Mitglied des Kronrates
blieb.
1267 (inzwischen hatte er sich in
zweiter Ehe verheiratet und war vor kurzem wieder Vater geworden) wurde
Joinville von Louis gedrängt, an einem neuerlichen Kreuzzug (dem siebten)
teilzunehmen, der nach Tunis führen sollte. Er lehnte jedoch ab, weil er sich
den Seinen verpflichtet fühlte und überdies das Vorhaben für unrealistisch
hielt – zu Recht, denn Louis kam 1270 vor Tunis ums Leben, ohne Erfolge erzielt
zu haben.
1282 gehörte Joinville zu den Zeugen im
Kanonisierungsverfahren, das für Louis eröffnet worden war und 1290 mit dessen
Heiligsprechung endete. Der Wortlaut seiner Aussage ist erhalten.
Da er schon während seines Aufenthalts
in Palästina einen Kommentar des Credo verfasst hatte (der ihn als guten
Bibelkenner ausweist), begann er 1305 auf Bitten der Königin das Livre des
saintes paroles et des bons faits de nostre saint roi Louis (=Das Buch von
den heiligen Worten und guten Taten unseres heiligen Königs Ludwig), das er
1309 fertigstellte und dem amtierenden König Philippe le Bel widmete, einem
Enkel von Louis IX.
Das Werk sollte der Belehrung und
Erbauung des Kronprinzen (des späteren Louis X, *1289) dienen, doch verfolgte
es daneben naturgemäß auch politische Ziele, nämlich die Stärkung der Dynastie
durch die Präsentation eines mustergültigen Herrschers aus ihren Reihen.
Joinville bringt sich aber auch selbst zur Geltung, denn er erzählt als erster
Chronist der franz. Literatur in der 1. Person. Der Form nach ist sein Werk ein
sehr persönlich wirkender, lebendiger Bericht seiner vielen Begegnungen mit
Louis und mischt insofern Gattungsmerkmale von Biografie, Autobiografie,
Chronik und Reisebericht, aber auch der meist lateinischen Exempla-Literatur
der Zeit.
Joinville nahm noch als Hochbetagter an
mehreren Kriegszügen teil und starb im für mittelalterliche Verhältnisse sehr
hohen Alter von gut 90 Jahren auf seinen Besitzungen in der Champage.
Sein Image eines ersten Biografen im
modernen Sinn resultiert daraus, dass er bestrebt ist, die dargestellte Person
trotz aller Sympathie möglichst objektiv darzustellen, d.h. in den
unterschiedlichsten, sowohl alltäglichen wie offiziellen Situationen, und ihn
weniger apologetisch als Heiligen zu verherrlichen denn als guten Christen und
König zu zeigen, der durchaus auch diese oder jene Schwäche aufweist.
Das Werk Joinvilles fand zu seiner Zeit
offenbar keine weite Verbreitung, denn nur wenige Manuskripte sind erhalten.
Auch hat es, vielleicht aufgrund seiner unkonventionellen Form, nicht als
Vorbild gewirkt. Immerhin wurde es 1547 gedruckt unter dem knappen Titel Vie
de Saint Louis. Erst im 19. Jh. wurde es von (Literar-)Historikern stärker
beachtet. Eine deutsche Übersetzung (Th. Nissle) erschien 1854.
(Stand: Jan. 09)
Guillaume de Machaut (ca. 1300 – 1377).
Er war einer der großen Autoren, aber
auch Komponisten seines Jahrhunderts. (In Nachschlagewerken wird er häufig
unter "G", d.h. seinem Vornamen, geführt.)
Er wurde geboren wahrscheinlich in Machault,
einem Dorf in den Ardennen, als Sohn einer nichtadeligen Familie, die aber
sichtlich wohlhabend genug war, um ihm eine gute Bildung zu ermöglichen. Nach
Studien an der Domschule von Reims trat er ca. 1323 in die Dienste Herzog
Johanns von Luxemburg (1296-1346), eines Sohnes Kaiser Heinrichs II. Zum
Sekretär Johanns befördert, der zugleich König von Böhmen, Mähren und Schlesien
war, begleitete er diesen auf seinen vielen Reisen durch seine Territorien und
auf zahlreichen Kriegszügen. Dank ihm erhielt er 1337, obwohl nie zum Priester
geweiht, eine einträgliche Domherrenpfründe im Domkapitel von Reims, wo er ab
1340 auch überwiegend lebte, nachdem Johann erblindet war und weniger umherzog.
Als 1346 Johann in der englisch-franz.
Schlacht von Crécy umkam (auf Seiten des Verlierers, König Philippe VI von
Frankreich), trat Machaut in die Dienste Guthas (alias Bonne) von Luxemburg,
der Tochter Johanns und Schwiegertochter Philippes. Nach Guthas baldigem Tod
(1349) war Machaut als Dichter renommiert genug, um keinen festen Dienstherrn
mehr zu benötigen. Vielmehr schloss er sich wechselnden fürstlichen Mäzenen an,
z.B. dem Dauphin (Kronprinz) und späteren König Charles V (1364–1380) oder
dessen kunstliebendem Bruder Herzog Jean de Berry († 1416), an deren Höfen er
gastierte und denen er – natürlich gegen Entgelt – seine Werke widmete.
Machaut war Verfasser von längeren,
meist allegorischen Versdichtungen verschiedener Gattungen sowie von kürzeren
Verserzählungen und -romanen, die in der Regel die Ich-Form benutzen und viele
autobiografische Elemente enthalten. Er versuchte sich aber auch in der Gattung
Vers-Chronik mit La Prise d'Alexandrie,
einem Bericht von der (vorübergehenden) Eroberung Alexandrias 1365, den er
1370-1371 zu Ehren des 1369 ermordeten Eroberers Pierre de Lusignan, Königs von
Zypern, verfasste. Vor
allem aber war Machaut ein sehr produktiver, seine Kunst reflektierender
Lyriker, von dem 234 Balladen, 76 Rondeaus und rd. 100 andere Gedichte erhalten
sind. Hauptgegenstand dieser Lyrik, die formal und thematisch überwiegend im
Gefolge der höfischen Dichtkunst steht, ist die Liebe oder genauer "das
Lob der Damen".
Machaut war übrigens einer der letzten,
der viele seiner Gedichte vertont hat, und er gilt auch in der Musikgeschichte
als Figur von epochaler Bedeutung.
Von Interesse ist er darüber hinaus als
Autor des wohl ersten autobiografischen Liebesromans der franz. Literatur, Le voir dit (=die wahre Dichtung), einer
1362 verfassten Liebesgeschichte um die junge Péronne d'Armentières und den schon
ältlichen Dichter, der darin zugleich die Entstehung seines Werkes
thematisiert.
Von seinen Zeitgenossen wurde Machaut
als ein Meister seiner Kunst verehrt. Sein Einfluss auf die nächsten
Lyrikergenerationen, insbes. auf Jean Froissart, Eustache Deschamps und
Christine de Pizan war groß. Seine Existenz als eines Autors, der vor allem für
Höfe und fürstliche Mäzene tätig war, wird für die Autoren des 14. und 15. Jh.
typisch werden.
P.S.: Die im vorangehenden 13. Jh. so
bedeutende kulturtragende Funktion der reichen Stadtbürgerschaft (des
Patriziats), war im 14./15. Jh. stark gemindert dadurch, dass die Städte
verarmt waren aufgrund eines ganz Europa betreffenden enormen Rückgangs der
Bevölkerungszahl und damit der Wirtschaftskraft. Ursache hierfür waren zunächst
Serien von Missernten und Hungersnöten, die ausgelöst wurden von einer starken
Klimaverschlechterung nach 1300, und dann die Große Pest von 1348–50, bei der
weit mehr als die Hälfte aller Europäer starben, und zwar vor allem in den
Städten aufgrund der dort größeren Ansteckungsgefahr. In Frankreich kamen ab
1337 verschlimmernd die Auswirkungen der ersten Phasen des Hundertjährigen
Krieges zwischen der englischen und der franz. Krone hinzu.
Jean
Froissart (*
ca. 1337 in Valenciennes, † ca. 1410, wahrscheinlich in Chimay/Belgien).
Er ist von besonderem Interesse als
Autor der von 1370 bis 1400 verfassten Chroniques,
des wohl ersten franz.sprachigen historiografischen Werks, das Ereignisse der
jüngeren und jüngsten Vergangenheit nicht, wie bis dahin üblich, aus der
rückblickenden Perspektive eines selbst daran Beteiligten berichtet, sondern
sie auf der Grundlage schriftlicher Quellen sowie der Befragung von Teilnehmern
und Augenzeugen darstellt.
Froissart wuchs auf im (heute
belgischen) Hainaut (Hennegau). Nach einer Ausbildung als Kleriker ging er 1361
nach London an den englischen Hof, da er Anschluss an Philippine de Hainaut,
die Gemahlin von König Edward III, gefunden hatte. Seine literarische Laufbahn
begann er als höfischer Lyriker und Verfasser längerer, oft allegorischer
Versdichtungen im Stile Guillaumes de Machaut. Schon in London jedoch, wo er
viele Teilnehmer am Hundertjährigen Krieg zwischen den Kronen Englands und
Frankreichs kennenlernte und von wo aus er bald auch zahlreiche Reisen für Recherchen
und die Befragung von Zeitzeugen unternahm, begann er sich als Chronist der
jüngsten Vergangenheit zu betätigen. Eine erste Chronik, die die Kriegstaten
der Engländer feierte und Philippine gewidmet war, ist jedoch nicht erhalten.
1368 begleitete er einen Sohn
Philippines zur Verheiratung nach Mailand und erfuhr auf der Rückreise 1369,
dass seine Gönnerin gestorben war. Er ließ sich nun im heimatlichen Hainaut
nieder und widmete sich seinen Chroniques,
nachdem er neue Mäzene gefunden hatte. Dies waren z.B. Robert de Namur und Guy
de Châtillon, Comte de Blois, der ihm 1373 die Pfarrei von Estinnes-au-Mont als
Absicherung besorgte und ihm 1388 für den Spanien-Teil seiner Chronik eine
Reise an den Hof des Grafen von Foix-Béarn nahe der spanischen Grenze
finanzierte. Vor allem aber erhielt Froissart die Unterstütztung Wenzels von
Luxemburg, Herzogs von Brabant, zu dem er auch ein engeres persönliches
Verhältnis entwickelte.
Zentraler Gegenstand der sehr
umfangreichen Chroniques de France,
d'Angleterre, d'Escoce, d'Espaigne, de Bretaigne, de Gascogne, de Flandres et
lieux circonvoisins ist das Hin und Her des von 1337 bis 1458 immer wieder
aufflammenden Hundertjährigen Krieges. Hierbei sympathisiert Froissart anfangs
eher mit den Engländern, erst später macht er sich zumindest ansatzweise auch
die Leiden des Volkes in Frankreich bewusst sowie die Tatsache, dass die
englischen Feldzüge auf franz. Boden Raubzüge waren. Insgesamt aber sieht er
den Krieg mehr als Ausfluss persönlicher Ruhmbegierden von Fürsten und Herren
sowie als Abfolge eindrucksvoller Ritterkämpfe und Schlachten denn als einen
blutigen Konflikt, in dem englische Könige und Heerführer die Schwäche
ausnutzten, in die Frankreich nach 1314 durch eine Serie rascher Thronwechsel
verfiel und die es ihnen ermöglichte, immer wieder große Teile des Landes unter
ihre Herrschaft zu bringen.
Neben der Arbeit an den nach und nach
auf vier umfangreiche Teile anwachsenden Chroniques
schrieb Froissart auch noch andere Werke. So beendete er 1383 den Meliador, einen der letzten franz.
Ritterromane in Versform, in den er auch Gedichte des im selben Jahr
verstorbenen Herzogs Wenzel einstreute.
Nachdem er sich mit Guy de Châtillon
überworfen hatte, fand er in seinen späten Jahren einen Gönner in Philippe le
Hardi (Philipp der Kühne, †1404), Herzog von Burgund. Auf einer seiner immer
noch fortgesetzten Informationsreisen besuchte er 1395 auch London, verließ es
aber bald enttäuscht. Er beendete sein Leben als Stiftsherr in Chimay.
Die Chroniques erfuhren im 15. Jh. eine
so beachtliche Verbreitung, das sich mehr als 100, z.T. reich illustrierte
Manuskripte erhalten haben.
(Stand: Juli 05)
Eustache
Deschamps (auch
Eustache Morel genannt, ca. 1345–1404).
Er war der bedeutendste franz. Lyriker
der zweiten Hälfte des 14. Jh. und war vielleicht ein Neffe von Guillaume de
Machaut, jedenfalls aber eine Zeitlang sein Zögling an der Domschule von Reims.
Nach Jurastudien an der Universität
Orléans erlangte Deschamps dank seiner Talente als Dichter und als Unterhalter
1368 die Protektion von König Charles V und nach dessen Tod (1380) die von
Charles VI sowie vor allem von dessen kunstliebendem und ehrgeizigem jüngeren
Bruder Herzog Louis d'Orléans, zu dessen Gefolge er ab 1390 zählte. Von seinen
Gönnern erhielt er mehrere kleinere königliche Ämter zugewiesen, von denen er
samt seinen Kindern (seine Frau war 1376 jung nach der Geburt des dritten
gestorben) passabel leben konnte, obwohl er häufig klagte. 1389 wurde er zum
seigneur de Barbonval erhoben und somit geadelt. Er hielt sich meist in Paris
am Hof auf, war aber auch viel mit seinen Fürsten und für sie unterwegs. So war
er 1384/85 Mitglied einer diplomatischen Mission nach Ungarn und Kroatien, 1397
reiste er als Botschafter von Louis d'Orléans nach Mähren. Um 1400 zog er sich
mehr und mehr zurück, gesundheitlich angeschlagen und unzufrieden mit dem
Machtgerangel am Hof, wo verschiedene Klüngel, nicht zuletzt der von Louis, den
intermittierend geistesgestörten König zu manipulieren versuchten.
Deschamps war mit etwa 1500 erhaltenen
Gedichten in allen damals gängigen Genera, darunter vor allem gut 1100 Balladen
und an die 200 Rondeaus über vielerlei Sujets, einer der produktivsten und
thematisch, formal und stilistisch innovativsten Lyriker des franz.
Mittelalters. Sein Einfluss auf die Autoren neben ihm (z.B. auch auf Geoffrey
Chaucer) und nach ihm war groß und reicht bis weit ins 15. Jh. hinein, z.B. bis
zu Villon.
Während seine dem Thema Liebe
gewidmeten Gedichte meist eher konventionell bleiben, wirken seine
moralisch-gesellschaftlichen Problemen, z.B. denen des Hoflebens, gewidmeten
Texte (meist Balladen) sehr persönlich. Bei den Zeitgenossen hoch angesehen
waren auch seine philosophischen, didaktischen und satirischen Balladen.
Ein zentrales Thema Deschamps’ ist der
Niedergang Frankreichs durch den nach Charles’ V Tod wieder aufflammenden
Hundertjährigen Krieg. In einer Ballade bejammert er z.B., wie (1380) auch sein
eigener Landsitz nahe seinem Geburtsort Vertus von englischer Soldateska
geplündert und abgebrannt wurde. In der Fragment gebliebenen allegorischen
Versdichtung La Fiction du lion, wo
er Frankreich als Löwen und England als Leoparden darstellt, beklagt er das
Versagen des Nachfolgers von Charles V, der es nicht schaffte, den „Leoparden“
in die Schranken zu weisen. Ein anderes politisches Thema, nämlich das Große
Schisma in der Katholischen Kirche, behandelt Deschamps in La Complainte de l'Eglise desolee (1393).
In seinen letzten Jahren arbeitete er
an der unvollendet geblieben satirischen Versdichtung Le Miroir du mariage, wo er die Vor- und Nachteile (meist eher
diese) der Ehe diskutiert.
Deschamps ist darüber hinaus
interessant als Autor der ersten in franz. Sprache verfassten Poetik
(Dichtungslehre), L'Art de dicter et de
faire chansons (1392), einer Zusammenstellung von Regeln und Rezepten zum
Verfassen metrisch gebundener Texte, wobei es ihm mehr auf die „musique
naturelle“ der Sprache als auf die „musique artificielle“ der Melodie ankommt
(denn er war einer der ersten, die auf eine Vertonung und musikalische Begleitung
ihrer lyrischen Texte weitgehend verzichten).
(Stand: Jan. 05)
P.S.: Der mit vielen Pausen insgesamt
von 1337 bis 1453 dauernde Krieg zwischen den Kronen Englands und Frankreichs
spielte sich ausschließlich auf franz. Boden ab und bestand weitgehend aus den
sommerlichen Beutezügen englischer Heere. Seine größeren und kleineren
Schlachten gingen häufig zugunsten der Engländer aus, weil deren Truppen zwar
zahlenmäßig meistens unterlegen, aber technisch dank ihrer Bogenschützen und
taktisch dank ihrer größeren Disziplin überlegen waren sowie insgesamt über
mehr Kampferfahrung verfügten.
Christine de Pizan bzw. de Pisan (1365 – ca. 1430).
In ihren fast 40 Schaffensjahren war
Christine die mit Abstand produktivste aller Literaten ihrer Generation. Sie gilt
als die erste Autorin der franz. Literatur, die (samt ihrer Familie) mehr oder
weniger von ihrer Feder zu leben geschafft hat. Nachdem sie von einer lange
Zeit männlich dominierten Literaturgeschichtsschreibung eher vernachlässigt
worden war, wird sie heute relativ hoch geschätzt und von Literatur- und
Sozialwissenschaftlerinnen als eine Feministin avant la lettre betrachtet.
Geboren in Venedig als Tochter des
Astrologen und Arztes Tommaso da Pizzano, kam sie als Mädchen nach Paris,
nachdem ihr Vater Leibarzt von König Charles V geworden war. Sie erhielt
eine gute Bildung (die sie später durch die fleißige Lektüre antiker und
zeitgenössischer Autoren erweiterte) und wurde fünfzehnjährig mit dem 10 Jahre
älteren kleinadeligen königlichen Notar und Sekretär Étienne du Castel
verheiratet, mit dem sie rasch hintereinander drei Kinder bekam.
Nach dem Tod ihres Gatten während einer
Epidemie (1389) und ihrer Verarmung durch Erbschaftsprozesse begann sie zu
schreiben. Dank ihrer einstigen Nähe zum Hof gewann sie dort Mäzene und
entwickelte das System, von ihren Werken nach deren Fertigstellung
Prachthandschriften anfertigen zu lassen, die sie in der Erwartung eines
fürstlichen Entgelts Mitgliedern der königlichen Familie überreichte, vor allem
der Königin Isabeau de Bavière und den Herzögen Louis d'Orléans, Jean de Berry
und Philippe de Bourgogne.
Christine begann als Lyrikerin unter
dem Einfluss von Eustache Deschamps (s.o.), wobei sie z.B. in sehr persönlich
wirkender Weise den Verlust des geliebten Gatten beklagt (Ballades du veuvage, Cent
ballades d'amant et de dame).
Sie schrieb dann mehr
lehrhaft-philosophische Werke, u.a. ein Lehrbuch für angehende Fürsten (L'Épître d'Othéa, 1400), Betrachtungen
über das Wirken Fortunas in ihrem eigenen Leben und in der antiken Geschichte (La Mutation de Fortune, 1403), und
schließlich politisch motivierte Werke, worin sie auf die vielen Kriege und
Bürgerkriege im Frankreich des geistesgestörten Königs Charles VI (1380–1422)
reagierte, hinter dem ständig verschiedene Personen und Parteien um die Macht
im Staate kämpften und dabei immer wieder auch England in ihre Streitereien
hineinzogen (z.B. Le Livre des faits
d'armes et de chevalerie, 1410; Le
Livre de paix, 1412; Lamentations sur
les maux de la guerre, 1420).
Ebenfalls politisch intendiert war eine
apologetische Biografie (1405) des Protektors ihres Vaters und großen Königs
Charles V (1364–1380), der mit Hilfe seines tüchtigen Feldherrn Du Guesclin die
Engländer fast aus Frankreich hinausgedrängt und das Land vorübergehend befriedet
hatte.
1399, und damit beginnt der
„feministische“ Teil ihres Schaffens, kritisierte sie die Misogynie der Männer
ihres gesellschaftlichen Umfeldes, insbesondere die des Autors Jean de Meung im
Rosenroman. Sie entfesselte damit die
sog. Querelle du Roman de la Rose, den ersten Pariser Literatenstreit in
der Geschichte der franz. Literatur, in den sie selbst mit ihrer Épître au dieu d'amours (ebenfalls 1399)
eingriff. 1400 verfasste sie Le Dit de la
rose, der die fiktive Gründung eines die Frauen beschützenden „Rosenordens“
beschreibt. Von 1404 datiert ein Traktat zur richtigen Erziehung der Mädchen, Le Livre des trois vertus. 1405 stellte
sie ihr aus heutiger Sicht interessantestes Werk fertig, Le Livre de la Cité des dames, in dem sie an Protagonistinnen aus
der biblischen und der antiken Geschichte die Fähigkeiten bedeutender Frauen
vorführt und den utopischen Entwurf einer Gesellschaft entwickelt, die den
Frauen gleiche Rechte gewährt.
1418, während einer der heißesten
Phasen des Hundertjährigen Krieges, zog sie sich zu ihrer Tochter in ein
Kloster unweit von Paris zurück.
Hier wurde sie 1429 noch Zeugin der
Heldentaten von Jeanne d'Arc, der „Jungfrau von Orléans“, der sie nach schon
längerem Schweigen einen Lobpreis widmete (Dictié
en l'honneur de la Pucelle, 1429). Danach ist nichts mehr bekannt von ihr.
(Stand: Febr. 07)
Journal d'un
bourgeois de Paris (1405–1449). Es ist das älteste erhaltene Tagebuch
in franz. Sprache und berichtet aus der Perspektive eines namentlich unbekannten
Pariser Klerikers vom Alltagsleben in einer schwierigen Zeit, die in und um
Paris geprägt war durch fast pausenlose Kriege bzw. Bürgerkriege, Anarchie,
Seuchen, Hunger und Not. Das Journal
ist naturgemäß weniger als literarischer Text denn als Informationsquelle für
Historiker interessant.
Alain Chartier (ca. 1385–1433)
Er ist als Lyriker und Erzähler mit
Abstand der bedeutendste franz. Autor der Zeit um 1425 und galt als solcher
auch schon bei den Zeitgenossen.
Chartier (der in Literaturgeschichten
und Lexika häufig unter „Alain“ figuriert) stammte aus einer bürgerlichen
Familie der normannischen Bischofstadt Bayeux. Wie sein ältester Bruder
Guillaume, der später Bischof von Paris wurde, und sein älterer Bruder Thomas,
der königlicher Notar wurde, studierte er in Paris. Spätestens um 1415 stand
auch er in Beziehung zum Hof als Sekretär des Dauphins, des späteren Königs
Charles VII. Diesem diente er praktisch sein ganzes Leben lang und reiste für
ihn des öfteren als kompetenter Begleiter ranghöherer, aber weniger kompetenter
Botschafter bzw. Unterhändler zu europäischen Fürsten. Zum Dank bekam er von
Charles mehrere einträgliche Domherrenpfründen (die kumulierbar waren)
verschafft. Er starb auf einer diplomatischen Reise in Avignon. Seine Existenz war
überschattet von der schlimmsten Phase des Hundertjährigen Krieges zwischen den
Kronen Englands und Frankreichs sowie dem darin eingebetteten
innerfranzösischen Bürgerkrieg zwischen Bourguignons und Armagnacs.
Chartier begann als Lyriker im Stil der
höfischen Lyrik der Zeit und betätigte sich sein ganzes Leben hindurch in
praktisch allen ihren Gattungen (Balladen, Rondeaus, Virelais usw.). Der
Grundton der meisten seiner Gedichte ist melancholisch.
Sein erstes längeres Werk war die
Verserzählung Le Livre des quatre dames, die er 1416 in Paris verfasste,
unter dem Schock der Niederlage eines weit überlegenen franz. Ritterheeres
gegen die diszipliniert kämpfenden englischen Bogenschützen bei Azincourt
(1415). Hierin berichtet ein Ich-Erzähler von vier Damen, die ihn zu
entscheiden bitten, wer die Unglücklichste von ihnen sei: diejenige, deren
Freund in der Schlacht gefallen ist, die, deren Freund seitdem vermisst wird,
die, deren Freund dort in Gefangenschaft geraten ist, oder schließlich die,
deren Freund sich durch feige Flucht gerettet hat.
1418 floh Chartier mit dem Dauphin
Charles und dessen Gefolge vor den „Bourguignons“ aus Paris nach Bourges.
Hier schrieb er 1422 das Quadrilogue
invectif, ein Vierergespräch zwischen den allegorischen Figuren le Clergé
(=der kath. Klerus), la Chevalerie (=der Adel), le Peuple (=das Volk) und Dame
France, wobei „Frau Frankreich“ den drei Anderen, d.h. den Franzosen insgesamt,
ihre Uneinigkeit angesichts der wirren Verhältnisse in ihrem Land vorwirft.
Dieses nämlich hatte 1420 beim Tod des geistesgestörten Charles VI zwei Könige
bekommen: Über die Mitte und den Süden regierte von Bourges aus der Ex-Dauphin
und Sohn von Charles VI, Charles VII. Im Norden und Westen dagegen herrschte
von Paris aus und mit Hilfe englischer Truppen dessen Neffe, der kleine Henry
VI., Sohn einer Tochter von Charles VI und des früh verstorbenen englischen
Königs Henry V.
In die Literaturgeschichte eingegangen
ist Chartier vor allem als Verfasser der Verserzählung La belle dame sans
merci (=die gnadenlose schöne Dame), die er 1424 in Bourges verfasste,
offenbar zur Zerstreuung des Hofes von Charles VII, der zu dieser Zeit kaum
etwas tat, um seine Königsrechte durchzusetzen. Die 100 aus achtzeiligen
Achtsilbern bestehenden Strophen („huitains“) enthalten eine kleine
Rahmenhandlung um einen mit dem Autor identisch gedachten Ich-Erzähler, in die
ein langer, angeblich von ihm belauschter Dialog zwischen einem Liebenden und
seiner Dame eingebettet ist. Offensichtlich gelang Chartier mit diesen beiden Figuren
eine epochemachende Gestaltung des Typs der spröden, sich verweigernden Frau,
eben der „gnadenlosen Schönen“, sowie vor allem des schmachtenden Liebhabers,
d.h. des abgewiesenen, sich aber nicht lösen könnenden und sich in seinem
Unglück verzehrenden Liebenden, wobei dieser sich hier naiv auf die Ideale und
Regeln der höfischen Liebe beruft, während jene ihnen ironisch-distanziert
gegenübersteht. Die Belle dame sans merci war enorm erfolgreich und
wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten unendlich oft von anderen Autoren
zitiert, plagiiert, pastichiert und parodiert; noch um 1540 wurde sie von
Marguerite de Navarre in ihren Erzählungen als bekannt vorausgesetzt.
Auf die wirre politische Situation in
Frankreich reagierte Chartier einmal mehr 1426 mit dem Lai de Paix
(=Friedensgedicht), in dem er die französischen Fürsten zum Frieden und zur
Einigung aufruft.
1429 machte er sich mit einer Lettre
sur Jeanne zur Fürsprecherin von Jeanne d'Arc, der „Jungfrau von Orléans“,
die Charles VII soeben zu Hilfe gekommen war, indem sie ihn aufgerüttelt und
ihm mit Siegen über die Truppen von Henry VI. die symbolisch wichtige Krönung
in der Kathedrale von Reims ermöglicht hatte.
(Stand: Mai 07)
Antoine
de la Sale (ca.
1385 – ca. 1460
Er
figuriert in der franz. Literaturgeschichte als Autor eines der besten und
interessantesten erzählenden Texte seiner Zeit, den manche sogar als ersten
modernen Roman betrachten: Le petit Jehan de Saintré (1456).
La
Sale entstammte einer kleinadeligen Familie der Provence und verbrachte sein
Leben weitgehend im Dienst von Fürsten. So war er zunächst Page und dann
Schildknappe (écuyer) bei Herzog Louis II von Anjou († 1417) und diente diesem
um 1415 auch als Offizier. Später wurde er Gefolgsmann (als Sekretär?) von
Louis’ Sohn, Herzog Louis III († 1434), den er auf vielen Reisen begleitete.
1429/30 bekleidete er einen höheren Militär- und Verwaltungsposten in Arles.
Um
1435 wurde er zum Erzieher von Jean de Calabre, des ältesten Sohnes von Herzog (ab
1434) René I von Anjou ernannt. Für seinen fürstlichen Zögling begann er
allerlei erbauliche, lehrreiche und/oder unterhaltsame Geschichten zu
schreiben, die er 1441 unter dem witzigen Titel La Salade zusammenfasste.
1438
begleitete er Herzog René nach Neapel, wo jener die ihm angetragene Königskrone
in Besitz nahm.
1448
verließ La Sale den Dienst der Anjous und wechselte in den eines burgundischen
Granden, Louis de Luxembourg, Graf von Saint-Pol, von dem er zum Erzieher
seiner Söhne bestellt wurde. Auch für diese schrieb er didaktisch intendierte
erzählende Texte, die er 1451 als La Sale betitelt zusammenfasste. Über
seinen Dienstherrn Louis kam er in Kontakt mit dem prächtigen Hof des reichen
und mächtigen Herzogs Philippe le Bon (Philipp der Gute) von Burgund.
1456
stellte er im abgeklärten Alter um die 70 sein Hauptwerk fertig, den nicht
allzu langen historischen Roman Le petit Jehan de Saintré. Die Handlung
spielt Mitte des 14. Jh. und schildert relativ realistisch (im Vergleich zu den
oft märchenhaften konventionellen Ritterromanen der Zeit) und mit einer
deutlichen ironischen Distanz des Erzählers den Werdegang eines zunächst eher
armen jungen Adeligen, der zum angesehenen Ritter aufsteigt: Jehan kommt mit 13
als Knappe an den königlichen Hof und gefällt hier einer reichen jungen Witwe,
die ihn protegiert, managt und sponsort. Nachdem er zum Ritter geschlagen ist
und sich in Turnieren sowohl am franz. als auch an fremden Höfen bewährt hat,
wird er von ihr schließlich auch in die Künste der Liebe eingeführt. Als er aus
eigenem Entschluss zu einer längeren Fahrt an den fernen kaiserlichen Hof
aufbricht, zieht sich die Dame gekränkt auf ihre Güter zurück, wo sie aber bald
der Liebeswerbung eines reichen und stattlichen bürgerlichen Priesters erliegt.
Auf diesen stößt Jehan bei seiner Rückkehr und wird von ihm zweimal schmählich
im Ringkampf besiegt. Unvorsichtigerweise lässt der Gegner sich auch auf einen
Kampf mit ritterlichen Waffen ein, wo Jehan ihn seinerseits besiegen und
demütigen kann. Danach rächt er sich an der Dame, indem er am Hof ihr wenig
standesgemäßes Verhältnis mit dem bürgerlichen Priester bekannt macht. Dieser
allerdings setzt, von seinen Wunden rasch genesen, sein Verhältnis mit der Dame
fort.
Der
heute als ein Juwel der Gattung geschätzte Roman erfuhr offenbar erst gegen
Ende des 15. und Anfang des 16. Jh. eine gewisse Verbreitung in gedruckten
Ausgaben, die vermutlich von einem überwiegend bürgerlichen Publikum gelesen
wurden.
Die
letzten Lebensjahre verbrachte La Sale in Châtelet-sur-Oise. Hier verfasste er
1457/58 für eine Dame, die ihren Sohn verloren hatte, das Trostbuch Le
Reconfort [=Trost] de Madame de Fresne. 1459 stellte er ein weiteres
didaktisches Werk fertig: Des anciens tournois et faicts d'armes, eine
Art Lehrbuch der Wappenkunde und des höfischen Zeremoniells.
Die
Satire Les quinze joyes du mariage und die Novellensammlung Cent
nouvelles nouvelles, die ihm mitunter zugeschrieben wurden, sind
höchstwahrscheinlich nicht von ihm.
(Stand: Mai 07)
Charles d'Orléans (*24.11.1394 in
Paris; †5.1.1465 in Amboise)
Er wird heute gern (dank zwei oder drei
Gedichten, die in diese Kategorie fallen und in Lesebüchern figurieren) als der
erste franz. Verfasser von Naturlyrik gesehen. Zutreffender ist es jedoch, ihn
mit seinen beiden allegorischen Traumgedichten und seinen zahlreichen Balladen,
Chansons und Rondeaus als einen Vollender der mittelalterlichen Kunstform der
höfischen Lyrik zu betrachten. Er war zudem einer der fruchtbarsten Lyriker
seiner Zeit.
Charles war ältester Sohn des jüngeren
Bruders von König Charles VI, Herzog Louis d’Orléans, und von Valentina
Visconti, Tochter des Herzogs Gian Galeazzo von Mailand. Dank dem hohen
Bildungsstand und dem Mäzenatentum beider Eltern kam er früh mit Literatur und
Kunst in Berührung, aufgrund der hohen Position seiner Familie allerdings
ebenso früh und meist schmerzhaft mit der Politik.
So musste er schon 1396 mit seiner
Mutter Paris und den Hof verlassen, weil sie von der Königin beschuldigt wurde,
Ursache der zunehmenden geistigen Verwirrung des jungen Königs Charles VI zu
sein. 1406 wurde er ungefragt als knapp 12-Jähriger mit seiner knapp
17-jährigen Kusine Isabelle de France verlobt (die schon Witwe des 1399
abgesetzten und 1400 ermordeten englischen Königs Richard II war). 1407 verlor
er seinen Vater, der auf offener Straße ermordet wurde im Auftrag eines
Cousins, Herzogs Jean sans Peur von Burgund, der mit ihm am Hof um die Ausübung
der Regierungsgeschäfte für den geistesgestörten König stritt. 1408 verlor er
auch seine Mutter, die, erschöpft durch ihr vergebliches Ringen um die
Bestrafung des vorerst siegreichen Herzogs Jean, einer Krankheit erlag. Kurz
darauf heiratete er, doch starb ihm noch 1409 seine junge Frau im Kindbett, so
dass er mit 15 Vollwaise, Witwer, Vater und Familienoberhaupt für seine kleine
Tochter und seine vier jüngeren Geschwister war. Zugleich – als ältester Sohn
eines ungesühnt ermordeten Mitglieds der königlichen Familie – avancierte er
unfreiwillig zum Oberhaupt einer Rächerpartei, die in seinem Namen der ehrgeizige
Graf Bernard d’Armagnac organisierte, der ihn zugleich mit seiner 11jährigen
Tochter Bonne verheiratete, einer Kusine zweiten Grades (1410). Zur selben Zeit
bewies Charles erstmals sein schriftstellerisches Talent, indem er in einem
offenen Brief die größeren Städte Frankreichs ersuchte, ihm beizustehen in
seinem Kampf um die Sühnung des Mordes.
In der Tat siegte seine Partei, die
„Armagnacs“, 1413 fürs erste und Charles hielt Einzug am Hof in Paris. Hier, wo
sich einige bekannte Lyriker, u.a. Alain Chartier (s.o.), betätigten, begann er
1414 zu dichten, und zwar Balladen an seine junge Frau Bonne, in die er sich
(nach Vollzug der Ehe?) ganz offenbar verliebt hatte. Es sind Gedichte, die die
Konventionen der höfischen Lyrik kunstvoll befolgen, aber dennoch einen
persönlichen Klang besitzen. Ebenfalls seine Verliebtheit spiegelt die gereimte
Traumerzählung La Retenue d'Amours
(=Die Vereinnahmung [in den Lehensdienst] Amors).
Wenig später, im Okt. 1415, ereilte
Charles im wieder einmal aufflammenden Hundertjährigen Krieg ein neuer
Schicksalschlag. Er geriet in der englisch-franz. Schlacht von Azincourt (nahe
Arras) in Gefangenschaft und wurde nach England gebracht, als Geisel der Könige
Henry V bzw. später Henry VI, die ihn als Faustpfand einzusetzen gedachten
gegenüber seinem Cousin, dem Dauphin und späteren (ab 1422) König Charles VII,
der jedoch nichts für ihn tat ̵
schon gar nicht, nachdem ab 1429 dank Jeanne d’Arc das Kriegsglück sich
zu Frankreichs Gunsten wendete.
In den 25 Jahren, die Charles in England
auf verschiedenen Burgen bei häufig wechselnden Gastgebern-Bewachern verlebte,
dichtete er zunächst weiter Balladen, die in oft sehr anrührender Weise
überwiegend um die Themen Liebe, Trennung, Sehnsucht und Heimweh kreisen.
Später, nachdem er seine Hoffnungen auf einen möglichen Besuch Bonnes in
England hatte aufgeben müssen und er (1432?) erneut Witwer geworden war,
verfasste er auch Chansons (zum Teil in englischer Sprache) an eine englische
Dame, in die er sich verliebt hatte.
Als diese aus seiner Umgebung entfernt
worden war und 1437 auch ein Eheprojekt mit der verwitweten Marguerite de
Savoie scheiterte, schrieb Charles frustriert eine „Traumerzählung in Klageform“ (Songe en complainte),
ein Gegenstück zur Retenue von einst.
Hierin bittet er Amor, ihn aus seinem Dienst zu entlassen, und gelobt Verzicht
auf „alles, was mit Liebe zu tun hat“.
1440 endlich wurde er, als Geisel
offenbar nutzlos geworden, gegen das enorme Lösegeld von 200.000 Goldtalern
freigelassen. Er bekam es vorgeschossen von Herzog Philippe le Bon von Burgund,
seinem Cousin zweiten Grades und Sohn des 1419 selber ermordeten Mörders seines
Vaters. Zum Dank ließ er sich von Philippe, dem daran gelegen war, ihn an sich
zu binden, mit dessen Nichte Maria von Kleve verheiraten.
Charles hatte bei seiner Heimkehr
gehofft, er könne Frieden zwischen den Kronen Englands und Frankreichs stiften,
darüberhinaus das mit England verbündete, praktisch souveräne Herzogtum Burgund
wieder an Frankreich heranführen und insgesamt eine seinem Status gemäße
Position neben seinem Cousin König Charles VII einnehmen. Doch er scheiterte er
an dem Misstrauen, das dieser ihm als vermeintlichem Parteigänger Burgunds
entgegenbrachte. Auch die 1447/48 unternommenen Versuche Charles’, seine von der
Mutter geerbten Ansprüche in Norditalien durchzusetzen, blieben mangels
Unterstützung des Königs erfolglos. Er zog sich enttäuscht fast völlig auf sein
Schloss in Blois zurück.
Hier verarbeitete er seine wechselnden,
häufig melancholischen Stimmungen und Gedanken in zahlreichen Balladen und,
mehr und mehr, in Rondeaus, die wie Seiten eines poetischen Tagebuchs und damit
sehr authentisch wirken, aber virtuos alle Möglichkeiten der Gattung
ausschöpfen. Zugleich versuchte er nicht ohne Erfolg, seinen Hof zu einem
literarischen Zentrum zu machen, indem er Dichter aus ganz Frankreich zu
kürzeren und längeren Besuchen bei sich aufnahm, darunter François Villon
(s.u.). Auch seine Höflinge und Freunde sowie seine Gattin Marie hielt er zum
Versemachen an.
Schon
um 1445 hatte er seine bis dahin verfassten Gedichte und Dichtungen von einem
Kalligraphen in ein Sammelmanuskript kopieren lassen. In dieses (das erhalten
ist) ließ er anschließend auch seine jeweils neuen Balladen und Rondeaus sowie
die Gedichte von Gästen und Höflingen eintragen oder tat es gelegentlich selbst
bzw. ließ es die betreffenden Autoren tun. Viele dieser jüngeren Texte sind
Repliken auf den oder die jeweils vorangehenden eigenen oder fremden Texte,
bilden also Paare oder Gruppen, die thematisch und häufig auch situativ
zusammenhängen. Bekannt ist die Ende 1457 entstandene Gruppe von elf Balladen
zum Thema „Durst an der Quelle“, die offenbar Ergebnis eines Wettdichtens war,
an dem sich auch Villon beteiligte (der kurz danach
in Unfrieden gegangen zu sein scheint).
1457,
59 und 62 wurde Charles noch Vater, nachdem er sein Verzichtgelöbnis von 1437,
das er während der ersten 16 Jahre seiner Ehe offenbar einhielt, endlich doch
gebrochen hatte. Er erkrankte und starb Anfang 1465 auf der winterlichen Heimreise
von einem Fürstentreffen in Tours, wo er vom neuen König Louis XI öffentlich
gedemütigt worden war. Schon einige Jahre zuvor hatte er (anscheinend bald nach
dem Zerwürfnis mit Villon) der Dichtkunst den Abschied erklärt.
Sein Sohn Herzog Louis d’Orléans
(1462-1515) übernahm 1498 die Königskrone von seinem erbenlos verstorbenen
Neffen zweiten Grades Charles VIII.
(Stand: Jan.
09)
Arnoul Gréban (ca. 1420 – ca.
1470).
Er ist vor allem bekannt als Autor des gegen 1450
entstandenen Passionsspiels Le Mystère de
la Passion. Das monumentale Werk, in dem nicht nur die eigentliche Passion
dargestellt wird, sondern das ganze Leben Christi samt den der Geburt
vorangehenden und der Kreuzigung folgenden Episoden, ist ein Höhepunkt des
mittelalterlichen Passionsspiels. Es umfasst an die 35.000 Verse, enthält 393
verschiedene Rollen und erforderte 4 Tage Spielzeit. Aufführungsort war Paris,
wo Gréban als Organist von Notre-Dame tätig war und wo seit 1436, d.h. der
Vertreibung der englischen Truppen aus der Stadt, nach jahrzehntelangem
Bürgerkrieg und Krieg, endlich wieder Frieden herrschte.
Auch andere franz. Städte, z.B. Arras, hatten damals ihre
Mysterien- und Passionsspiele, von denen viele sich am Vorbild Grébans
orientierten.
François Villon (1431 – ca. 1463).
Der eigentliche Familienname
(Montcorbier? Monterbier? Des Loges?) dieses wohl jedem Franzosen und auch
vielen Deutschen bekannten Dichters steht nicht fest.
Laut eigener Aussage in kleinsten
Verhältnissen in Paris geboren, muss François, nach frühem Tod seines Vaters,
in die Obhut des Pariser Stiftsherrn und Kirchenrechtsdozenten Guillaume de
Villon gelangt sein, dessen Namen er spätestens ab 1455 benutzte und den er
1461 halb ironisch, halb liebevoll als seinen "plus que père" (mehr
als ein Vater) bezeichnete. Offenbar dank der Fürsorge Guillaumes erhielt er
eine gute Bildung und brachte es bis zum Magister an der propädeutische Studien
vermittelnden Pariser Artistenfakultät.
Statt jedoch sein anschließend
begonnenes Fachstudium, wohl der Theologie, zu Ende zu führen, glitt er,
vermutlich während des langen Vorlesungsstreiks der Pariser Professoren
1453/54, ab ins Kriminellenmilieu. Nach einer Messerstecherei mit tödlichem
Ausgang für seinen Gegner, einen ebenfalls messerbewaffneten Priester, verließ
er im Juni 1455 Paris, konnte aber Anfang 56 dank zweier (erhaltener)
königlicher Freibriefe zurückkehren.
Ende 1456 beteiligte er sich an einem
(in erhaltenen Dokumenten beschriebenen) Einbruch mit stattlicher Beute und
verschwand kurz darauf von neuem aus der Stadt. Hierbei hinterließ er den
Kumpanen im Milieu sein erstes längeres Werk: Le Lais (=das Legat) oder Le
petit testament.
Ende 1457 saß er offenbar zum Tode
verurteilt in einem Kerker von Herzog Charles d'Orléans (s.o.), wurde aber von
ihm amnestiert und sogar für kurze Zeit – denn
Charles selbst war Lyriker – an seinen Hof in Blois aufgenommen, wo er
einige Gedichte verfasste, ehe er offenbar in Ungnade fiel und gehen musste.
1458–60 führte er wohl ein unstetes
Wander- und Gaunerleben, 1461 finden wir ihn wieder im Kerker, diesmal dem des
Bischofs von Orléans in Meung-sur-Loire, aus dem ihn Anfang Oktober ein
Gnadenakt des durchreisenden Königs Louis XI befreite.
Zurück in Paris oder Umgebung,
versuchte er sich zu resozialisieren, scheiterte aber und schrieb sein
Hauptwerk, Le Testament.
Im November 1462 saß er (laut
erhaltenem Dokument) wegen Diebstahls im Pariser Stadtgefängnis. Kurz nach
seiner Freilassung zogen ihn (wie ein erhaltenes Dokument beschreibt) Kumpane
in eine Schlägerei hinein, in der ein päpstlicher Notar einen Messerstich
abkriegte. Villon wurde erneut eingekerkert, offenbar gefoltert und sogar zum
Tode verurteilt, aber Anfang 1463 dank eingelegter Berufung zu zehn Jahren
Verbannung begnadigt. Hiernach verliert sich seine Spur.
Sein erhaltenes Œuvre ist schmal. Es
umfasst:
1) das Ende 1456/Anfang 57 vor
seinem Fortgehen aus Paris für das Gaunermilieu geschriebene
spöttisch-parodistische Vermächtnis Le
Lais (320 Verse);
2) das im Herbst 1461 in oder bei
Paris wohl für potentielle Gönner begonnene, dann aber ebenfalls vor allem fürs
Milieu verfasste, halb elegische, halb satirische, rd. 20 eingestreute Gedichte
(meistens Balladen) enthaltende Pseudo-Testament Le Testament (2023 Verse);
3) sechzehn zwischen 1455 und 1463
entstandene Gedichte (meist Balladen), von denen einige, sehr kunstvolle, an
Herzog Charles d'Orléans gerichtet sind und z.T. an dessen Hof in Blois
verfasst wurden;
4) elf schwer verständliche
Balladen im Gaunerjargon, die Villon wohl 1462 in der Rolle eines Gauners für das
Pariser Gaunermilieu, und speziell die Maffia der "Muschelbrüder",
gedichtet hat.
Vor allem das Testament (das ab 1489 zusammen mit dem Lais und einigen anderen Texten Villons auch gedruckt vorlag) war
ein beachtlicher Bucherfolg im Paris des späten 15. Jh., zweifellos aufgrund
Villons witziger und bissiger Hiebe auf viele, explizit namentlich genannte
Pariser Honoratioren, die mit satirischen Legaten bedacht werden, welche ihre
tatsächlichen und angeblichen Schwächen und Laster aufdecken.
Formal sind die Texte Villons in der
Regel eher schlicht und konventionell, auch wenn er, wie die kunstvollen für
und bei Charles d’Orléans verfassten Ballade zeigen, ein beachtlicher
Reimkünstler ist. Seine Genialität zeigt er vor allem in der ungewöhnlichen
Prägnanz, Lebendigkeit und Ausdruckskraft der Bilder und der Sprache. Da seine
Texte fast allesamt prekäre Momente oder Krisenphasen einer bewegten Existenz
verarbeiten und den Eindruck einer starken persönlichen Betroffenheit des
Autors vermitteln, sprechen sie auch heutige Leser noch an. Villon wird deshalb
oft als erster moderner Lyriker betrachtet.
Dank einiger Plagiate Bert Brechts aus
der ersten deutschen Villon-Übertragung K. L. Ammers von 1907 und vor allem
aufgrund der sehr freien, aber farbigen Villon-Nachdichtungen des
expressionistischen Lyrikers Paul Zech (1931 und 1962) ist sein Name heute auch
im deutschen Sprachraum gut bekannt.
P.S.: Vgl. auch meine sehr viel
ausführlichere Webseite François Villon,
Leben und Werk (http://www.pinkernell.de/villon/Villond.htm)
sowie meine Bücher François Villons LAIS.
Versuch einer Gesamtdeutung
(Heidelberg 1979), François Villon et
Charles d'Orléans (Heidelberg 1992) und François
Villon: Biographie critique et autres études (Heidelberg 2002). Vgl.
darüberhinaus im Anhang dieses Repertoriums meine Studie zu Paul Zechs Lasterhaften
Balladen und Liedern des F. V.
Raoul Lefèvre († ca. 1465).
Dieser kaum mehr bekannte Autor (von dem
wir nichts weiter wissen, als dass er aus dem äußersten Norden des franz.
Sprachgebietes stammte, Kleriker war und um 1460 mit dem Hof der
Burgunder-Herzöge in Verbindung stand) ist interessant als Verfasser von L'Histoire de Jason (ca. 1460).
Es ist ein heute kurios und hybrid
wirkender, für die Zeitgenossen offensichtlich aber kaum befremdlicher Roman um
den antiken griechischen Sagenhelden Jason, der einst im fernen Kolchis mit
Hilfe Medeas das Goldene Vlies erkämpft hatte, seine Helferin dann geheiratet,
später aber für eine andere Frau verlassen hatte.
Das Herzog Philippe de Bourgogne
(=Philipp der Gute, 1419–1467) gewidmete Werk, das ganz im Stil der
zeitgenössischen Ritterromane geschrieben ist und den mythologischen Stoff mit
vielen selbsterfundenen Episoden anreichert, hatte offensichtlich die Funktion,
Jasons Untreue zu relativieren und zu entschuldigen. Das wiederum sollte die
Ehre dieses Schutzpatrons des Ordens vom Goldenen Vlies retten, den Herzog
Philippe 1429 gegründet hatte, um darin den Adel seiner sehr heterogenen
Territorien zu vereinigen, zu denen außer der Bourgogne und der Franche Comté
auch Teile der Picardie, Flandern sowie das jetzige Belgien, Holland und
Luxemburg gehörten.
Kurze Zeit nach dem Jason verfasste Lefèvre ein weiteres
romanartiges Werk mit mythologischem Stoff, den unvollendeten Recueil des histoires de Troie, den er
ebenfalls Herzog Philippe widmete. Dessen prächtiger und
unterhaltungsbedürftiger, überwiegend frankophoner Brüsseler Hof war um 1450
ein bedeutendes, wenn nicht das bedeutendste Zentrum der franz.sprachigen
Literatur.
Lefèvres Jason war übrigens durchaus erfolgreich: er ist nicht nur in
mehreren Handschriften überliefert (darunter dem Widmungsexemplar, das offenbar
vom Autor selbst geschrieben wurde), sondern erlebte zwischen 1476 und 1530
sieben Druckauflagen. Eine von William Caxton, dem ersten englischen
Buchdrucker, verfasste Übersetzung des Jason
war 1477 das erste auf englischem Boden gedruckte Buch.
Vgl. hierzu: Gert Pinkernell (Hrsg.), Raoul Lefèvres Histoire de Jason. Ein Roman aus dem 15. Jh. (Frankfurt 1971)
Les cent nouvelles
nouvelles (ca. 1462). Diese anonyme Novellensammlung in der
Tradition von Giovanni Boccaccios berühmtem Novellenbuch Il Decamerone (das um 1440 von Laurent de Premierfait ins Franz.
übersetzt worden war) ist das erste eigenständige Unternehmen dieser Art in der
franz. Literatur und wurde verfasst für den meist in Brüssel residierenden Hof
der Burgunder-Herzöge Philippe le Bon (bzw. Philipp der Gute, † 1467) und
seines Nachfolgers Charles le Téméraire (bzw. Karl der Kühne, † 1477).
P.S.: Der Brüsseler Hof büßte übrigens nach dem frühen Tod von
Herzog Charles seine Rolle als Zentrum der französischsprachigen Literatur
ziemlich bald ein, da nach der Heirat von Charles' Tochter Marie de Bourgogne
mit Maximilian von Habsburg die eigentliche Bourgogne an Frankreich zurückfiel
und die anderen, überwiegend niederländischsprachigen Territorien des
burgundischen Herrschaftsgebietes sich mehr nach Deutschland hin orientierten
(wobei Brüssel auch weiterhin deren Macht- und Verwaltungszentrum blieb).
La Farce de Maître Pierre Pathelin
(ca. 1465,
anonym, mitunter fälschlich François Villon zugeschrieben).
Das kleine Theaterstück ist ein erstes
Meisterwerk der Gattung Farce, d.h. einer überwiegend von der Situationskomik
lebenden Kurzkomödie. Es behandelt witzig und mit allen Raffinessen der
Situationskomik das vielgestaltige Motiv vom betrogenen Betrüger in einer
Vier-Personen-Konstellation aus einem dümmlichen Tuchhändler, dem gerissenen
Winkeladvokaten Pathelin, seiner pfiffigen Frau und einem scheinbar naiven,
bauernschlauen Hirten, der sie schließlich alle in die Tasche steckt.
Die Gattung Farce à la Pathelin wird in der Folgezeit sehr gute
Konjunktur haben; ihre Techniken und Gags werden noch von Molière in seinen
Stücken benutzt. Der Name Pathelin ist übrigens als Adjektiv (patelin,e = geheuchelt naiv-nett) ins
franz. Lexikon eingegangen.
1470–1480
Blütezeit der
Dichterschule der sog. Rhétoriqueurs am
burgundischen Hof in Brüssel. Die Rhétoriqueurs sind eine der ersten für die
spätere franz. Literatur so typischen Dichtergruppen (die sich dann jedoch in
aller Regel in Paris konstituieren werden). Gemäß ihrer Funktion als Hofdichter
und ihrer Betonung des technischen, quasi kunsthandwerklichen Aspekts des
Dichtens verfassen sie meist pompöse, manieristisch ausgefeilte Gedichte zu
festlichen und sonstigen Anlässen. Die wichtigsten Namen sind Georges Chastellain (ca. 1410–1475) und
Jean Molinet (1435–1507). Beide sind
auch als Verfasser von umfangreichen Chroniken ihrer Zeit bekannt, Chroniken,
die im Sinne ihrer „burgundischen“ Auftraggeber Herzog Philippe le Bon, Herzog
Charles le Téméraire und dessen Tochter Marie de Bourgogne eine antifranzösische
Tendenz haben; d.h. sie attackieren vor allem den 1461–1483 herrschenden König
Louis XI, der es auf eine Zerstörung und weitgehende Annexion des burgundischen
Herrschaftsgebietes abgesehen hatte.
P.S.: Dieses bildete um 1470 einen de
facto selbständigen Staat, dessen Territorien de jure aber etwa je zur Hälfte
auf dem Boden des Königreichs Frankreich und dem des deutschem Reiches lagen.
Louis XI hatte übrigens nach dem Tod von Charles le Téméraire 1477 versucht,
dessen Erbin Marie mit seinem kleinen Sohn, dem späteren Charles VIII, zu
verheiraten, war aber von Maximilian von Habsburg, dem späteren Kaiser,
ausgestochen worden. Für das Haus Habsburg war diese Heirat, d.h. die mit ihr
verbundene territoriale Mitgift, einer jener Fischzüge – später folgten noch
andere, z.B. Spanien, Böhmen und Ungarn – die den Spruch entstehen ließen
„Bella gerant alii, tu felix Austria nube!“ – „Andere mögen Kriege führen, du
glückliches Österreich [=Habsburg] heirate!“
Philippe
de Commynes (1447;
†18.10.1511 auf Schloss Argenton).
Er
gilt als einer der Vorläufer der modernen Geschichtsschreibung und als
Verfasser der ersten franz. Memoiren im modernen Sinne mit seinem Werk Les
memoires sur les principaux faicts et gestes de Louis onzieme et de Charles
huitieme, son filz, roys de France.
Er
wurde geboren in der Grafschaft Flandern, die zum damaligen Herzogtum Burgund
gehörte, einem quasi selbständigen Territorium zwischen Frankreich und dem
Deutschen Reich. Er stammte aus einer Familie von Amtsträgern im Dienst der
Herzöge und kam selber schon als Jugendlicher an den herzoglichen Hof in
Brüssel, wo er als Knappe dem angehenden Herzog Karl dem Kühnen zugeordnet
wurde (frz. Charles le Téméraire, 1433-77, Herzog ab 1467). Trotz seiner Jugend entwickelte er
ein enges Vertrauensverhältnis zu seinem Fürsten. So soll er ihn 1468
erfolgreich davon abgehalten haben, dem französischen König Louis XI nach dem
Leben zu trachten, als jener in Péronne in burgundische Gefangenschaft geraten
war.
1472
verließ Commynes Herzog Karl überraschend und wechselte in den Dienst von
dessen Erzfeind König Louis, was für damalige Verhältnisse ein ungeheuerlicher
Treuebruch war. Dank seiner intimen Kenntnis der Person und der Pläne Karls
konnte er den verschlagenen und politisch geschickten Louis beraten bei seinen
militärischen und diplomatischen Aktionen gegen Burgund, die nicht unbeteiligt
waren an Karls Niederlage und Tod 1477.
Zugleich
entwickelte er sich dank der Kontakte, die er am franz. Hof zu den Botschaftern
der diversen italienischen Staaten pflegte, zu einem Kenner der dortigen
Verhältnisse. 1478 reiste er seinerseits als Botschafter nach Turin, Mailand
und Florenz.
Zum
Lohn für seine Dienste erhielt er von Louis größere Besitzungen übereignet, so
dass er in den höheren Adel einheiraten konnte.
Nach
dem Tod seines Gönners Louis (1483) fand Commynes keinen angemessenen Platz
unter dem neuen jungen König Charles VIII bzw. seiner zunächst die Regentschaft
führenden älteren Schwester Anne de Beaujeu. Er bekam große Teile seines
Besitzes wieder abgenommen und beteiligte sich 1488 an den Intrigen und
bewaffneten Kämpfen des französischen Hochadels gegen die Regentin. Hierbei
wurde er vorübergehend gefangen gesetzt und vom Hof verbannt. In dieser
Situation begann er 1489 mit der Abfassung jenes Teiles seiner Erinnerungen,
der seine Zeit bei Herzog Karl und bei König Louis beschreibt, die er als
Fürsten darstellt, die es verdienen, dass man sich von ihnen ab- bzw. ihnen
zuwendet, weshalb er z.B. an passender Stelle auch andere Überläufer anführt
und ihre Motive analysiert.
1492
erhielt er wieder Zutritt zum Hof. Als Charles VIII 1494 einen Feldzug nach
Italien unternahm, um längst obsolet geglaubte franz. Ansprüche auf die Krone
des Königreichs Neapel geltend zu machen, wurde Commynes als Botschafter nach
Venedig geschickt, um den mächtigen Stadtstaat zu bewegen, neutral zu bleiben
zwischen Frankreich und der rasch entstandenen gegnerischen „Heiligen Liga“ aus
dem Haus Habsburg, dem Haus Aragón und dem Papst (als Herrscher des
mittelitalienischen Kirchenstaates und territorialer Nachbar Neapels). Seine
Mission blieb jedoch erfolglos. Die Franzosen mussten Neapel vorerst wieder
räumen.
Zurück aus Venedig, griff Commynes wieder zur Feder und verfasste von Ende 1495 bis Ende 98 den zweiten Teil (Buch VII und VIII) der Memoiren, worin er seine Zeit unter Charles VIII schildert, insbes. die Vorbereitung und Durchführung des Italienfeldzuges sowie seine Tätigkeit als Diplomat. Ein zentrales Motiv scheint hierbei sein Bedürfnis, seinen Misserfolg in Venedig zu erklären, so wie er vorher nicht zuletzt seine Untreue gegenüber Herzog Karl zu rechtfertigen versucht hatte. Ein großes Interesse Commynes’ gilt aber auch den Existenzbedingungen und Motivationen der Fürsten, die er kennen gelernt hatte, bzw. allgemein der Psychologie der Herrscher.
Die
Erinnerungen kamen erst 1524/25, also postum, heraus. Sie wurden
jahrhundertelang immer wieder nachgedruckt und als eine Art Lehrbuch für
Politik und (Geheim-)Diplomatie gelesen.
(Stand: Sept. 10)
16.
Jahrhundert (Renaissance)
Jean
Lemaire de Belges (*
ca. 1473 im Hennegau/Hainaut im heutigen Belgien; † nach 1515).
Lemaire wurde erzogen von seinem Onkel,
dem bekannten Chronisten und Rhétoriqueur Jean Molinet. Nach Studien in Paris
bekleidete er Ämter bei verschiedenen Fürsten, insbesondere der Regentin der
Niederlande, Margarete von Habsburg1), und der französischen Königin
Anne de Bretagne2). 1506 und 1508 reiste er in Italien und kam dort
mit der voll erblühten italienischen Renaissance-Kultur in Berührung.
Er begann als Lyriker im Stil der sog.
Rhétoriqueurs, d.h. Verfasser meist pompöser Gedichte für ein höfisches
Publikum, und führte 1504 die italienische Form der Terzine in die
franz.sprachige Lyrik ein. 1505 verfasste er die heiter-melancholischen Lettres
de l'amant vert (dt. Briefe des grünen Liebhabers), fiktive Briefe des
realen grünen Papageis von Margarete, der angeblich wegen einer langen
Abwesenheit seines Frauchens vor Gram stirbt und dann von seinen Erlebnissen
aus dem Jenseits berichtet.
Lemaires Name ist vor allem aber
verbunden mit dem zu seiner Zeit vielgelesenen Werk Les illustrations de
Gaule et singularités de Troye (1511–13; dt. etwa: Die Ruhmesblätter
Galliens und die Einzigartigkeiten Trojas). Es ist eine Nacherzählung der sich
um Troja rankenden Geschichten (Buch I und II), gefolgt von einer Genealogie
der Gründer Galliens und des Frankenreichs bis hin zu Karl dem Großen (Buch
III). Lemaire verknüpft Trojaner und Franken über die Figur des Francus, eines
(bei Homer nicht erwähnten) angeblichen Sohnes von Hektor, der sich zusammen
mit dem späteren Rom-Gründer Äneas aus dem von den Griechen eroberten Troja
gerettet habe, um seinerseits das alte Gallien zu gründen, dessen Fortführung
wiederum das frühmittelalterliche Francia, das Frankenreich, gewesen sei.
Die Illustrations stützen sich
auf viele im heutigen Sinne pseudoantike und pseudohistorische Quellen (z.B.
eine zeitgenössische lateinische Ilias-Bearbeitung). Sie sind motiviert vom
Wunschtraum des Autors, das alte Frankenreich, also Frankreich, Deutschland und
die Niederlande (d.h. etwa die jetzigen Benelux-Staaten) wieder zu vereinen,
und sei es zunächst nur zum Zweck eines gemeinsamen Kreuzzugs gegen die Türken,
die 1453 das christliche Byzanz (heute Istanbul) erobert hatten.
Lemaire begann die Illustrations 1505
als Sekretär Margaretes in den Niederlanden und stellte sie fertig als Sekretär
und Chronist der französischen Königin Anne. Er selber bildete also
gewissermaßen eine Klammer zwischen dem Ost- und dem Westteil des alten
Frankenreichs (das sich unter Karl dem Großen um 800 von Lübeck bis Barcelona
und von Brest bis Rom erstreckt hatte).
Um 1550 wurden die Illustrations
eine wesentliche Inspirationsquelle für Pierre de Ronsard (s.u.), der mit
seinem (unvollendeten) Versepos La Franciade den Franzosen ein
nationales Epos zu geben versuchte.
1509 und 1511 unterstützte Lemaire
literarisch-propagandistisch Annes Gatten, König Louis XII, und versuchte
dessen Eroberungskrieg in Norditalien zu rechtfertigen sowie seine Bestrebungen
schönzureden, eine von Rom (denn der Papst zählte zu seinen Kriegsgegnern)
relativ unabhängige franz. Kirche zu schaffen, etwa im Sinne des späteren
Gallikanismus.
1) Margarete von Habsburg (1480–1530)
war Tochter Maximilians von Habsburg und der Herzogin Maria von Burgund. Sie
wurde mit außenpolitischen Intentionen schon als Kind verheiratet mit dem
jungen franz. König Charles VIII und kam so an den franz. Hof. Als Charles 1491
aus politischen Gründen die noch nicht vollzogene Ehe mit ihr vom Papst
auflösen ließ und die Erb-Herzogin Anne de Bretagne (s.u.) heiratete, wurde
Margarete zu ihren Eltern zurückgeschickt. 1495 wurde sie mit dem spanischen
Thronerben Juan vermählt, der aber zwei Jahre später starb. 1501 heiratete sie
Herzog Philibert von Savoyen und wurde bald darauf erneut Witwe. Als 1506 ihr
älterer Bruder Philipp der Schöne starb, der 1496 mit Johanna der Wahnsinnigen
vermählt worden war, die als spanische Thronerbin nachgerückt war, wurde
Margarete Vormund von Philipps Kindern, insbes. ihres Neffen Karl (der 1516
König von Spanien und 1519 deutscher Kaiser wurde). Zugleich wurde sie Regentin
der Niederlande, wo sie bis zu ihrem Tod mit Geschick und Energie amtierte und
sich als Mäzenin betätigte.
2) Anne de Bretagne (1476-1514) war
einziges Kind und damit Erbin von Herzog François de Bretagne. 1490 wurde sie
mit dem verwitweten deutschen König und späteren Kaiser Maximilian verlobt,
dann aber 1491 handstreichartig mit dem franz. König Charles VIII verheiratet,
wodurch die quasi selbständige Bretagne zum integrierenden Bestandteil
Frankreichs wurde. Mit Charles hatte sie mehrere Kinder, von denen aber keines
überlebte. Als Charles 1498 starb, heiratete Anne seinen Cousin zweiten Grades
und Nachfolger, König Louis XII, mit dem sie zwei Töchter bekam: Claude, die mit
ihrem entfernten Cousin und präsumptiven Thronfolger François d’Angoulême
(später König François Ier) verheiratet wurde, und Renée, die
Herzogin von Ferrara wurde (und dort in den 1530/40er Jahren protestantischen
Intellektuellen Unterschlupf bot).
3) Louis XII (1462-1515, König ab 1498)
hatte von seinem Vater Charles d'Orléans († 1464) Ansprüche auf das Herzogtum
Mailand geerbt, das er 1499 überfiel und besetzte. 1504 versuchte er auch das
Königreich Neapel zu erobern (das schon sein Vorgänger Charles VIII beansprucht
und 1494 zu erobern versucht hatte). Hierauf reagierten 1511 der Papst (als
Oberhaupt des Kirchenstaates) und die Republik Venedig, aber auch Österreich,
Spanien und England mit dem Bündnis der „Heiligen Liga“, das die Franzosen aus
Italien vertrieb (bis Louis’ Schwiegersohn und Nachfolger François Ier
1515 die franz. Expansionspolitik sogleich, aber letztlich ebenfalls erfolglos,
wieder aufnahm).
Pierre Gringore (ca. 1475 – ca.
1538).
Sein Name ist bzw. war im 19./20. Jh.
vielen Franzosen dadurch bekannt, dass Victor Hugo ihn als
"Gringoire" in seinem vielgelesenen historischen Roman Notre-Dame de Paris (1831) auftreten
lässt, und zwar als Typ des inmitten des Pariser Volkes lebenden Dichters und
Intellektuellen.
Gringores bekanntestes Werk ist das
vielleicht erste politisch intendierte Stück der franz. Literatur: Le Jeu du prince des sots et de mère sotte (1512, 1831 von einem
anderen Romantiker, Gérard de Nerval, bearbeitet). Le Jeu ist ein Fastnachtsspiel und zugleich eine
pro-französische Satire gegen Papst Julius II, der im Stück in der lächerlichen
Rolle der "mère sotte" auftritt, weil er zum Ärger der Franzosen
gerade erfolgreich das Militärbündnis der "Heiligen Liga" gegen Louis
XII und dessen Expansionsversuche in Nord- und Süditalien zusammengebracht
hatte. Gringore ist aber auch Lyriker, u.a. als Verfasser vieler
politisch-satirischer Gedichte. Er war zudem viele Jahre als Texter und
Organisator von Passionsspielen, vor allem aber der jährlichen Fastnachtsspiele
der Pariser Vereinigung der "enfants sans souci" tätig.
Jacques Lefèvre d’Étaples (*ca. 1450 oder
1455 in Étaples/Picardie; † 1536 in Nérac).
Er war einer
der ersten franz.
Humanisten. Sein Name verbindet sich jedoch vor allem mit der ersten
vollständigen franz. Übersetzung der
Bibel (1523–30).
Nach Theologiestudiem und der
Priesterweihe in Paris wurde Lefèvre Dozent für Philosophie an einem Kolleg der
Sorbonne. Daneben begann er bei einem der neu aus Italien nach Paris gekommenen
Gräzisten Altgriechisch zu lernen. Vielleicht schon vor 1486, auf jeden Fall
aber 1491 und 1499 unternahm er Bildungsreisen nach Padua und Pavia als Zentren
der in Italien schon voll erblühten humanistischen Gelehrsamkeit. Zurück in
Paris wurde er auch selber als humanistischer Gelehrter aktiv insbes. mit
textkritischen Editionen zentraler Schriften des griechischen Philosophen
Aristoteles, die er zudem, unter Abkehr von den erstarrten scholastischen
mittelalterlichen Deutungstraditionen, neu kommentierte. Spätestens 1505 wurde er
Mittelpunkt eines kleinen Kreises humanistisch interessierter Adeliger,
Theologen und Juristen, darunter Guillaume Budé, der 1530 mit Unterstützung von
König François
Ier
das Collège des trois langues gründete, die erste an den Universitäten
vorbei eingerichtete Hochschule Frankreichs.
Ein
anderer Getreuer war Guillaume Briçonnet (1470-1534), Bischof von Lodève in
Südfrankreich, der sich meistens aber in Paris aufhielt, um am Hof präsent zu
sein. Als Briçonnet 1507 auch die Pfründe des Abtes der Benediktinerabtei
Saint-Germain-des-Prés vor den Toren der Stadt erhielt, ließ sich Lefèvre dort
nieder und half ihm bei der Einführung eines strenger am Evangelium
orientierten Ordenslebens. Zugleich erarbeitete und publizierte er
textkritische und kommentierte Editionen von Teilen der Bibel: 1509 die
Psalmen, bei denen ihm klar wurde, dass die mittelalterliche Deutung des Alten
Testaments auf vier verschiedenen Sinnebenen artifiziell und deshalb unhaltbar
war; 1512 die Paulus-Briefe, an denen ihm bewusst wurde, dass viele Dogmen und
Regeln der Kirche nicht der Bibel entsprachen und dass für das Seelenheil des
Menschen der Glaube wichtiger sei als gute Werke.
1521 wurde Briçonnet, der die Gunst von
François
Ier besaß und Beichtvater von dessen
Schwester Marguerite d’Alençon war, zum Bischof von Meaux befördert. Als er konsequent
vor Ort zu residieren und sein Bistum im Sinne der aus Deutschland
herüberstrahlenden Ideen Luthers zu evangelisieren beschloss, folgte ihm
Lefèvre. Er wurde Mitglied des Kreises reformwilliger Theologen und Gelehrter
um den Bischof sowie sein Generalvikar
.
Zugleich arbeitete er an einer
Übersetzung der Bibel, zunächst des Neuen Testaments, wobei er von der quasi
offiziellen lateinischen Version, der „Vulgata“, ausging, die gegen 400 n. Chr.
Hieronymus nach den griechischen und hebräischen Texten hergestellt hatte. Mit
seiner Übersetzung verfolgte er, ganz wie der fast zeitgleich tätige Luther
(der allerdings von den griechischen Originaltexten ausging) die typisch
reformatorische Absicht, den Gläubigen die Möglichkeit zu geben, selbst die
Bibel zu lesen oder sich vorlesen zu lassen und sie ohne die Vermittlung der
katholischen Geistlichkeit und ihrer Deutungskonventionen auszulegen. Als er
1523 ohne Genehmigung (die er auch kaum erhalten hätte) sein Neues Testament
drucken ließ, wurde er von der Sorbonne, die inzwischen agressiv ihre
Deutungshoheit verteidigte, zum Ketzer erklärt.
Auch sein Gönner Briçonnet wurde
zunehmend angefeindet, u.a. weil er die Franziskaner aus seinem Bistum verbannt
und Anhänger des kürzlich exkommunizierten Luthers predigen lassen hatte. Als
ihm 1525 vorübergehend die Rückendeckung des Königs fehlte, der bei der
Schlacht von Pavia in die Gefangenschaft von Kaiser Karl V. geraten war, musste
er seinen konservativen Gegnern in der Sorbonne und dem Pariser Parlement
Konzessionen machen und sich dezidiert von Luther lossagen. Als zugleich ein
Mitglied seines Kreises verhaftet wurde, hielt es Lefèvre, zusammen mit
anderen, für geraten, aus Meaux zu verschwinden. Er flüchtete in die freie
Reichsstadt Straßburg, eine Hochburg des Humanismus und seit kurzem auch der
Reformation.
Nach der Rückkehr des Königs 1526
konnte auch er nach Frankreich zurück und wurde mit dem Posten eines
Bibliothekars der königlichen Bibliothek in Blois versorgt. 1529 folgte er der
Einladung Marguerites, die 1527 in zweiter Ehe Königin des Restkönigreiches
Navarra geworden war, und ging nach Nérac in SW-Frankreich, wo ihr Gatte und
sie einen kleinen Hof für ihre Aufenthalte dort unterhielten. Besoldet von ihr,
die ihn über Briçonnet gut kannte und die mit dem „Luthéranisme“
sympathisierte, beendete er seine Übersetzung auch des Alten Testaments und
verbrachte er seine letzten Jahre, übrigens ohne dezidiert mit der Katholischen
Kirche zu brechen.
Seine Gesamt-Bibel erschien 1530 in der
damals weltoffenen, reichen und noch pro-reformatorischen Stadt Antwerpen als La
Sainte Bible en français, translatée selon la pure et
entière traduction de Saint-Hierosme. Sie wurde sofort vom Pariser Parlement verboten.
Obwohl sie mehrfach nachgedruckt wurde,
erreichte Lefèvres Bibel im franz. Sprachraum nicht entfernt dieselbe Bedeutung
wie die luthersche im deutschen. Ein wichtiger Grund war sicher, dass der
Reformator Jean Calvin (s.u.) und mit ihm die frankophonen Protestanten die
etwas spätere (eher hölzerne) Übersetzung von Pierre Robert Olivétan und seinem
Team (1535 ff.) bevorzugten, die wie Luther von den hebräischen und
griechischen Texten ausgegangen waren.
(Stand: Jan. 11)
Marguerite
de Navarre (geb.
duchesse d’Angoulême, verw. duchesse d’Alençon, Königin von Navarra ab 1527;
* 11.4.1492 in Angoulême; † 21.12.1549 in
Odos/ Pyrenäen).
Diese hochgebildete, etwas ältere
Schwester von König François Ier
1) war siebzehnjährig mit dem Duc Charles
d’Alençon verheiratet worden und wurde, nach ihrer Verwitwung 1526,
durch ihre zweite Ehe mit Henri d’Albret Titularkönigin der Nordhälfte des 1512
zerschlagenen baskischen Königreichs Navarra. Den Zeitgenossen war sie vor
allem bekannt als eine neben und hinter ihrem königlichen Bruder aktive und
einflussreiche Frau, die z.B. zu Verhandlungen mit Kaiser Karl V. nach Madrid
reiste, als François in der verlorenen Schlacht von Pavia (1525) in dessen
Gefangenschaft geraten war. Darüber hinaus spielte sie eine bedeutsame Rolle
als Sympathisantin erst Luthers und dann eines über den konfessionellen Fronten
stehenden „Evangelismus“, in dessen Namen sie gefährdete pro-reformatorische
Intellektuelle wie z.B. den Bibel-Übersetzer Lefèvre d’Etaples (s.o.) oder den
Lyriker Clément Marot (s.u.) zu beschützen versuchte und z.T. in ihrem
südwestfranz. Residenzstädtchen Nérac beherbergte
Heute ist sie vor allem als Autorin ein
Begriff. So publizierte sie 1524 die Versmeditation Dialogue en forme de vision nocturne (= D. in Gestalt einer nächtlichen Vision) und 1531 drei
religiöse Langgedichte unter dem Titel des längsten von ihnen, Le Miroir de l'âme pécheresse (= der Spiegel der sündigen Seele).
Das Bändchen spiegelt das enorme Interesse, das die rasch von Reformatoren und
Anti-Reformatoren polarisierten gebildeten Schichten, nicht zuletzt auch der
Adel, theologischen Problemen entgegen brachten, insbes. der neuen Frage nach
dem Verhältnis des einzelnen Gläubigen zu „seinem“ Gott. Es wurde sofort von
der Sorbonne verurteilt, aber trotzdem
25 Jahre hindurch immer wieder nachgedruckt.
In die franz. Literaturgeschichte
eingegangen ist Marguerite mit L'Heptaméron
(= das Siebentagewerk),
einer Novellensammlung mit Rahmenhandlung, die wie praktisch alle
Novellensammlungen der Zeit in der Tradition von Giovanni Boccaccios Il Decamerone (= das Zehntagewerk, um
1350) steht. Das Werk entstand ab 1542 wohl per Diktat und z.T. auf Reisen,
nachdem Marguerite im offiziellen Paris, das sich prokatholisch radikalisierte,
als konfessionell unzuverlässig ins Abseits geraten war und meistens in ihrem
kleinen Königreich weilte, wo auch die Rahmenhandlung spielt. Es sollte
ursprünglich ebenfalls hundert Novellen umfassen, die in der Fiktion an zehn
Tagen von zehn Personen (fünf Damen und fünf Herren) erzählt werden sollten; es
blieb jedoch unvollendet durch den Tod Marguerites bei Nummer 72. Hauptthema
ist, wie in allen Sammlungen dieser Art, die Anziehungskraft der Geschlechter
aufeinander und die vielgestaltigen Verwicklungen, die sie zu verursachen
pflegt. Neu ist Marguerites Behauptung absoluter Wahrheitstreue des Erzählten
und neu auch ihre Idee, ihr Zehnergremium nach jeder Novelle mehr oder weniger
ausführlich über deren jeweilige Moral diskutieren zu lassen. Da diese
Diskussionen (wie im richtigen Leben!) häufig etwas konfus verlaufen und der
Leser den als richtig zu betrachtenen Standpunkt nicht immer klar erkennt oder
nicht recht nachvollziehen kann, wirkten sie schon auf jüngere Zeitgenossen,
z.B. Montaigne (s.u.), eher aufgesetzt und, im Gegensatz zu den Novellen
selbst, etwas blutlos.
Das Werk wurde postum 1559 im Auftrag
von Marguerites Tochter Jeanne d'Albret (der Mutter des späteren Königs Henri
IV) im Originaltext und mit dem etwa passenden Titel L'Heptaméron veröffentlicht. Schon im Vorjahr war unter dem Titel Histoires des amants fortunés (=
Geschichten der glücklich Liebenden) ein Raubdruck erschienen, dessen Text im
Sinne des antireformatorischen Konzils von Trient (1545-49) theologisch und
moralisch „gereinigt“, d.h. mitunter ziemlich verstümmelt worden war.
Noch zu Lebzeiten der Autorin dagegen
erschien ein Sammelband ihrer Versdichtungen (darunter auch der Âme
pécheresse) unter dem hübschen Titel: Marguerites
de la marguerite des princesses (1547). Erhalten sind darüber hinaus einige
ungedruckt und unaufgeführt gebliebene Theaterstücke sowie zahlreiche Briefe.
(Stand: Aug. 11)
1) François Ier, geb. 1494,
König 1515-1547 (Schwiegersohn und Nachfolger von Louis XII), kämpfte nach
seiner Thronbesteigung fast pausenlos mit Kaiser Karl V. um die Vorherrschaft
in Italien, wobei er 1525 in der Schlacht bei Pavia sogar in Karls
Gefangenschaft geriet, aus der ihn Marguerite als Unterhändlerin zu befreien
versuchte. Er entwickelte ein prächtiges Hofleben und gilt als
repräsentativster franz. Renaissancefürst. 1530 gründete er das Collège des Lecteurs du roi (später Collège royal de France, heute Collège de France), weil die Sorbonne
sich dem humanistischen Einfluss, z.B. dem Studium altgriechischer Texte,
verschloss, bzw. sich überhaupt allem Neuen verweigerte. Ab Ende 1534 ergriff
François immer eindeutiger Partei gegen den Protestantismus, der in Frankreich
zunächst ebenfalls Lutherischer, dann aber zunehmend Calvinscher Prägung war
und sich vor allem im Süden ausbreitete, während er im übrigen Land mehr auf
Teile des Adels und des Bürgertums beschränkt blieb. François’ zunehmend
brutale prokatholische Parteinahme erscheint im Nachhinein als schleichender
Beginn der Religionskriege (Guerres de
religion), die Frankreich von 1562 bis 1594 erschütterten und (anders als
der ähnlich motivierte und ähnlich lange Dreißigjährige Krieg in Deutschland)
mit einer weitgehenden Rekatholisierung des Landes endeten.
François
Rabelais (*1483
oder, wahrscheinlicher, 1494, auf dem Gut La Devinière bei Chinon/Touraine; †
9.4.1553 Paris).
Sein Name ist wohl fast jedem Franzosen
bekannt und hat sich sogar als Adjektiv verselbständigt in Ausdrücken wie „une
plaisanterie rabelaisienne“ (= ein deftiger Witz/Scherz). Er ist verknüpft mit Gargantua et Pantagruel, einem locker
komponierten Romanzyklus, dessen 5 Teile 1532, 1534, 1546, 1548-52 und 1562-63
erschienen, wobei der letzte postum herauskam und z.T. nicht mehr authentisch
ist. Vor allem die ersten Bände waren sehr erfolgreich; die Protagonisten, d.h.
der junge Riese Pantagruel und sein Vater Gargantua, sind noch heute ein
Begriff und haben ebenfalls Adjektive gezeugt: pantagruélique (avoir un appétit pantagruélique) und gargantuesque (un repas gargantuesque).
Rabelais war jedoch auch als Gelehrter und als Arzt aktiv. Seine sehr mobile
Existenz im Schlepptau hochstehender Gönner und auf der ständigen Suche nach
Weiterbildung, zumal im Kontakt mit anderen Gelehrten, ist typisch für die
humanistischen europäischen Intellektuellen der Zeit. Als Zeitgenosse Martin
Luthers (1483-1546) und Jean Calvins (1509-1564) war er involviert in die
heftigen religiösen Querelen der Epoche, wobei er selbst, wie so viele
Humanisten, lange mit der Reformation sympathisierte, und zwar stärker als die
offizielle franz. Literaturgeschichte dies zu sehen pflegt. Auch fand er als
Gönner mehrfach Kirchenfürsten, die offenbar ebenfalls den Anliegen der
Reformatoren relativ aufgeschlossen gegenüber standen und ihn protegierten.
Über Rabelais’ Kindheit und Jugend ist
wenig bekannt. Geboren wurde er vermutlich auf dem o.g. Landgut nahe Chinon als
jüngster von drei Söhnen eines wohlhabenden Grundbesitzers und Juristen, der
nacheinander verschiedene Ämter in Chinon bekleidete. Er erhielt, vielleicht in
der Benediktiner-Abtei von Seuilly bei Chinon, eine passable Bildung gemäß den
damals gängigen Methoden (die er später im Roman karikiert). 1510 oder
11 wurde er Novize bei den Franziskanern, wohl in La Baumette nahe Angers. Um
1520 ist er als Mönch in Fontenay-le-Comte (Vendée) bezeugt.
Hier war er inzwischen durch einen
älteren Mitbruder in Berührung gekommen mit dem von Italien her ausstrahlenden
Humanismus und hatte (Alt-)Griechisch zu lernen begonnen. Auch hatte er
Anschluss an den kleinen Zirkel gebildeter Leute gefunden, die es in Fontenay
als regionalem Verwaltungs- und Justizzentrum gab. Darüber hinaus war er
brieflich in Kontakt mit Gelehrten getreten, wie ein erhaltenes, 1521 datiertes
und offenbar schon zweites Schreiben an den bekannten Humanisten Guillaume Budé
beweist. Im Rahmen seiner griechischen Studien verfasste Rabelais gegen 1522
eine nicht erhaltene Übertragung von Buch I der Geschichte der Perserkriege des
Herodot (5. Jh. v. Chr.) ins Lateinische.
In
den 1520er Jahren wurde auch er, wie die meisten humanistisch Interessierten,
von den Reformideen Luthers erfasst. Als 1523 alle Griechischstudien von der reformfeindlichen
Pariser Theologiefakultät, der Sorbonne, als Vorstufe zur Ketzerei gebrandmarkt
wurden, bekam er seine griechischen Bücher entzogen. Durch Vermittlung des
Bischofs von Poitiers, Geoffroy d’Estissac, der zugleich Abt eines
Benediktinerklosters war, erhielt er 1524 jedoch die päpstliche Erlaubnis, in
dieses zu wechseln, und konnte so die eher bildungsfeindlichen Franziskaner mit
den traditionell bildungsfreundlichen Benediktinern vertauschen. Offenbar lebte
er aber meistens im Gefolge von Estissac in der Abtei von Ligugé bei Poitiers,
wobei er ihm als Sekretär und vielleicht auch als Hauslehrer eines Neffen
diente. Als sein Begleiter auf Reisen durch das Bistum kam er sichtlich in
Kontakt mit Menschen verschiedenster Art und Herkunft. Möglicherweise besuchte
er in diesen Jahren auch juristische Vorlesungen an der Universität Poitiers.
Wohl 1526 erschien sein erstes
gedrucktes Werk, eine lateinische Versepistel an einen befreundeten
Dichter-Juristen aus Ligugé. Von den franz. Versen, die er als junger Mann
ebenfalls schrieb, ist so gut wie nichts erhalten.
1528 findet man ihn in Paris,
vermutlich nach Zwischenstationen an den Universitäten Bordeaux, Toulouse und
Orléans. Anscheinend hatte er unter der Hand den Status eines Weltgeistlichen
angenommen, als der er freier war, seine Studien, nunmehr vor allem der
Medizin, fortzusetzen und gelehrte Kontakte zu pflegen. Aus dem Kontakt mit
einer Witwe gingen zwei uneheliche Kinder hervor, François und Junine.
Dies hielt ihn nicht in Paris, vielmehr
schrieb er sich im September 1530 an der
berühmten medizinischen Fakultät in Montpellier ein, wo er schon im
November Baccalaureus wurde. Die Medizin war damals ein fast reines Buchstudium
mit den Schriften von Hippokrates und/oder Galenus als Quasi-Bibeln. Der
Humanist Rabelais scheint sich denn auch vor allem philologisch mit der Medizin
beschäftigt zu haben, denn in einer Vorlesung kommentierte er im Frühjahr und
Sommer 1531 Texte der genannten Koryphäen, wobei er in revolutionärer Weise die
griechischen Originale zugrunde legte.
Im
Sommer 1532 findet man ihn in Lyon, wo er sich als Arzt betätigte und zugleich
bei dem Drucker und Verleger Gryphe (Greiff) diverse gelehrte Werke herausgab.
Hiervon ließ er sich jedoch nicht absorbieren, sondern verfasste auch einen Roman, der Ende 1532 in
Lyon erschien: Les horribles et
épouvantables faits et prouesses du très renommé Pantagruel, Roi des Dipsodes,
fils du grand Gargantua. Composés nouvellement par maître Alcofrybas Nasier (= die schrecklichen und Furcht erregenden
Taten und Mutbeweise des sehr berühmten P., Königs der Dipsoden, Sohnes des
großen Riesen G. Kürzlich verfasst von Magister A. N.). Das Werk war
also schon am Titel als Parodie erkennbar, und zwar vor allem der Gattung
volkstümlicher Ritterroman. In der Tat hatte Rabelais sich an ein kurz zuvor
anonym erschienenes Volksbuch angehängt: Les grandes et inestimables
croniques du grand et énorme géant Gargantua (= die großen und
unschätzbaren Chroniken des großen und enormen Riesen G.), wobei er einen Sohn
zu dem Riesen erfand. Auch der kuriose Autorname war als humoristisches
Pseudonym erkennbar (gebildet übrigens als Anagramm aus
f-r-a-n-c-o-y-s-r-a-b-e-l-a-i-s).
In Pantagruel schildert Rabelais
in der Rolle des Ich-Erzählers und Domestiken Alcofrybas die Kindheit und
Jugend, die Studienjahre sowie die erste militärische Bewährung des
Protagonisten, doch führt er zu Beginn der Studienzeit eine zweite, zunehmend
wichtige Figur in die Handlung ein, nämlich den ewigen Studenten und
Tausendsassa Panurge, mit dem er sich offensichtlich mehr identifiziert als mit
dem Ich-Erzähler. Am Ende macht er jedoch auch diesen zur handelnden Person,
die im Mund des jungen Riesen eine ganze Welt entdeckt, die der unseren ähnelt.
Der Erfolg des äußerst locker strukturierten, mit zahllosen burlesken
Anekdoten, witzigen Zitaten und satirischen Seitenhieben gewürzten Werkes war
beachtlich. Es wurde allein 1533 und 34 acht Male, z. T. in
Raubdrucken, neu aufgelegt. Die
Theologen der Sorbonne allerdings stießen sich an Passagen, in denen ihre
scholastische Haarspalterei karikiert und Positionen vertreten wurden, die dem
„Evangelismus“ der Reformatoren entsprachen. Auch die hohen Richter des
Parlements fühlten sich verspottet. Die Reaktion war eine Verurteilung des
Buches durch die Sorbonne. Rabelais dagegen nutzte den Erfolg, indem er
sogleich einen witzigen, z.T. horoskopartigen Almanach für das Jahr 1533
hinterherschob: La Pantagruéline Pronostication [=Vorhersage], die bei
späteren Nachdrucken des Pantagruel oft an diesen angefügt wurde.
Ende 1532 erhielt er eine Anstellung am
Lyoner Krankenhaus, dem Hôtel Dieu. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit frequentierte er die
intellektuellen Zirkel der Stadt, die es zu dieser Zeit wirtschaftlich und auch
geistig mit Paris aufnehmen konnte.
Wohl Anfang 1534 lernte er den Bischof
von Paris und Mitglied des Kronrates Jean du Bellay (1498-1560) kennen, einen
hochgebildeten, humanistisch interessierten Mann, der sich auf einer Reise nach
Rom im Auftrag des Königs befand und in Lyon Station machte. Von ihm, dem wenig
Jüngeren, wurde er als Leibarzt und Gesellschafter-Sekretär engagiert.
Bei seinem Aufenthalt in Rom (Febr. bis
Apr. 34) erhielt Rabelais Einblicke in die Verhältnisse am päpstlichen Hof, wo
man zwischen Frankreich und Kaiser Karl V. lavierte, mit dem Papst Klemens VII.
seit der Eroberung und Plünderung Roms durch kaiserliche spanische Truppen 1527
unfreiwillig verbündet war. Vor allem interessierte er sich aber für die zahlreichen
Spuren der Antike in der Stadt und ihrer Umgebung. Zurück in Lyon edierte er
ein gelehrtes lateinisches Werk eines Italieners über die Topographie des
antiken Rom.
Im Schlusswort des Pantagruel
hatte Rabelais eine Fortsetzung mit weiteren Abenteuern
seines Helden angekündigt. Statt dessen ließ er Ende 34 oder Anfang 35 anonym
einen Roman
erscheinen, dessen Handlung umgekehrt eine Vorgeschichte enthält: La Vie inestimable du grand Gargantua, père de
Pantagruel, jadis composée par l’abstracteur de quinte essence. Livre plein de
Pantagruélisme (= das unschätzbare Leben des großen G., Vaters von P.,
einst verfasst vom Quintessenz-Abstraktor. Ein Buch voller Pantagruelismus).
Sichtlich hoffte Rabelais, mit den Verweisen auf den Pantagruel, an
dessen Erfolg anzuknüpfen, was jedoch, sieht man die geringe Zahl der
Nachdrucke, nur mäßig gelang. Zugleich aber vernebelte er seine Identität als
Autor noch stärker und verlegte er die Entstehungszeit des Buches zurück auf
ein vages „einst“. Sichtlich fürchtete er (zu Recht, wie sich zeigen sollte)
eine erneute Verurteilung durch die Sorbonne. Denn dezidierter noch als im Pantagruel
karikiert er anhand des Bildungsganges, den er seinen Protagonisten Gargantua
durchlaufen lässt, die überkommenen scholastisch geprägten Lerninhalte und
–methoden und propagiert er die neuen humanistischen Bildungsideale. Und auch
der Schlussteil über die Abtei Thélème, einen idealen utopischen Ort, an dem
eine geistige und soziale Elite von jungen Personen beiderlei Geschlechts ein
Leben führt, das nur durch Vernunft, Selbstbeherrschung und die Lehren des
Evangeliums geregelt ist, wirkt alles andere als orthodox katholisch. Nicht
oder kaum kontrovers war vermutlich nur die ausführliche, wenn auch recht
burleske Darstellung des legitimen Abwehrkrieges, den Rabelais seinen Gargantua
gegen einen Agressor führen lässt, hinter dem man Kaiser Karl V. vermuten
konnte, mit dem König François Ier seit
Jahren um die Vorherrschaft in Italien, wenn nicht in Europa kämpfte.
Anfang 1535, soeben hatte er wieder
einen Almanach drucken lassen, verschwand Rabelais aus Lyon, vermutlich um sich
einer möglichen Verfolgung als Sympathisant der Reformation zu entziehen. Denn
François
Ier
hatte Ende
Oktober 34 entschieden Partei gegen die Reformatoren ergriffen und grünes Licht
für Ketzer-Prozesse gegen sie gegeben, was eine Fluchtwelle auslöste.
Glücklicherweise konnte Rabelais, der vielleicht bei Estissac untergeschlüpft
war, wieder in den Dienst Du Bellays treten und ihn, der im Mai zum Kardinal
erhoben worden war, erneut nach Rom begleiten. Bei einem Aufenthalt in Ferrara
traf er auf Clément Marot (s.u.) und andere dorthin geflüchtete Sympathisanten
der Reformation, die Asyl bei der Herzogin, einer Tochter von König Louis XII,
gefunden hatten, die dem „Lutherismus“ nahestand.
Anschließend verbrachte Rabelais
1535/36 sieben Monate mit Du Bellay in Rom. Zweifellos über ihn erhielt er die
Erlaubnis des Papstes (inzwischen Paul III.), pro forma in den Benediktinerorden
zurückzukehren, und zwar als Mönch einer Abtei nahe Paris, deren Prior Du
Bellay war. Dort sollte er, nach der beabsichtigten Umwandlung der Abtei in ein
Stift, eine Pfründe als Stiftsherr mit regelmäßigen Einkünften bekommen. Die
Umwandlung fand 1536 statt, doch wehrten sich die anderen Nutznießer gegen den
Quereinsteiger. Rabelais musste eine Eingabe an den Papst richten. Der Ausgang
der Angelegenheit ist unbekannt.
Anfang 1537 erwarb er, da ihm der Papst
zugleich gestattet hatte, als Arzt tätig zu bleiben, in Montpellier auch den
Doktortitel und hielt anschließend Vorlesungen über die Schriften des
Hippokrates. Hierbei legte er erneut das griechische Original zugrunde und
kritisierte die gängige lateinische Version als fehlerhaft. Im Sommer erregte er
Aufsehen in Lyon, als er bei einem Aufenthalt dort die Leiche eines Gehenkten
sezierte. Im Winter 37/38 hielt er wieder Kurse in Montpellier.
1538 finden wir ihn in Aigues Mortes
mit Du Bellay, der hier an einem Treffen von König François mit Kaiser Karl
teilnahm, die soeben einen Waffenstillstand und die Verheiratung eines Sohnes
des Königs mit einer Tochter des Kaisers ausgehandelt hatten. Anschließend
folgte Rabelais seinem Gönner nach Lyon.
Vermutlich 1539 (oder schon 1536?)
wurde ihm ein Sohn, Théodule, geboren, der jedoch zweijährig starb.
Ende 1539 wurde er von Du Bellay an
dessen kränkelnden älteren Bruder Guillaume de Langey weitergereicht, einen
hohen Militär und ebenfalls sehr gebildeten Mann, der zum Gouverneur des
Herzogtums Savoyen-Piemont ernannt worden war, das von franz. Truppen besetzt
gehalten wurde. Von ihm wurde er nach Turin mitgenommen, der piemontesischen
Hauptstadt. Hier verfasste er, unter dem Titel Stratagemata, auf Latein
eine Geschichte der Feldzüge Langeys, die aber verloren ist. Die nächsten drei
Jahre bis zu dessen Tod Anfang 1543 pendelte Rabelais mit ihm zwischen
Norditalien und Frankreich.
1541 und 1544 brachte er erneut je
einen Almanach heraus, letzteren unter dem Titel Grande et vraye
pronostication nouvelle pour l’an 1544 (= große und wahre neue Vorhersage
für das Jahr 1544).
1542 publizierte er in Lyon Versionen
des Pantagruel und des Gargantua, deren Text etwas gereinigt und
leicht entschärft war. Offenbar reagierte er hiermit auf die Vorwürfe, beide
Bücher seien obszön und theologisch bedenklich, und hoffte er, als linientreuer
Katholik zu erscheinen und so seine Ruhe zu haben. Auch die Titel wurden
verändert. Das erste Buch hieß nun Pantagruel,
Roi des Dipsodes. Restitué à son
naturel, avec ses faits et prouesses épouvantables. Composés par feu M.
Alcofribas, abstracteur de quinte essence (=P., König der Dipsoden. Naturgetreu wiederhergestellt
(?), mitsamt seinen Schrecken erregenden Taten und Mutbeweisen. Verfasst von
dem verstorbenen M. A., Quintessenz-Abstraktor). Der andere lautete, nur leicht
verändert, La Vie très horrifique du
grand Gargantua [etc.]. Etwa gleichzeitig
druckte allerdings der pro-protestantische Drucker Étienne Dolet, ein einstiger
Freund Rabelais’, sehr zu dessen Ärger eigenmächtig nochmals die ursprünglichen
Versionen nach, wobei übrigens erstmals der Gargantua als Band I und der
Pantagruel als ihn fortsetzender (und seinerseits noch weiter
fortzusetzender) Band II figurierte.
Rabelais übernahm
sofort diese Praxis und brachte noch 1542 ebenfalls eine zweibändige Ausgabe
heraus unter dem Titel Grands annales ou chroniques très véritables des
gestes merveilleux du grand Gargantua et Pantagruel son fils, roi des Dipsodes,
enchroniqués par feu Maistre Alcofribas, abstracteur de quinte essence. Im Vorwort der Neuausgabe (deren Text heute i.d.R. den kritischen Editionen zugrunde
liegt) attackierte er Dolet, dennoch wurde sie von der Sorbonne verurteilt.
Trotz der Verurteilung schrieb Rabelais einen Fortsetzungsband, mit
dem er offensichtlich auf ein misogynes
Buch von 1541, L’Amie de cour (=die Freundin am Hof) und eine
profeministische Antwort darauf von 1542 reagierte, La parfaite amie (=die
perfekte Freundin) von Antoine Hérouet. Hierin meidet er politisch-religiös
brisante Themen und auch sein Humor ist weniger derb. Zudem wird Pantagruel
kaum mehr als Riese darstellt, der allein durch seine Körpergröße groteske
Effekte bewirkt. Im Zentrum der Handlung steht die Frage, ob Panurge, der neben
oder gar vor Pantagruel die zentrale Figur ist, heiraten soll, oder – so
sichtlich die Tendenz Rabelais’ - lieber nicht. Als dieser das Buch 1545
fertig hatte, durfte er es sogar der Schwester von König François, Marguerite de Navarre (s.u.),
widmen und mit einem königlichen Privileg
in Paris drucken lassen. Es erschien 1546, unter seinem
richtigen Namen, als Le tiers
livre des faits et dits héroïques du noble
Pantagruel, composés par M. Franc. Rabelais,
docteur en médicine
(=das dritte Buch der heldenhaften Taten und Worte des edlen P. [etc.]).
Dennoch wurde es erneut verurteilt. Da
zur selben Zeit das Parlement eine spezielle Kammer für Ketzer-Prozesse
einrichtete (die anschließend 500 Todesurteile fällte) verschwand Rabelais aus
Frankreich und schlüpfte unter bei einem Klienten Du Bellays in der damaligen freien
Reichsstadt Metz. Dort verdingte er sich als städtischer Arzt und begann
zugleich einen weiteren Fortsetzungsband.
Dieser inspirierte sich an Berichten von den spektakulären Entdeckungsreisen
der Zeit (z.B. Jacques Cartier, 1534-43) und schildert parodistisch eine
fiktive Seefahrt, die Pantagruel und Panurge unternehmen, um das Orakel der
„göttlichen [Wein-]Flasche“ (dive bouteille) zu finden, das die Frage, ob
Heirat oder nicht, beantworten soll.
Nach dem Tod von König François (1547) ging Du Bellay einmal mehr
in diplomatischer Mission nach Rom und nahm Rabelais dorthin mit. Auf der
Durchreise übergab dieser in Lyon einem Drucker die ersten elf Kapitel des
neuen Bandes, die 1548 als Le Quart
livre des faits et dits héroïques
[etc.]
erschienen. In Rom, wo er mit Du Bellay zwei Jahre bis 1549 blieb, stellte er
das Buch dann fertig. Hierbei beschreibt er u.a. satirisch ein Inselreich von
asketischen Protestanten, den „Papefigues“ (Papstspöttern/-verächtern), aber
auch eines von naiv papsttreuen Katholiken, den „Papimanes“, deren Bischof den
Reisenden erklärt, wie Rom aus Frankreich Geld absaugt. Sichtlich meinte
Rabelais damit dem neuen franz. König Henri II zu Gefallen zu sein, der die
Etablierung einer von Rom unabhängigen „gallikanischen“ Kirche anstrebte. Als
Anfang 1552, nunmehr in Paris, das Quart
livre als Ganzes herauskam, hatte sich allerdings der Wind gedreht: König
und Papst hatten sich arrangiert, Kritik an Rom war nicht mehr erwünscht.
Entsprechend zögerte die Sorbonne nicht, das Buch zu verurteilen. Das Pariser
Parlement zog nach und verbot es. Dass Rabelais es dem Kardinal Odet de
Châtillon gewidmet hatte, war sicher wenig hilfreich gewesen, denn der war
Neffe von Admiral Coligny, eines der Chefs der Protestanten.
Dem Erfolg des Buches tat das Verbot
keinen Abbruch. Rabelais selbst musste allerdings Anfang 1553 die Pfründe in
Meudon und eine weitere im Bistum Le Mans aufgeben, die er erst 1551 über Du
Bellay erhalten hatte. Hiernach ist nichts mehr von ihm bekannt. Offenbar aber
hatte er noch bis kurz vor seinem Tod im April 53 an einem weiteren Band
gearbeitet, der die Fortsetzung und das Ende der Seefahrt schildern sollte.
1562 erschien postum, vermutlich auf Initiative seines Druckers, ein Teilstück
unter dem Titel L’Île sonnante (= die klingende Insel), das den Besuch
der Reisenden auf einer burlesk dargestellten Insel schildert, hinter der
unschwer Rom zu erkennen war. 1563 kam, von unbekannter Hand komplettiert, der
geamte Band heraus als Le cinquième livre [etc.] (= das fünfte Buch).
Dieses wurde in die Gesamtausgaben des Zyklus aufgenommen, die kurz nach dem
Tod Rabelais’ zu erscheinen begannen und lange Zeit mit beachtlicher
Regelmäßigkeit erschienen.
Letzteres erstaunt umso mehr, weil
Rabelais nicht nur der katholischen, sondern auch der protestantischen Seite
konfessionell suspekt war. Auch wurde er, wegen seiner freimütigen Akzeptanz
der Körperlichkeit des Menschen und von dessen Bedürfnis nach Lustgewinn,
zunehmend als unmoralisch gerügt, und zwar ebenfalls sowohl von den prüder und
rigoristischer werdenden katholischen Theologen als auch von ihren ohnehin
moralinsauren protestantischen Kollegen, deren Vordenker Calvin (s.u.) ihn
schon 1550 in seinem Traité des scandales heftig angegriffen hatte.
Vom zeitgenössischen Lesepublikum dagegen
wurden Rabelais’ Romane vermutlich als erheiterndes Evasionsangebot genutzt in
einer Zeit, wo es wenig zu lachen gab angesichts einer Realität, die beherrscht
war von einer enormen religiösen und ideologischen Polarisierung. Denn diese
reichte bis in die Familien hinein, bewirkte eine zunehmende Intoleranz der
konfessionellen Parteien und ihrer Propagandisten und führte zu einer immer
brutaleren Unterdrückung der Protestanten durch den Staat, der seit 1534 offen
die katholische Partei unterstützte. Den Ausbruch der Religionskriege 1562
erlebte Rabelais nicht mehr.
Heute gilt er, auch wenn er aufgrund
seiner archaisch gewordenen Sprache und seiner nur noch schwer verständlichen
Wortspiele und Anspielungen wenig gelesen wird, als der größte franz. Autor des
16. Jh., einer der Großen der franz. Literatur überhaupt und speziell als
Galionsfigur des moralisch nicht immer korrekten, dafür aber
volkstümlich-heiteren esprit gaulois
oder eben rabelaisien. Der Erfolg
seines Romanzyklus beruht auf einer unnachahmlichen Kunst der Mischung: auf der
Stilebene mengt Rabelais Ernst und Scherz, spielerische Ironie und bissigen
Sarkasmus, derben Witz und hypergelehrte Pedanterie, lustige Wortspielereien
und komisch verwendete echte und fiktive Zitate; auf der Strukturebene kombiniert
er meist knappe, immer wieder die Grenzen zum Phantastischen und Grotesken
überschreitende Handlungssequenzen und meist längere Erzähler- und
Figurenreden, deren letztlich satirische Intentionen kaum zu übersehen sind,
auch wenn sie sich oft verstecken, z.B. hinter einer scheinbaren Naivität der
Sprecher. Nicht zu Unrecht erkannte die Sorbonne in dem Humoristen und
Fabulisten den kritisch-selbständigen Geist und Anhänger eines unorthodoxen
Evangelismus, auch wenn er letztlich, wie viele franz. Autoren der Zeit, pro
forma Katholik geblieben war, vielleicht weil ihn der zunehmende religiöse und
moralische Rigorismus der Protestanten abstieß.
Die erste deutsche Teil-Übertragung des
Zyklus wurde von dem Straßburger Humanisten Johann Fischart verfasst und
erschien 1575 unter dem Titel: Abenteuerliche und ungeheuerliche
Geschichtsschrift von Leben, Raten und Taten der Herren Grandgusier, Gargantua
und Pantagruel.
(Stand: Dez. 10)
Clément
Marot (*
1496 Cahors; † 1544 Turin)
Er galt schon zu seinen Lebzeiten als
der bedeutendste franz. Lyriker der Epoche und blieb bis ins
19. Jahrhundert hinein ein sehr geschätzter und gern imitierter bzw.
pastichierter (spaßhaft nachgeahmter) Dichter, den man als prototypisch
betrachtete für die vermeintlich guten alten Zeiten.
Er
wurde geboren als Sohn des Kaufmanns und angesehenen Dichters Jean Marot.
Dieser stammte aus der Normandie, die Mutter aus Cahors in Südfrankreich. Hier
verbrachte Marot seine Kindheit, wobei er zunächst zweisprachig aufwuchs, d.h.
vor allem okzitanisch. Eine solide Schulbildung genoss er offenbar nicht, doch
lernte er Latein sowie Italienisch und konnte sich eine gewisse klassische
Bildung aneignen.
1506
erhielt der Vater durch Vermittlung einer adeligen Bewunderin einen Posten als
Sekretär im Dienst der Königin, Anne de Bretagne. Später wurde er zum
Kammerdiener (valet de chambre) bei ihrem Gatten Louis XII befördert.
Durch
seinen Vater, dem er nach Paris gefolgt war, erhielt der junge Marot Kontakt
zum Hof und bekam eine Stelle als Page bei einem hochrangigen Adeligen. Dieser
verschaffte ihm etwas später einen Schreiberposten in der Chancellerie (quasi
beim Justizminister) und protegierte ihn auch weiterhin.
Ab
ca. 1511 schrieb Marot Verse, angeleitet vom Vater und von dessen Dichter- und
Sekretärskollegen Jean Lemaire de Belges (s.o.). Daneben schulte er seine Feder
mit Übertragungen von Texten der römischen Klassiker Vergil und Lukian. 1514
trat er erstmals an die Öffentlichkeit mit der Versepistel (épître) Le
Temple de Cupido, verfasst zur Hochzeit von Claude de France, der Tochter
von Louis XII, mit ihrem Cousin François d’Angoulême, der aufgrund des Fehlens
eines direkten männlichen Thronerben engster Anwärter auf die franz. Krone war.
Im selben Jahr wurde auch ein erstes Werk Marots gedruckt, die Épître de
Maguelonne.
Nachdem
François d’Angoulême schon 1515 als François Ier auf den Thron
gelangt war (und Marots Vater Jean als Kammerdiener übernommen hatte), schaffte
es Marot, dem nur zwei Jahre älteren jungen König mit weiteren Gedichten zu gefallen,
z.B. einer witzigen Petite épître au Roi, und seine Sympathie zu
gewinnen. 1519 wurde er von François dessen älterer Schwester empfohlen,
Marguerite d’Angoulême (bzw. de Navarre, s.o.), die ihn als Kammerdiener und
Sekretär in ihre Dienste aufnahm.
Dies
hinderte Marot nicht, König François 1521 und 22 auf Feldzügen gegen Kaiser
Karl V. in Flandern und im Hennegau zu begleiten. Meist jedoch lebte er als von
ihm geschätzter Dichter und Unterhalter am Hof in Paris. Hier verfasste er bei
den verschiedensten Anlässen und Gelegenheiten Texte in fast allen lyrischen
Gattungen der Zeit. Eine Spezialität dieser frühen Schaffensphase waren, neben
weiteren Versepisteln, kürzere Gedichte zum Thema Liebe, insbesondere Rondeaus
und Chansons. Seine Texte verbreitete er in der Regel zunächst durch Lesung
oder Vortrag vor seinem Zielpublikum, doch kursierten meistens rasch auch
Abschriften Dritter.
Zweifellos
war es durch den Einfluss Marguerites und ihrer Umgebung, dass Marot sich dem
reformatorischem Gedankengut Luthers öffnete, das sich um 1520 als
„Evangelismus“ auch in Frankreich zu verbreiten begann. Dies, aber zweifellos
auch ein etwas lockerer Lebenswandel und vor allem eine spöttische Zunge, trug
ihm Anfeindungen und bald auch Probleme ein. Insbesondere scheint er Richter
des Obersten Gerichts, des Parlement, und Theologen der Sorbonne verärgert zu
haben.
Als
1525 der König bei der Schlacht von Pavia in die Gefangenschaft von Kaiser Karl
geraten und seine Schwester Marguerite zu Freilassungsverhandlungen nach Madrid
gereist war, wurde Marot von einer rachsüchtigen Frau denunziert, er habe in
der Fastenzeit Speck gegessen. Seine Feinde und Neider nutzten die Abwesenheit
seiner fürstlichen Gönner und bewirkten im Februar 26 seine Inhaftierung im
berüchtigten Pariser Stadtgefängnis, dem Châtelet. Dank der Fürbitte eines
Freundes zog jedoch wenig später der Bischof von Chartres den Fall an sich und
nahm Marot in eine Art Schutzhaft. Im Mai befreite ihn ein Gnadenakt des soeben
zurückgekehrten Königs. Seine misslichen Erlebnisse im Châtelet schildert er
sehr realistisch und mit bissigem Humor in einer Epistel mit dem sprechenden
Titel L’Enfer, die er aber vorsichtshalber in der Schublade ließ, weil
sie nur zu richtig als Attacke auf die Pariser Gerichtsbarkeit und ihre
Schergen verstanden werden konnte.
Wenig
später wurde Marot zum Nachfolger seines kürzlich verstorbenen Vaters im
Kammerdieneramt ernannt. Als er 1527 er erneut im Kerker landete, weil er einem
gerade von der Polizei festgenommenen Bekannten zur Flucht verholfen hatte,
befreite ihn König François umgehend selbst. Die betreffende Anordnung und der
vorangehende Hilferuf Marots in Gedichtform sind erhalten, ebenso ein launiges
Dankgedicht.
Die
Jahre nach 1526 waren sehr fruchtbar für Marot, zunächst auch dank seiner
Verliebtheit in Anne d’Alençon, eine junge Nichte von Marguerites erstem
Gatten, die ihn zu vielen Gedichten inspirierte. Vor allem jedoch fungierte er
weiterhin als Hofdichter mit Gelegenheitsgedichten aller Art und zu allen
möglichen Anlässen, wobei er u.a. die Gattung Epigramm, d.h. witzige, oft
bissige, einstrophige Texte, entwickelte. Finanziell ging es ihm ebenfalls gut,
so dass er 1529 (?) heiraten konnte und angeblich seine bald vorhandenen zwei
Kinder täglich dankbar für den König beten ließ.
Nachdem
1531 als Raubdruck in Lyon eine erste Sammlung seiner Gedichte erschienen war,
gab Marot 1532 unter dem etwas burschikosen Titel L'Adolescence [Jugendzeit]
clémentine erstmals selber einen Sammelband heraus. Da dieser sehr
erfolgreich war, ließ er 1534 einen weiteren Band folgen, die Suite
[Fortsetzung] de l'Adolescence clémentine.
Schon
um 1525 hatte er die Idee gehabt, nach quasi humanistischen Editionsprinzipien
Werke der älteren franz. Literatur gedruckt herauszugeben. So hatte er 1526 ein
Lieblingswerk seines Vaters, den Roman de la rose (Rosenroman, 13. Jh.,
s.o.), in leicht modernisierter Sprache ediert. 1533 besorgte er eine Ausgabe
der Dichtungen von François Villon (15. Jh., s.o.).
Der Oktober 1534 brachte einen
tiefen Einschnitt im Leben Marots. Er sah sich in die sog. Affaire des Placards
verwickelt, eine Plakat-Aktion protestantischer Aktivisten (vielleicht aber
auch verkappter katholischer Scharfmacher). Diese bewirkte, dass König François
seine bis dahin geübte religiöse Toleranz oder auch Gleichgültigkeit aufgab,
Partei bezog auf Seiten der konservativen Kräfte des Katholizismus und einer
scharfen Repression des Protestantismus freien Lauf ließ, was rasch zu einer
Reihe von Ketzerprozessen vor dem Parlement und zahlreichen Todesurteilen und
Hinrichtungen führte , sowie eine erste Fluchtwelle auslöste (der z.B. auch
[[Jean Calvin]] angehörte).
Als
Marot erfuhr, dass auch er auf einer Liste von Verdächtigen stand, entschloss er
sich, wie viele andere Gesinnungsgenossen, zur Flucht. Er ging nach Nérac im
Béarn, das als Hauptort des franz. Teils des kleinen Rest-Königreichs Navarra
diente, mit dessen Titularkönig Henri d’Albret seine Gönnerin Marguerite sich
1527 in zweiter Ehe verheiratet hatte. Nachdem er 1535 vom Pariser Parlement in
Abwesenheit verurteilt worden war, zog Marot auf Anraten Marguerites weiter
nach Ferrara an den Hof der Herzogin Renée d'Este, der jüngeren Tochter von
König Louis XII, die mit Luthers Lehren sympathisierte und schon andere franz.
Flüchtlinge beherbergte.
Von
dort aus richtete er eine Bitt-Epistel an König François, worin er den Vorwurf,
er sei „Luthériste“, zu entkräften versuchte und sich sarkastisch über seine
Feinde in der Pariser Justiz und der Sorbonne beklagte. Er bekam aber keine
Antwort, so dass er eine weitere Epistel verfasste, nunmehr an den Dauphin
(Thronfolger).
Als
er in Ferrara wenig später mit Duldung des Herzogs, der de jure Lehensmann des
Papstes war, von der Inquisition bedrängt wurde, floh er 1536 weiter nach
Venedig. Hier erreichte ihn die Nachricht, dass er vom König amnestiert worden
war. Nachdem er in Lyon dem Protestantismus abgeschworen und sich von Lyoneser
Sympathisanten etwas feiern lassen hatte, kehrte er Anfang 1537 zurück nach
Paris und zu seiner Familie. Wieder aufgenommen am Hof wurde er dort zunächst
in eine Fehde mit Gedichten verwickelt von einem alten Rivalen namens François
de Sagon, der sich inzwischen als Platzhirsch betrachtete. Marot konnte sich
durchsetzen und erreichte hiernach den Höhepunkt seiner Anerkennung.
1538
ließ er bei dem bekannten Drucker Étienne Dolet in Lyon unter dem schlichten
Titel Les Œuvres eine erste Gesamtausgabe seiner Werke erscheinen. Im
selben Jahr übertrug er Gedichte Francesco Petrarcas, darunter sechs Sonette,
die vielleicht die ersten in franz. Sprache sind. 1539 bekam er vom König ein
Haus in Paris geschenkt. Seine Stellung als bester Dichter seiner Zeit schien
gesichert.
Schon
1533 hatte er einen Bibel-Psalm in franz. Versen und Strophen nachgedichtet.
Nach seiner Rückkehr aus dem Exil hatte er, auf Vorschlag von König François,
diese Arbeit wieder aufgenommen und fortgeführt. 1541 gab er das Ergebnis unter
dem Titel Trente psaumes de David mis en français in Druck und durfte
das Buch sogar dem großen Gegner von François, Kaiser Karl V., widmen, als
dieser während einer Kriegspause Paris besuchte.
Nachdem
ihm die Trente Psaumes zunächst viel Lob eingebracht hatten als der
erste gelungene Versuch einer künstlerisch adäquaten Nachdichtung der Psalmen,
wurden sie 1542 auf Betreiben der Sorbonne überraschend verboten. Ein Grund war
wohl, dass soeben der inzwischen eindeutig proprotestantische Dolet ohne
Zustimmung Marots L’Enfer gedruckt hatte; ein anderer war sicher der
Umstand, dass der Reformator Calvin, der in Genf gerade an die Macht gelangt war, die Psalmen-Nachdichtung
ebenfalls lobte und seinen Anhängern empfahl.
Da
zugleich das Parlement eine neue Prozessaktion gegen Protestanten startete,
verschwand Marot (so wie u.a. auch Rabelais, s.o.) aus Paris und ging nach Genf
zu Calvin. Hier übertrug er weitere 20 Psalmen, so dass er 1643 eine Neuauflage
mit nunmehr 50 Psalmen drucken lassen konnte. Kurz danach jedoch verließ er
Genf, weil er Probleme mit Calvin und dessen fundamentalistisch strengem und
asketischem Regime bekam. Er zog weiter in das von franz. Truppen besetzte
Herzogtum Piemont-Savoyen, von wo aus er vergeblich Kontakt mit König François
aufzunehmen versuchte. Nach kürzeren Aufenthalten in Annecy und Chambéry starb
er 1544 verbittert in Turin. Kurz nach seinem Tod (dessen genaues Datum ebenso
unbekannt ist wie das seiner Geburt) erschien eine Neuauflage der Œuvres.
Marots
literarhistorische Bedeutung liegt darin, dass er (im Sinne seiner beiden
Lehrmeister) einerseits die reiche eigenständige franz. lyrische Tradition mit
ihrem vielfältigen Formenbestand weiterführte, sich andererseits aber als einer
der ersten franz. Autoren auch an der zu dieser Zeit tonangebenden
italienischen Lyrik inspirierte. Anscheinend war er es, der das Sonett in
Frankreich einführte. Er pflegte insbes. die Gattung Versepistel, wobei er oft
sehr persönlich wirkende Passagen einflicht; und er gilt vor allem als erster
Meister, wenn nicht gar Erfinder der Kurzform Epigramm. Insgesamt verfasste er
65 Episteln, 80 Rondeaus, 15 Balladen, 300 Epigramme, 27 Elegien.
Viele
seiner Gedichte gelten dem Thema Liebe, insbesondere Rondeaus und Chansons, in
denen er höchst kunstvoll, mal eher ernst, mal eher scherzhaft und mitunter
auch leicht anzüglich, die Begrifflichkeit und die Vorstellungswelt der
überkommenen höfischen Lyrik aufnimmt und variiert.
Das
Markenzeichen, vor allem der Gedichte, die der leichteren Muse gelten, ist ihre
formale und stilistische Vielfalt bei gleichzeitiger Eleganz und spielerischer,
oft verspielter Leichtigkeit des Ausdrucks: der sprichwörtlich gewordene „style
marotique“.
Die
Beurteilung Marots in Frankreich war nicht immer frei von konfessionell
bestimmten Motiven. Dennoch war seine Nachwirkung groß, allein im 16.
Jahrhundert wurden die Œuvres weit über zweihundertmal nachgedruckt.
Seine
Cinquante psaumes wurden zum Kern des sog. Genfer Psalters
(Hugenottenpsalter).
Sein
Sohn Michel Marot, der Page bei Marguerite wurde, versuchte sich ebenfalls als
Dichter, erreichte aber nicht entfernt die Bedeutung seines Vaters oder auch
des Großvaters.
(Stand: Apr. 12)
Maurice Scève (* ca. 1500 in Lyon; † ca. 1560,
vermutlich ebenfalls in Lyon).
Er gilt als der bedeutendste Vertreter
der um 1550 blühenden sog. Lyoneser Dichterschule, deren einigendes geistiges
Band die idealistische neoplatonistische Vorstellung von Liebe war, die man aus
Italien übernommen hatte.
Über die Biografie Scèves ist wenig
bekannt. Er war Sohn eines städtischen Richters aus alter Lyoneser Familie und
erhielt eine gute humanistische Bildung. Er lebte überwiegend in und bei Lyon,
das zu dieser Zeit dank seiner Nähe zu Italien wirtschaftlich florierte und
auch geistig ein der Hauptstadt Paris fast ebenbürtiges Zentrum war, weil es
nicht von stockkonservativen Institutionen wie der Sorbonne oder dem Parlement
kontrolliert und erstickt wurde.
Scèves bekanntere Werke sind die Elegie
Arion (1536), die Ekloge La Saulaie, églogue de la vie solitaire
(1547) und vor allem Microcosme, ein
3000 Verse langes enzyklopädisches Gedicht (postum 1562 gedruckt). Hierin sieht
Scève den Sündenfall Adams und Evas, bzw. ihre Vertreibung aus dem Paradies,
als Voraussetzung für die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und damit
allen Fortschritts, der in Form einer Traumvision Adams von der Zukunft der
Menschheit an Beispielen dargestellt wird. Des weiteren verfasste Scève sog.
Blasons, d.h. damals beliebte Gedichte, die (weibliche) Körperteile besingen,
z.B. Le Sourcil oder Le Front oder Le soupir oder La Gorge.
Seinen Ruhm schon zu Lebzeiten verdankte
Scève vor allem dem 1544 erschienenen Gedichtzyklus Délie, objet de plus haute vertu, den er 1537 begonnen hatte, nach
der Begegnung mit seiner großen, aber unerfüllten Liebe, der ebenfalls
dichtenden Pernette du Guillet (ca. 1520-1545). Der Zyklus beginnt mit einem
achtzeiligen Zueignungsgedicht und umfasst dann 449 zehnzeilige Gedichte, die
im Druck durch eingefügte Embleme in Gruppen unterteilt sind, und zwar nach dem
System 5+(9×49)+3. Die in zehnsilbigen Versen verfassten Gedichte sind allesamt
sehr kunstvoll, oft hermetisch. Sie sprechen von oder richten sich an eine
ideale Geliebte, die als grundsätzlich unerreichbar vorgestellt wird, ähnlich
wie die Beatrice von Dante oder die Laura von Francesco Petrarca, deren Grab
Scève 1533 in Avignon gefunden zu haben glaubte. Mit Délie (der Name ist ein Anagramm aus L’-I-D-E-E) steht Scève gedanklich in der Tradition des
italienischen Neoplatonismus und stilistisch in der der sog. petrarkistischen
Liebeslyrik, wie sie von dem o.g. Petrarca um 1330 inauguriert, in ganz Mittel-
und Westeuropa rezipiert und mehr als zwei Jahrhunderte hindurch imitiert
wurde.
Scève kannte sich übrigens nicht nur in
der italienischen Literatur gut aus (sowie selbstverständlich in der
lateinischen und der griechischen), sondern auch in der spanischen, deren
„siglo de oro“ (Goldenes Zeitalter) gerade begann. Er zählt zu deren ersten
franz. Mittlern mit seiner Übertragung La
deplourable fin de Flamecte, élégante invention de Jehan de Flores, espaignol,
traduicte en langue françoise (1535, = das beklagenswerte Ende Flamettas.
Eine elegante Erfindung von Juan de
Flores…).
(Stand: Dez. 10)
Jean
Calvin (eigentlich
Jean Cauvin, *10.7.1509 in Nyon/Picardie, † 27.5.1564 in Genf).
In Deutschland praktisch nur in als
wichtigster Reformator neben Luther und als Vordenker der „reformierten“
Protestanten bekannt, ist er in Frankreich, ähnlich wie Luther bei uns,
zugleich eine bedeutende Figur der Literatur- und Sprachgeschichte.
Calvin war Sohn eines wohlhabenden
Juristen, der im Dienst des Bischofs von Nyon stand und ihn zunächst für die
kirchliche Laufbahn bestimmte. Er durfte am häuslichen Unterricht der Neffen
des Bischofs teilnehmen und erhielt im Vorgriff einen Anteil an einer Pfründe
an der Kathedrale von Nyon. Mit 14 wurde er nach Paris geschickt, wo er auf
Kollegien (collèges) der Sorbonne die propädeutischen Studien der Septem Artes
liberales absolvierte und dann theologische und kirchenrechtliche Studien
betrieb. 1528 begann er jedoch auf Wunsch seines Vaters, der inzwischen in einen
Rechtsstreit mit dem Bistum geraten war, ein Studium auch des Zivilrechts in
Orléans, das er in Bourges fortsetzte und abschloss. Zurück in Paris, hängte er
nach dem Tod des Vaters (1531) die Juristerei jedoch an den Nagel und widmete
sich vor allem den im Trend liegenden humanistischen Studien, für die er sich
schon in Bourges zu interessieren begonnen hatte. In diesem Sinne frequentierte
er das soeben (1530) von König François Ier gegründete Collège
des trois langues (Latein, Griechisch und Hebräisch) bzw. Collège des Lecteurs du roi und publizierte er 1532 als erste
Frucht seiner neuen Studien einen lateinischen Kommentar zu einem Werk des
römischen Klassikers Seneca.
Schon gegen 1528 war er in Paris über seinen
Landsmann Pierre Robert, genannt Olivetan (den späteren Bibelübersetzer), in
Berührung mit den Gedanken Luthers gekommen. Seine humanistischen Studien und
seine Kontakte zu anderen franz. Humanisten, die damals in der Regel ebenfalls
mit Luther sympatisierten, vertieften seinen reformatorischen Elan. 1533
erregte er Anstoß mit einer Rede, die er für den mit ihm befreundeten neuen
Rektor der Universität zum Amtsantritt verfasst hatte und worin er energisch
für die Reformation eintrat. Als die empörten Theologen der Sorbonne den Rektor
und ihn vor dem Parlement als Ketzer verklagten, verschwand er aus Paris und
fand zunächst unter falschem Namen Unterschlupf bei einem Freund in Angoulême.
1534 reiste er kurz nach Nyon, um seine Teilpfründe offiziell aufzugeben.
Anschließend traute er sich zurück in die Hauptstadt. Als nach der sog. Affaire des
placards (17./18. Okt.
34) in Frankreich eine systematische Verfolgung der Sympathisanten der
Reformation begann, flüchtete auch er erneut und fand Zuflucht in Nérac, am
kleinen Hof der Schwester des Königs, Marguerite de Navarre (s.o.), die mit den
„Evangelischen“ sympathisierte. Hier lernte er den Bibelübersetzer Jacques
Lefèvre d’Étaples (s.o.) kennen, der sich schon vorher dorthin zurückgezogen
hatte. Die nachfolgenden Jahre lebte Calvin, wie so viele Gesinnungsgenossen,
unstet im Exil. Hierbei verfasste er, überwiegend auf Latein, eine Vielzahl
theologischer Schriften.
Eine davon war Christianae religionis institutio (=Unterweisung in der christlichen Religion), die seine
Hauptschrift werden sollte und die er 1535 in Basel konzipierte und
publizierte, einem Zentrum des deutschen Humanismus und Druckereiwesens der
Zeit. In einem an François Ier gerichteten Vorwort distanziert sich
Calvin von protestantischen Eiferern wie den Bilderstürmern von Münster und
gibt der Hoffnung Ausdruck, dass der König, der ja so lange dem Humanismus
aufgeschlossen gegenüber gestanden hatte, auch die Reformation unterstützt.
1536 hielt er sich einige Zeit bei der
Herzogin von Ferrara auf, der Schwägerin von François Ier, die zu dieser Zeit zahlreiche emigrierte franz.
Intellektuelle beherbergte, z.B. Clément Marot (s.o.). Auf der Rückreise kam er
erstmals in den schweizerischen Stadtstaat Genf und blieb dort bei dem hierhin
geflüchteten franz. Reformsympathisanten Guillaume Farel, der zu diesem
Zeitpunkt den Stadtrat dominierte und ihn als Verbündeten in die Politik
hineinzog. Ein Wechsel der Mehrheitsverhältnisse im Rat vertrieb sie jedoch
beide 1538.
Calvin ging nach Straßburg, einem anderen
geistigen Zentrum der Zeit, wo er, als Gast des bedeutenden Humanisten und
Reformators Bucer, seine Institutio ins Franz. übertrug und 1541 als Institution de la religion chrétienne
publizierte. Die Schrift wurde 1542 vom
Pariser Parlement verboten und 1544 sogar vom Henker verbrannt, was der
Verbreitung naturgemäß nutzte.
Inzwischen, 1541, war Calvin nach einem
neuerlichen Mehrheitswechsel im Stadtrat von Genf dorthin zurückgerufen worden.
In der nunmehr von protestantischen Emigranten majorisierten Stadt hielt er
hinfort als Pastor (frz. pasteur) jeden Tag eine Predigt und wurde mit seinen
Schriften und seiner rastlosen Aktivität zur zentralen Figur der Reformation im
franz. Sprachraum sowie den Niederlanden, Teilen des westlichen Deutschlands
und auch Englands. In dieser Rolle beriet und ermahnte er brieflich zahlreiche
protestantische Fürsten und hochgestellte Persönlichkeiten. Daneben machte er
Genf zu einer Art fundamentalistischen puritanischen Gottesstaat, wo es auch
nicht eben tolerant zuging (und wo z.B. der Dissident Michel Servet 1559
abgeurteilt und verbrannt wurde).
1560 ließ Calvin eine Neuausgabe der Institution
erscheinen, die er sprachlich und stilistisch im Sinne einer guten
Lesbarkeit auch für weniger Gebildete überarbeitet hatte. Sie wurde das erste
weitverbreitete theologische Werk in franz. Sprache und vermutlich einer der
meistgelesenen franz.sprachigen Texte des 16. Jh. überhaupt. Die nüchterne und
klare Ausdrucksweise wurde auch von Gegnern bewundert und zum Vorbild genommen.
(Stand: März 11)
Bonaventure
des Périers (*ca.
1510, wahrscheinlich in Arnay-le–Duc/Bourgogne ; † ca. 1543, wohl in Lyon,
vermutlich durch Selbstmord).
Über die Herkunft und Jugend Des
Périers’ ist so gut wie nichts bekannt. Möglicherweise stammte er aus einer
kleinadeligen Familie und erhielt jedenfalls eine passable humanistische
Bildung. 1534/35 wird er erstmals greifbar, und zwar als Randfigur in dem Team
junger Humanisten, das unter der Regie von Pierre Robert Olivetan in Neuchâtel
mit protestantischen Intentionen die Bibel übersetzte. Danach findet man ihn
als Mitarbeiter des bekannten Humanisten und Druckers Étienne Dolet in Lyon.
Sichtlich verkehrte er auch in den intellektuellen Zirkeln der Stadt, denn er
unterstützte z.B. 1536 mit einem Gedicht den aus dem Exil heimgekehrten Lyriker
Clément Marot (s.o.) in seiner siegreichen Fehde mit einem anderen Hofdichter.
In Lyon auch und ebenfalls 1536 begegnete er Marguerite de Navarre (s.o.), der
mit der Reformation sympathisierenden hochgebildeten älteren Schwester von
König François Ier. Er schaffte es, sie mit einem Gedicht
auf sich aufmerksam machen und wurde als Kammerherr und Sekretär in ihren
Dienst aufgenommen.
Seine Tätigkeit für Marguerite ließ ihm
die Muße für eigene Werke. Das wichtigste ist das unter Pseudonym Anfang 1538
herausgekommene Cymbalum mundi en français, contenant quatre dialogues
poétiques fort antiques, joyeux et facétieux (=die Pauke der Welt auf
Französisch, die vier ziemlich alte, spaßige und witzige poetische Dialoge
enthält). Das Büchlein erzählt in vier Kapiteln mit hohem Anteil von
Figurenreden satirisch von einen Besuch des Jupiter-Sohnes Merkur im alten
Athen, wo er mit allerlei seltsamen Personen und ihrem Gerede konfrontiert
wird. Dieses Gerede spiegelt und ironisiert sichtlich die Borniertheit, den
Fanatismus und den Egoismus sowohl der katholischen als auch der sich
inzwischen untereinander befehdenden protestantischen Theologen und Wortführer.
Im zweiten Kapitel z.B. glauben ein gewisser Rhetulus (=Lutherus) und Cubercus
(=Bucerus, der bekannte Straßburger Humanist und Reformator) Stücke des Steines
der Weisen finden zu können. Im letzten Kapitel, dem einzigen Dialog im engeren
Sinne, unterhalten sich zwei Hunde über die Leichtgläubigkeit, mit der Menschen
vermeintlich neuen Ideen aufsitzen.
Das sich an dem griechischen Satiriker
Lukian (2. Jh. n. Chr.) inspirierende Werk scheint vordergründig vor allem
humoristisch intendiert, ist jedoch bei näherer Betrachtung ein erster
literarischer Ausdruck von Skeptizismus und religiösem Freidenkertum zwischen
den konfessionellen Fronten. Es wurde von der Sorbonne als ketzerisch
verurteilt und vom Parlement verboten, und zwar auf persönliche Initiative von
König François (der vielleicht über seine Schwester die hintergründigen Motive
des Werkes zu kennen glaubte?). Der Drucker wurde vorübergehend eingesperrt;
Des Periers kam selbst mit dem Schrecken davon, scheint hiernach aber nur noch
verdeckt von Marguerite protegiert worden zu sein. Auch der Reformator Jean
Calvin (s.u.) tadelte später das Cymbalum in seinem Traité des
scandales (1555). Die Autorschaft Des Périers’ ist übrigens nicht
vollständig sicher, jedoch sehr wahrscheinlich.
Weitere Texte von ihm, vor allem
Gedichte, wurden 1544 als Sammelband von einem Freund herausgegeben (der im
Vorwort den Tod des Autors mitteilt). Erst 1558 erschien das Büchlein Nouvelles
Récréations et joyeux devis (=neue Unterhaltsamkeiten und lustige Reden),
eine für die Zeit typische Sammlung von Schwänken und Novellen, die von manchen
Literarhistorikern als das beste Werk Des Périers’ betrachtet wird. Er hatte es
offenbar zur etwa gleichen Zeit begonnen wie seine Gönnerin Maguerite ihre
Sammlung L’Heptaméron.
Über
die Umstände seines frühen Todes ist nichts Verlässliches bekannt, doch ist
Selbstmord wahrscheinlich.
(Stand: Dez. 10)
Jacques Amyot (* 29. Oktober 1513 in Melun; † 6. Februar
1593 in Auxerre).
Er ist zwar heute auch als Name kaum
mehr bekannt, hat aber mit seinen vielgelesenen Übertragungen griechischer
Werke die Entwicklung der franz. Literatur stark beeinflusst.
Amyot stammte aus relativ kleinen
Verhältnissen, doch konnte er sich in Paris eine theologische Bildung
einschließlich Priesterweihe verschaffen und vor allem auch humanistische
Studien betreiben. Wie so viele Humanisten dieser Jahre sympathisierte auch er
mit der Reformation und geriet 1534, als deren Unterdrückung in Frankreich
begann, kurz in Schwierigkeiten. Um 1536 war er einige Zeit Lektor (eine Art
Privatdozent) für Griechisch an der Universität von Bourges, bevor er 1540
Hauslehrer der Kinder eines Königlichen Sekretärs wurde, der als
Euripides-Übersetzer dilettierte. Über ihn erhielt er Kontakt zu König François
Ier, der ihn 1542 mit einer Übertragung von Plutarchs „parallelen
Biografien“ berühmter Griechen und Römer (ca. 110 n. Chr.) beauftragte und ihm
kurz vor seinem Tod 1547 eine einträgliche Kirchenpfründe zuwies.
Die erste Übertragung, die Amyot
erscheinen ließ, war allerdings 1548 die der Äthiopika von Heliodor (3. Jh. n. Chr.), der abenteuerreichen
Liebesgeschichte des Theagenes und der schönen Chariklea. Das ohne Nennung des
Übersetzers publizierte Buch (denn Liebesromane waren für Geistliche eher tabu)
wurde in Frankreich, und nicht nur hier, unendlich viel gelesen und nachgeahmt,
zu Theaterstücken verarbeitet (z.B. von Jean Racine, s.u.) und noch 1758 von
Voltaire (s.u.) in Candide parodiert.
Zwischen 1548 und 52 unternahm Amyot
mehrere längere Reisen nach Venedig und Rom, um dort Manuskripte seiner
griechischen Autoren einzusehen. 1554 brachte er eine Übertragung von sieben
Büchern der monumentalen Universalgeschichte des Diodoros von Sizilien († ca.
30 v. Chr.) heraus.
1557 wurde er von König Henri II und
seiner Gemahlin Catherine de Médicis zum Hauslehrer ihrer jüngeren Söhne
Charles (*1550) und Henri (*1551) bestellt. Als Charles nach dem raschen Tod
seines soeben auf den Thron gelangten älteren Bruders François II (1559-60) diesem nachfolgte,
wurde Amyot von ihm zum „Grand aumônier (=Großalmosenier) de France“ befördert.
Kurz zuvor (1559) hatte er endlich die Übertragung
herausgebracht, an der er seit langem arbeitete und die als seine wichtigste
gilt: Les vies des hommes illustres grecs
et romains, comparées l'une avec l'autre par Plutarque, eine Sammlung von
46 Biografien historischer Figuren, die paarweise (z.B. Alexander und Cäsar)
mit einander verknüpft sind. Die für heutige Begriffe sehr freie Übertragung
war offenbar dem Erwartungshorizont franz. Leser gelungen angepasst und wurde
sofort ein großer Bucherfolg. Noch zu Lebzeiten Amyots erschienen vier von ihm
überarbeitete Neuauflagen sowie jeweils zahlreiche Nachdrucke. Auch in den
nachfolgenden Jahrhunderten wurde der Plutarque
immer wieder gedruckt, war obligate Lektüre für alle Gebildeten und eine
wichtige Stoffquelle für Roman- und Theaterautoren.
Ebenfalls 1559 publizierte Amyot,
einmal mehr ohne sich zu nennen, eine Übertragung von Longos’ idyllischem
kleinen Liebesroman um die jungen Hirten Daphnis und Chloe (2. Jh. n. Chr.),
der die Schäferliteratur im Frankreich der Zeit etablieren half.
Die 1562 beginnenden Bürgerkriege
zwischen Protestanten und Katholiken tangierten ihn offenbar nicht sofort und
unmittelbar. Vielmehr konnte er eine Übertragung vermischter
moralphilosophischer Schriften Plutarchs vollenden, die 1572 unter dem Titel Œuvres morales erschien. Auch sie war
ein großer Erfolg, wurde z.B. von Montaigne (s.u.) bewundert und beeinflusste
die nachfolgende franz. Essayistik und Moralistik.
Inzwischen, 1570, war Amyot zum Bischof
von Auxerre ernannt worden. In dieser Rolle entwickelte er sich zum energischen
Verfechter eines katholisch orientierten staatlichen Zentralismus in
Frankreich, in dem er das einzige Heilmittel sah gegen die ständig neu
aufflammenden Religionskriege (deren Ende 1598 er nicht mehr erlebte).
(Stand: Jan.
11)
Louise
Labé (* gegen
1524 nahe Lyon; † 25.4.1566 nahe Lyon).
Zu ihren Lebzeiten vor allem als
emanzipierte Frau avant la lettre bekannt, gilt sie seit ihrer Wiederentdeckung
gegen Ende des 18. Jh. als eine der bedeutendsten franz. Lyrikerinnen.
Sie war Tochter aus der zweiten Ehe des
wohlhabenden Seilhändlers Pierre Charly, genannt L’Abbé oder Labé, und wuchs
auf im damals wirtschaftlich und intellektuell prosperierenden Lyon. Sie
erhielt eine für eine junge Bürgerliche der Zeit vorzügliche und vielseitige
Bildung und lernte nicht nur mehrere Sprachen sowie die Laute spielen, sondern
auch (wenn man ihrer dritten Elegie glaubt), kunstvoll zu sticken, zu reiten
und sogar zu fechten. Sie wurde sehr jung, wohl ca. 16jährig, mit dem deutlich
älteren reichen Seilfabrikanten Ennemond Perrin verheiratet und hieß fortan „la
Belle Cordière“, die schöne Seilerin.
In ihrem Salon versammelte sie die
Lyoneser Schöngeister und Literaten, z.B. den bekannten Lyriker Maurice Scève
(s.o.). Sie ließ sich von ihnen anhimmeln und animierte sie, über alle Aspekte
der Liebe und nicht zuletzt auch über die Stellung und Rolle der Frau in
Dichtung und Gesellschaft zu diskutieren und zu schreiben. Auch selbst schrieb
sie gelegentlich. 1555 stellte sie einen schmalen Sammelband ihrer Werke zusammen
und brachte ihn bei dem bekannten Lyoneser Drucker Jean de Tournes heraus unter
dem Titel Œuvres de Louise Labé,
Lyonnaise.
Nach
ihrer frühen Verwitwung (1560) zog sich Labé auf ein Landgut nahe Lyon zurück,
wo sie relativ jung verstarb. Ihr Testament ist eines der wenigen Dokumente,
die aus ihrem Leben erhalten sind.
Die knapp 200 Seiten der Œuvres enthalten (neben 24 Gedichten
befreundeter Autoren) drei Komplexe: den Prosatext Le Débat d'Amour et de Folie (=Streitgespräch
zwischen Amor und der Torheit), d.h. ein naturgemäß unernster Disput
zwischen Amor und der Torheit samt Plädoyers von Apollo und Merkur sowie dem
Schiedspruch Jupiters, weiter drei kürzere, teils autobiographische Elegien im
Stil Clément Marots (s.o.) sowie vor allem die berühmten 24 Sonette, deren 3
oder 4 besten zu den schönsten Liebesgedichten in franz. Sprache gerechnet
werden. Sie handeln von der schicksalhaften Leidenschaft eines mit der Autorin
selbst identisch suggerierten weiblichen Ich zu einem seinerseits als nur lau
vorgestellten fernen Geliebten, hinter dessen Figur sich wohl der heute
praktisch unbekannte Literat Olivier de Magny verbirgt, der sich auf der
Durchreise von Paris nach Rom eine Weile in Lyon aufgehalten hatte. Obwohl die
Sonette formal und ideell ganz den petrarkistischen Dichtungskonventionen der
Epoche entsprechen und sehr kunstvoll sind, wirken sie, wie stellenweise auch die
Elegien, insgesamt ungewöhnlich bekenntnishaft und authentisch, so dass sie
auch moderne Leser ansprechen können.
Labés
Œuvres wurden bald nach dem Erscheinen mehrfach, auch an anderen Orten,
nachgedruckt, gerieten aber schon im späten 16. Jh. in Vergessenheit. Eine
Ursache war sicher der Ausbruch der jahrzehntelangen Religionskriege 1562, ein
anderer Grund war vielleicht, dass der Reformator Calvin, der wohl im nahen
Genf von Labé gehört hatte, sie um 1560 wegen ihres relativ emanzipierten, für
eine Ehefrau leicht als unschicklich empfundenen Lebenswandels als „ordinäre
Hure“ (plebeia meretrix) geschmäht hatte und dass auch die wieder prüder
gewordenen Katholiken diese negative Wertung übernahmen. Die Wiederentdeckung
Labés wurde eingeleitet von einer Neuausgabe ihrer Œuvres um 1760. Seit der Romantik gilt sie neben Scève als die
bedeutendste Vertreterin der um 1550 blühenden sog. Lyoneser Dichter-Schule und
bedeutende Autorin überhaupt.
In Deutschland ist sie nicht unbekannt
dank der allerdings recht freien Übertragungen ihrer Sonette durch Rilke (1917
u.ö.). Z. Zt. sind sogar zwei neuere deutsche Übertragungen mit kompetentem
Nach- bzw. Vorwort im Buchhandel erhältlich. Die Nachdichtung von Paul Zech
(postum 1947 u.ö.) beruht auf der Übertragung Rilkes. Der 12teilige Zyklus Sonette
einer Verschmähten von Rudolf G. Bindung ist sichtlich ebenfalls von der
Labé-Figur Rilkes inpiriert. Auch in andere Sprachen wurden die Sonette im
19./20. Jh. erstaunlich oft übertragen.
2006 stellte eine Pariser
Literaturhistorikerin die These auf, dass die unter Labés Namen gedruckten
Werke in Wahrheit nicht von ihr selbst, sondern von anderen Lyoneser Autoren
verfasst seien (z.B. der Débat von Scève und die Sonette von Magny). Die
These ist jedoch angesichts des Fehlens von einschlägigen Dokumenten oder Zeugnissen
schwer zu erhärten. Zu einem verbesserten Verständnis der Texte führt sie
nicht.
(Stand: März 13)
Joachim du Bellay (* um 1522 auf dem Herrensitz La Turmelière in Liré bei
Angers; † 1.1.1560 in Paris).
Er gilt neben Pierre de Ronsard (s.u.)
als der bedeutendste franz. Lyriker der Mitte des 16. Jh.
Du
Bellay (alphabetisch unter D einzuordnen!) war jüngerer Sohn aus einer ärmeren
Linie eines alten Adelsgeschlechts des Anjou. Über seine jungen Jahre ist wenig
bekannt. Offenbar verlor er sehr früh seine Mutter, war mit 10 Jahren Vollwaise
und verlebte, von Kindheit an kränklich, unter der Vormundschaft seines 15
Jahre älteren Bruders eine freudlose Jugend. Eine solide Bildung erhielt er
angeblich nicht, doch will er früh gedichtet haben. 1540 begann er ein
Jurastudium in Poitiers, sicher mit der Absicht, sich für einen Posten in der
königlichen Verwaltung bzw. Gerichtsbarkeit zu qualifizieren, den er sich
erhoffen konnte dank der Protektion zweier Cousins seines Vaters: des
Heerführers Guillaume de Langey und vor allem des Bischofs von Paris und
Kardinals Jean du Bellay.
In
Poitiers fand er Anschluss an einige humanistisch gebildete Literaten, insbes.
Jacques Peletier du Mans (1517-82), und neulateinische Dichter. In diesem Kreis
verfasste er Verse, ebenfalls zum Teil auf Latein. Spätestens hier lernte er
zudem Italienisch und beschäftigte sich mit den Autoren der italienischen
Renaissance, vor allem der Lyrik von Francesco Petrarca und dessen Nachfolgern.
Vielleicht
schon 1543, bei der Beerdigung Langeys, hatte er den wenig jüngeren
Dichterkollegen Pierre de Ronsard (s.u.) kennen gelernt. Bei einer
Wiederbegegnung 1547 ließ er sich von ihm bereden, nach Paris zu kommen, um
dort mit ihm bei dem bekannten Gräzisten Jean Dorat (1508-88) am Collège de
Coqueret Studien auch der altgriechischen Literatur zu treiben. Wenig später
gründete er mit Ronsard sowie einigen anderen, heute kaum bekannten Autoren
einen Dichterkreis, den man zunächst „la brigade“ (= Trupp, Gruppe) nannte und
der später (wohl 1556) von Ronsard in „la Pléiade“ (= Siebengestirn) umgetauft
wurde.
Der Wechsel Du Bellays nach Paris trug
rasch Früchte. Schon im März 1549 publizierte er zwei bedeutsame Werke: das
programmatische Büchlein La Défense et
illustration de la langue française (= Verteidigung und Berühmtmachung der
franz. Sprache), das er seinem Verwandten, dem Kardinal, widmen durfte, sowie
die Gedichtsammlung L'Olive et quelques
autres œuvres poétiques (= die Olive und einige andere lyrische Texte).
Die Défense war ein Manifest der
Theorien und der künftigen Praxis der Brigade-Autoren und war sicher die Frucht
vieler Diskussionen in ihrem Kreis. Im ersten Teil wird das Französische zu
einer Sprache von der gleichen Dignität proklamiert wie das Griechische,
Lateinische oder auch Italienische; allerdings seien seine
Ausdrucksmöglichkeiten und damit seine Eignung als Literatursprache durch die
Dichter noch zu verbessern, und zwar vor allem durch die produktive
Anverwandlung bedeutender Werke der genannten Sprachen. Der zweite Teil ist
eine Poetik (die viele Anstöße einer im Vorjahr erschienenen Poetik des Pariser
Juristen Thomas Sébillet verdankt), d.h. eine Anleitung zum Dichten. Neu ist,
dass auch hier eine Orientierung der franz. Literatur, insbes. der Lyrik, an
den Themen und am Formenschatz der antiken sowie der inzwischen als vorbildhaft
geltenden italienischen Literatur gefordert wird, und zwar unter konsequenter
Abkehr von der eigenen, angeblich mittelalterlich-gestrigen franz. Tradition,
wie sie vor allem der eine Generation ältere Clément Marot (s.o.) und seine
Schüler repräsentierten. Die zu ihrer Zeit zwar kurz diskutierte, dann aber nur
noch mäßig beachtete Défense wurde
im 19./20. Jh. von patriotischen Literarhistorikern, denen der selbstbewusste,
quasi nationalistische Tenor Du Bellays gefiel, zu einem Schlüsseltext
stilisiert.
L’Olive war die erste Sonett-Sammlung der
franz. Literatur und, neben dem Gedichtband Délie von Maurice Scève
(1544, s.o.), eine der ersten franz. Sammlungen petrarkistischer Lyrik. Die
äußerst kunstvollen, auf heutige Leser oft manieriert wirkenden Sonette des
Bändchens inspirieren sich überwiegend an italienischen Vorbildern und kreisen
zumeist um eine unerreichbare ideale Geliebte namens Olive (deren eventuelle
reale Identität unbekannt, aber auch unerheblich ist). Hierbei nimmt Du Bellay
Gedankengut des Neoplatonismus auf, sowie gelegentlich auch christliche
Vorstellungen. Ende 1550 brachte er eine zweite, von 50 auf 115 Stücke
erweiterte Auflage heraus. Diese durfte er der Prinzessin Marguerite zueignen,
der er im Vorjahr mit einem Begrüßungsgedicht an ihren Bruder, den neuen König
(ab 1547) Henri II, aufgefallen war und die ihm auch weiterhin eine Gönnerin
blieb.
Seinen humanistischen Interessen
folgend betätigte Du Bellay sich zugleich als Vermittler lateinischer Klassiker
und ließ 1552 eine Nachdichtung von Buch IV der Äneis Vergils und andere
freie Übertragungen erscheinen. Anfang 1553 publizierte er ein weiteres
Bändchen Gedichte, Recueil de poésie
(=Gedichtsammlung).
Sein
Gesundheitszustand in diesen Jahren war offenbar prekär (Tuberkulose?); u.a.
litt er zunehmend unter Schwerhörigkeit, die ihm, dem ohnehin eher Depressiven,
das Leben zusätzlich verdüsterte. Ebenfalls prekär war seine materielle
Situation; anscheinend war er gezwungen, längere Prozesse um Besitzansprüche zu
führen.
Im April 53 ließ er sich, da er nach
dem Tod seines Bruders einen Neffen zu versorgen hatte, in die Dienste seines
Onkels zweiten Grades, Kardinal du Bellay, aufnehmen, eines hochgebildeten
Mannes, der bis kurz zuvor François Rabelais (s.o.) protegiert hatte. Wenig später
begleitete er ihn nach Rom, wohin jener, einmal mehr, als Gesandter des franz.
Königs reiste, um den Papst, d.h. den Kirchenstaat, auf die Seite Frankreichs
zu ziehen in dessen Kampf gegen Kaiser Karl V. (der auf dem 1551 beendeten
Konzil von Trient, das auf kaiserlichem Territorium stattfand, gerade seine
Macht gegenüber dem Papst demonstriert hatte).
Der Rom-Aufenthalt Du Bellays dauerte
gut vier Jahre, wobei er als Majordomus des Kardinals dessen prächtigen Palazzo
und Hausstand verwaltete. Zwar bot ihm die Stadt dank der vielfältigen
Beziehungen seines Dienstherrn neue Horizonte und bekam er Anschluss an
Literatenkreise, wobei er einen Freund gewann in dem (heute kaum bekannten)
Dichter Olivier de Magny, dem Sekretär eines anderen franz. Kardinals; doch
absorbierte ihn sein Posten offenbar mehr als erwartet, ohne, wie es ihm
schien, Karriereperspektiven zu eröffnen. Auch desillusionierten ihn die
Einblicke, die er in die Verhältnisse am päpstlichen Hof und in die große
Politik erhielt. So erlebte er 1555 zwei Papstwahlen samt ihren Intrigen
hautnah mit, zumal bei der zweiten auch Du Bellay kurz Kandidat war; und 1556
sah er enttäuscht, wie jener in Ungnade fiel bei König Henri, der ohne
Rücksicht auf ihn und die Bundesgenossen, insbes. den Papst, überraschend einen
Waffenstillstand mit dem spanischen König Philipp II. schloss, dem Sohn Kaiser
Karls, der dessen italienische Interessen weiter verfolgte.
Immerhin verfasste Du Bellay in diesen
römischen Jahren zahlreiche Gedichte. Auch hatte er ein reales Verhältnis mit
einer nicht nur idealen Faustina.
Im Spätsommer 1557 kehrte er mit dem
Kardinal zurück nach Paris, wo er von ihm mit mehreren Pfründen versorgt wurde,
deren Einkünfte er allerdings, wie üblich, mit den Priestern teilen musste, die
ihn jeweils vor Ort vertraten. Ob er sich im Hinblick auf die Übernahme solcher
Pfründen irgendwann zumindest die niederen Weihen erteilen lassen hatte,
scheint nicht bekannt. Unbedingt nötig war es nicht.
In Paris fand er wieder Anschluss an
die alten sowie auch an neue Literatenkollegen. Darüber hinaus versuchte er mit
Gedichten zu verschiedenen offiziellen und anderen Anlässen am Königshof Fuß zu
fassen, so wie dies während seiner Abwesenheit Freund Ronsard geschafft hatte,
den er sichtlich beneidete.
Die Zeit nach der Rückkehr war sehr
fruchtbar für Du Bellay. Im Januar 1558 ließ er sein wohl bedeutendstes Werk
erscheinen: Les regrets (= Klagen). Es ist eine Sammlung von 191 Sonetten mit
vielfältiger Thematik, aber einem gemeinsamen Unterton von Nostalgie,
Frustration und Desillusion. Der größte Teil der Texte ist in Rom verfasst, ein
kleinerer nach der Heimkehr. Sie beklagen, erstaunlich bekenntnishaft,
existenzielle und psychische Nöte des Autors, insbes. sein Heimweh in Rom und
die Enttäuschung seiner Karrierehoffnungen, die er dort sowie, anschließend,
auch in Paris erlebte. Andere kommentieren, zunächst meist im Vergleich mit den
vermeintlich besseren franz. Verhältnissen, aktuelle Ereignisse und Zustände
der hohen und der weniger hohen Politik in Rom. Wieder andere karikieren
sarkastisch die Höflinge dort, danach aber auch deren Kollegen am Hof in Paris,
was natürlich wenig dazu beitrug, dem heimgekehrten Autor hier Sympathien zu
verschaffen. Viele der Gedichte sind, so als wären sie Briefe, an namentlich
genannte Freunde (z.B. Ronsard) und Bekannte gerichtet. Insgesamt war der Band
der Regrets insofern neuartig und epochemachend, als er die Gattung
Sonett als geeignetes Medium nicht nur für das Thema Liebe, sondern für ein
breites Themenspektrum etablierte.
Ebenfalls im Januar 58 brachte Du
Bellay den Sammelband Divers jeux rustiques (= diverse ländliche Spiele)
heraus. Dieser enthält, ähnlich wie Ronsards Bändchen Folâtries von
1553, Gedichte der verschiedensten Gattungen und Sujets und zeigt, wie der
Titel andeutet, einen überraschend heiteren, manchmal sogar witzigen Du Bellay.
Den melancholischen wiederum bietet Le premier livre des antiquités de Rome (= Buch I der römischen Altertümer),
ein im März gedrucktes Bändchen mit 32 Sonetten. Hauptthema der ebenfalls
zumeist in Rom verfassten Gedichte sind die in der Stadt (die in der Spätantike
stark geschrumpft war) und in ihrer näheren Umgebung verstreuten antiken Ruinen
bzw. das Gefühl von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, das sie in Du Bellay
auslösten. Dasselbe Gefühl spiegeln die 15 Sonette, die unter dem Sammeltitel Songe
(= Traum) an die Antiquités angehängt sind und eine Traumvision in 15
Bildern schildern, worin jeweils eine zunächst glanzvolle Erscheinung am Ende
unrühmlich in sich zusammenfällt.
Zugleich mit den Antiquités gab
Du Bellay eine vierbändige Sammlung seiner lateinischen Gedichte heraus, von
denen einige relativ offen sein Verhältnis zu Faustina behandeln. Ende des
Jahres erschien seine Übertragung von Platos Symposion.
Ebenfalls 1558 konnte er endlich den
lange erhofften Karrieresprung verzeichnen: Er erhielt einen höheren Posten in
der Verwaltung des Erzbistums Paris. Allerdings profitierte er kaum noch
hiervon, denn er starb, depressiv und nach längerem Kränkeln, mit 37(?) an
einem Herzschlag in der Nacht vom 1. auf den 2. Jan. 1560.
Postum kamen 1561 nochmals ein Bändchen
Lyrik sowie einige andere Texte heraus. Hierunter sind einige politisch
intendierte Discours (= Reden) in Versform, mit denen Du Bellay auf die
Eskalation der innenpolitischen Spannungen gegen Ende der 1550er Jahre reagiert
hatte. Die grausame Bestrafung der sog. Verschwörung von Amboise (1560) und den
Ausbruch der Religionskriege 1562 erlebte er nicht mehr.
1568/69, in einer Friedenspause
zwischen dem Zweiten und dem Dritten Religionskrieg, erschien die erste
Gesamtausgabe seiner Werke, die mehrfach nachgedruckt wurde.
Auch aus der Distanz von fast fünf
Jahrhunderten gesehen wirken viele seiner Gedichte lebendig und authentisch,
seine Figur in ihrer Tragik sympathisch. Für sich selbst und seine Umgebung war
er zweifellos (anders als sein glücklicherer Freund und Rivale Ronsard) ein
schwieriger Fall.
(Stand: Dez. 10)
Pierre de Ronsard (* 6.9.1524 auf
dem Herrensitz La Possonnière/Vendômois; † 27.12.1585 in Croix-Val/Vendômois).
Obwohl von den Zeitgenossen als “prince
[Fürst] des poètes“ hoch geschätzt, geriet er bald nach 1600 in Vergessenheit.
Seit seiner Wiederentdeckung durch die Romantiker gilt er als der bedeutendste
franz. Lyriker der 2. Hälfte des 16. Jh.
Ronsard war jüngerer Sohn eines
gebildeten und literarisch dilettierenden Adeligen, der sich als Offizier in
den Italienkriegen der Könige Louis XII und dann François Ier hervorgetan hatte und von 1526 bis 1530, also während der
frühen Kindheit Pierres, länger von seiner Familie getrennt war, weil er den
beiden ältesten Söhnen von König François als Haushofmeister diente, während
sie in Madrid von Kaiser Karl V. als Geiseln festgehalten wurden nach dessen
Sieg in der Schlacht bei Pavia (1525).
Nachdem er zunächst von seinem Vater
unterrichtet worden war, wurde Ronsard mit 9 aus dem ländlichen Schlösschen der
Familie ins ferne Paris geschickt, um dort als Internatsschüler das Collège de
Navarre zu besuchen. Schon nach sechs Monaten holte man ihn jedoch wieder heim.
Mit 12 kam er erneut in die Hauptstadt, diesmal an den Hof. Hier wurde er,
sicher dank der Nähe seines Vaters zum König und zu dessen Söhnen, Page bei dem
ältestem, dem Thronfolger. Als dieser wenig später starb, wurde er dem dritten
Königsohn, Charles, zugewiesen. Nicht lange danach, im Sommer 1537, wurde er an
die 17jährige Tochter des Königs, Madeleine, weitergereicht, die soeben mit dem
jungen schottischen König James Stuart verheiratet worden war. In ihrem Gefolge
fuhr er nach Schottland und blieb dort bis zu ihrem frühen Tod (1538). Die
Heimreise führte ihn auf dem Landweg durch England und Flandern. Mit 14 zurück
in Paris, wurde er wieder Page bei Charles. 1539 kam er erneut nach Schottland,
diesmal im Gefolge der neuen Braut des Schottenkönigs, Marie de Guise.
1540 begleitete er den franz.
Diplomaten Lazare de Baïf, einen Verwandten, auf einer dreimonatigen Reise ins
westliche deutsche Reich, u.a. ins Elsass, von wo aus jener Kontakt mit protestantischen
deutschen Fürsten aufnehmen sollte, um sie als Bundesgenossen Frankreichs gegen
Kaiser Karl V. zu gewinnen. Über den hochgebildeten Baïf kam Ronsard mit humanistischem
Gedankengut in Berührung.
Von der Reise zurück, erlitt er eine
Krankheit (Mittelohrentzündung?), die ihn „halb taub“ (einseitig ganz taub? beiderseits schwerhörig?) werden ließ. Er
gab deshalb die bis dahin wohl angestrebte Offiziers- und/oder Höflings- und
Diplomatenlaufbahn auf und kehrte nach Hause zurück. Hier las er, insbes.
lateinische Literatur, und übte seine Feder an franz. und lateinischen Versen
sowie an Nachdichtungen von Texten der großen römischen Dichter Vergil (ca. 70
– ca. 20 v. Chr.) und vor allem Horaz (ca. 65 - ca. 8 v. Chr.).
Mit 18 (1543) ließ er sich die niederen
Weihen erteilen, um bei Gelegenheit eine oder sogar mehrere Kirchenpfründen
bekommen zu können, über die die franz. Könige das Verfügungsrecht hatten und
mit denen sie vorzugsweise jüngere Söhne adeliger Familien versorgten. Im
selben Jahr zeigte er seine Nachdichtungen horazischer Oden dem etwas älteren
Humanisten Jacques Peletier du Mans, der ihn ermutigte.
1545, nach dem Tod des Vaters, ging er
zurück nach Paris. Hier fand er Aufnahme bei Baïf und nahm teil an dem Unterricht, den
dessen (gut sieben Jahre jüngerer) Sohn Jean Antoine von seinem Hauslehrer
erhielt, dem Gräzisten Jean Dorat (1508-1588). Beide Schüler folgten Dorat, als
er 1547, nach dem Tod Baïfs, Direktor des humanistisch ausgerichteten Pariser Collège
de Coqueret wurde. Ronsard mietete sich sogar bei Dorat ein und begann unter
seinem Einfluss, Oden auch des altgriechischen Autors Pindar (521-441) nachzudichten.
Vielleicht schon 1543, bei einer
Beerdigung, hatte er den wenig älteren Joachim du Bellay (s.o.) kennengelernt,
der ähnliche Interessen verfolgte wie er. Ende 1547 traf er ihn auf einer Reise
wieder und beredete ihn, ebenfalls nach Paris zu kommen, um bei Dorat in die
Schule zu gehen. Zweifellos war er hiernach ein wichtiger Diskussionspartner Du
Bellays und somit beteiligt an der Konzeption von dessen programmatischer
Schrift La Défense et illustration de la langue française (=Verteidigung und Berühmtmachung der frz. Sprache, s.o.),
die Anfang 1549 erschien.
Im selben Jahr 49 schlossen sich
Ronsard, Du Bellay, Jean Antoine de Baïf, Dorat sowie einige weitere
humanistisch interessierte Literaten zu einem Kreis zusammen, den sie zunächst
„La Brigade“ = Schaar, Gruppe nannten (und der um 1556 von Ronsard, der rasch
zum informellen Chef avancierte, auf sieben Mitglieder eingegrenzt und in „La
Pléiade“ = Siebengestirn umgetauft wurde).
1550 publizierte er seine bis dahin
verfassten Oden in dem Sammelband Les quatre premiers livres des Odes,
dem er 1552 eine Fortsetzung folgen ließ als Le cinquième livre des Odes.
Der Publikumserfolg der Oden, mit denen
er eine neue Gattung in der franz. Literatur heimisch zu machen und sich selbst
als „erster französischer lyrischer Autor“ (Vorwort) zu etablieren gedachte,
war geringer als erhofft. Zwar behandelten die Texte in einer Vielfalt von Formen
eine Vielzahl von Themen, z.B. das Preisen mehr oder weniger bedeutender
Personen (à la Pindar), das Lob schöner Natur oder des Glücks eines einfachen,
den Augenblick genießenden Lebens in ländlicher Idylle (à la Horaz). Doch waren sie - vor allem die pompösen pindarischen Oden
von Buch I und Buch V – häufig mit Gelehrsamkeit überfrachtet und zielten
sichtlich mehr auf den Beifall der Freunde als einer breiteren
Leser-/Hörerschaft. Zumal der Hof, zu dem Ronsard als Jugendgefährte des seit
1547 herrschenden Königs Henri II Zutritt hatte, reagierte kühl und bevorzugte
die gefälligen Gedichte, wie sie insbes. der quasi offizielle Hofdichter Mellin
de Saint-Gelais im Stil Clément Marots (s.o.) produzierte.
Ronsard nahm sich die Lektion zu
Herzen. So ließ er noch 1552 unter dem Titel Les Amours de Cassandre
einen Sammelband seiner neben den Oden verfassten Liebesgedichte – fast
ausschließlich Sonette – erscheinen. In
ihnen besingt er eine gewisse Cassandra Salviati, die er am 21. April 1545 bei
einem Hoffest in Blois als 13jähriges Mädchen in einer ähnlich flüchtigen
poetischen Szene erblickt haben will wie Dante seine Muse Beatrice oder
Petrarca am 6. April 1327 seine Laura. Wie weit diese Fernliebe echt empfunden
war oder nur imaginiert, ist kaum zu entscheiden. Ein wichtiger Ansporn für
Ronsard war sicher der Umstand, dass sein Freund Du Bellay schon vor ihm
begonnen hatte, eine Muse namens Olive in Sonetten zu bedichten, die 1549 und
1550 als die erste Sammlung petrarkistischer Liebessonette in Frankreich
erschienen waren.
Die Gedichte der Amours trafen,
obwohl sie im manieristischen Stil des Petrarkismus der Zeit gehalten waren,
den Geschmack am Hof schon besser als die Odes. Vor allem aber näherte
Ronsard sich mit den Texten, die er anschließend schrieb, dem Stil Marots und
seiner Schule an, den er in der Vorrede zu den Odes noch herablassend
kritisiert hatte, um sich stolz als Jünger der Griechen und der Römer zu
präsentieren. Darüber hinaus imitierte er, neben Horaz, nun auch Anakreon, d.h.
die von Liebe, Wein und Lebenslust handelnden Lieder, die (fälschlich, wie man
heute weiß) dem alten Griechen Anakreon zugeschrieben wurden und die sein
Brigade-Freund Henri Estienne gerade herausgab (ersch. 1554), während sich
zugleich ein weiterer Brigade-Freund, Rémi Belleau, mit ihrer Übertragung
befasste (ersch. 1556).
Ronsards Hinwendung zu einem breiteren,
wenngleich überwiegend höfischen Publikum zeigen auch die nächsten Sammelbände.
Sie vereinen in bunter Mischung längere Oden sowie kürzere „Ödchen“ (odelettes),
Sonette, Lieder, Elegien, Epigramme und andere Gedichte verschiedener Gattungen
und unterschiedlichster Thematik. Ihre Titel lauten bezeichnenderweise Le Livret des folâtries, 1553 (=das Büchlein der Späße), Le
Bocage, 1554 (=das Wäldchen) und Mélanges, 1554 (=Vermischtes).
Ronsards Bemühungen wurden nicht nur
durch die Gunst des Publikums belohnt, sondern auch von König Henri, der ihm
1553 einige Pfründen zuwies (die kumulierbar waren). Hiermit war er finanziell
erfreulich unabhängig, so dass er z.B. seine unmündigen Nichten und Neffen
unterstützen konnte, als 1556 sein älterer Bruder verstarb.
1555 hatte er wieder ein Bändchen
Liebesgedichte zusammen, die er als La Continuation [Fortsetzung] des Amours
in Druck gab. 1556 ließ er ein weiteres Bändchen folgen: La nouvelle [neue]
continuation des Amours. Beide enthalten Gedichte unterschiedlicher Form,
die in einem natürlicher wirkenden „niederen“ Stil anfangs noch Cassandre
besingen und später ein einfaches Mädchen namens Marie, die Ronsard Anfang 1555 als 15-Jährige kennengelernt
hatte.
Ebenfalls 1555 und 56, aber wie ein
Kontrastprogramm, ließ er zwei Bände mit dem Titel Innes (= Hymnen) erscheinen.
Denn er pflegte seit einiger Zeit eine weitere Versgattung nach griechischem
Vorbild: längere Texte in paarweise reimenden Zehnsilblern oder Alexandrinern
zum Lobpreis bedeutender Personen am Hof, z.B. des Kanzlers Michel de
l’Hospital, aber auch mythologischer Figuren oder abstrakter Wesenheiten wie
die Ewigkeit oder der Tod. Die Innes trugen sehr dazu bei, das Ansehen
Ronsards am Hof zu erhöhen.
1558, nach dem Tod von Saint-Gelais,
bekam er dessen Amt eines „conseiller et aumônier du roi“ (Königlicher Rat und
Almosenier) übertragen. Zugleich fiel ihm wie selbstverständlich die Rolle
eines Hofdichters zu, der zu vielerlei Anlässen Gelegenheitsgedichte
produzierte.
Auch nach dem Unfalltod von Henri II
(1559) blieb die Position Ronsards am Hof intakt. 1560 erhielt er von dem neuen
jungen König François II (1559-60) bzw. der Königinmutter und Regentin
Catherine de Médicis weitere Pfründen und war damit ein wohlhabender Mann.
Ebenfalls 1560 ließ er eine erste
Gesamtausgabe seiner Werke erscheinen, die er in vier Sektionen bzw. Bände einteilte:
Les Amours, Les Odes, Les Poèmes (Gedichte verschiedenster
Art) und Les Hynnes. Diese Einteilung behielt er in den nächsten
Neuausgaben bei, wobei er die zwischenzeitlich neu entstandenen Gedichte
jeweils in die passenden Sektionen einfügte.
1561 präsentierte er dem neuen, erst
12jährigen König Charles IX (1560-74) ein Lehrbuch für junge Monarchen (Institution
[Unterweisung] pour l’adolescence du Roi). Das in Alexandrinern verfasste
Büchlein zielte zweifellos vor allem auf den Beifall der Regentin. Den
verdeckten Hintergrund bildete allerdings die innenpolitische Situation in
Frankreich, wo seit dem Vorjahr 1560 die Spannungen zwischen Katholiken und
Reformierten stark eskaliert waren.
Als 1562 offener Bürgerkrieg ausbrach,
konnte Ronsard, der sich bis dahin eher als ein Hohepriester der Dichtkunst
gesehen hatte, die Politik nicht mehr nur indirekt behandeln. Da er offenbar
der Reformation nicht völlig ablehnend gegenüber gestanden hatte, versuchte er
zunächst ausgleichend zu wirken und veröffentlichte in diesem Sinne als
Broschüren mehrere „Reden“ (discours) in gereimten Alexandrinern: D. à la Reine (=Rede an die Königin); D. sur les misères de ce temps (=Rede über die Nöte der Gegenwart); Rémontrance au peuple de France
(=Mahnung an das franz. Volk; alle 1562). Wenig später allerdings engagierte er
sich entschieden auf Seiten der katholisch gebliebenen Krone und wurde zum
gefürchteten Pamphletisten, wobei er sicher auch an seine hübschen
Kirchenpfründen dachte, die er als Protestant hätte aufgeben müssen. Als ihm
die Gegenseite, um ihn zu diskreditieren, einen Hang zum Wohlleben vorwarf,
konterte er mit der Réponse aux injures
et calomnies de je ne sais quels prédicantereaux et ministreaux de Genève
(=Antwort auf die Anwürfe und Verleumdungen irgendwelcher [protestantischer]
Genfer Prediger- und Priester-Laffen, 1563). Naturgemäß war er hiermit für die
Protestanten abgestempelt als katholischer Autor.
1564 und 1566 begleitete er Charles IX
und die Königinmutter auf zweien ihrer nur kurzfristig erfolgreichen
Befriedungsreisen in die Provinz. Zwischendurch, 1565, publizierte er jedoch
auch wieder Unpolitisches: den Gedichtband Élégies, mascarades et bergeries
[Schäfereien], der vor allem Gelegenheitslyrik aus seiner Rolle als
Hofdichter enthält, sowie einen Abrégé de l'art poétique [=Abriss der
Dichtkunst], worin er grosso modo das Programm der Pléiade resümiert.
Nach 1566 zog er sich aus der Politik
wieder zurück und weilte immer häufiger in seinem Priorat Saint-Cosme in der
Touraine, das er 1565 erhalten hatte. Hier stellte er 1567 eine neue
Gesamtausgabe seiner Werke fertig, der er 1569 zwei Bändchen mit diversen
„poèmes“ folgen ließ.
Anschließend machte er sich an das
große Projekt seines Lebens: das Versepos La Franciade. Schon 1550 hatte
er Henri II den Plan eines Epos um den legendären Frankenreichgründer Francus
unterbreitet, das sich inspirierte an den Illustrations de Gaule et
singularités de Troye von Jean Lemaire de Belges (1511-13, s.o.). Jetzt,
fast 20 Jahre später, nahm er das Werk endlich in Angriff, nicht zuletzt mit
der Absicht, dem konfessionell gespaltenen und soeben in den Dritten
Religionskrieg (1569/70) gerutschten Frankreich ein nationales Epos nach dem
Muster von Vergils Aeneis zu geben. 1572 gab er 4 von 24 geplanten
Gesängen in Druck, sie erschienen wenige Tage vor dem Protestantenmassaker der
Bartholomäus-Nacht (22./23. August). Hiernach brach er die Arbeit ab. Sichtlich
hatten sich seine Hoffnungen auf eine innere Befriedung Frankreichs als Illusion
erwiesen. Vielleicht auch sah er, dass er letztlich doch kein Epiker war. Zudem
hatte sich wohl der Zehnsilbler, den er auf Vorschlag König Charles als Metrum
gewählt hatte, als nicht recht geeignet erwiesen. Hinzu kam vermutlich aber
auch, dass er selbst sowie sein Publikum sich nur noch mühsam erwärmen konnten
für die apokryphe Figur des Francus, jenes erst im Mittelalter erfundenen
Sohnes des trojanischen Helden Hektor, der sich zusammen mit dem legendären
Rom-Gründer Äneas aus dem brennenden Troja gerettet und seinerseits „Francia“
und sogar die Dynastie der Kapetinger gegründet habe. Denn inzwischen (1560)
war das sehr erfolgreiche Buch Recherches
de la France von Étienne Pasquier (s.u.) erschienen, das die Vorstellungen
der Franzosen rasch in dem Sinne veränderte, dass nicht irgend ein Francus (und
auch nicht die Römer) ihre Urväter seien, sondern die keltischen Gallier. Die
später an den Schluss des Epos angefügte Begründung Ronsards, der Tod von
Charles IX (1574) habe ihm den Mut zur Vollendung des Werkes genommen, ist
sicher eher vorgeschoben.
Nach dem Scheitern der Franciade und angesichts der fast
pausenlosen Religionskriege, aber wohl auch des Umstands, dass ihn der neue
König Henri III (seit 1574) nicht gebührend schätzte, zog Ronsard sich zurück
auf seine beiden Lieblingspfründen Saint-Cosme nahe Tours und Croixval im
Vendômois. Hier überarbeitete er seine Werke im Hinblick auf eine weitere (die
inzwischen fünfte) Gesamtausgabe. Sie erschien 1578 und enthielt als neue
Elemente der Sektion Les Amours eine Serie melancholischer Gedichte über
den Tod Maries und vor allem die rd. 130 Sonnets
pour Hélène. Mit diesen Gedichten auf Hélène de Surgères, eine Ehrenjungfer
der Königinmutter, feierte Ronsard ein spätes, so überraschendes wie
anrührendes Comeback als Liebeslyriker.
Zunehmend kränklich, überarbeitete er
in den folgenden Jahren nochmals grundlegend das Korpus seiner Werke, wobei er
allerdings, wie schon bei den vorangehenden Überarbeitungen, manche heute als
gelungen erscheinende Texte tilgte und andere eher verschlimmbesserte. 1584
ließ er die sechste und letzte Gesamtausgabe erscheinen,
die als Bocage royal eine weitere Sektion vermischter Gedichte enthielt.
Daneben und danach schrieb er, wie
immer, auch Neues. Seine letzten Gedichte, die er z.T. angesichts des nahen
Todes verfasste, kamen postum 1586 als Les derniers vers heraus.
Trotz
seines Ruhmes und seiner tonangebenden Rolle zu Lebzeiten geriet Ronsard
relativ rasch in Vergessenheit. Grund waren nicht zuletzt die abwertenden
Urteile, die eine bzw. zwei Generationen später die Literatur-Gurus François de Malherbe
(s.u.) und Nicolas Boileau (s.u.) über ihn fällten. Die Romantiker entdeckten
den im engeren Sinne lyrischen Teil seines Schaffens wieder und die
Literarhistoriker des 19./20. Jh. wiesen ihm den insgesamt sehr hohen Rang zu,
den er sich selbst schon im Schlussgedicht der Odes zuerkannt hatte.
(Stand: Apr. 12)
Étienne Pasquier (* 7.6.1529 Paris;
† 30.8.1615 ebd.).
Für die Zeitgenossen und die Nachwelt
war und ist er vor allem der Autor der Recherches
de la France (=Forschungen über Frankreich), eines teils
historiographischen, teils essayistischen Werkes, das erstmals 1560 und dann
1565, 1596, 1607 sowie postum 1621 in überarbeiteten und um neue Kapitel erweiterten
Versionen erschien und eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung der
nationalen Identität der Franzosen gespielt hat.
Pasquier stammte aus dem gebildeten
Pariser Bürgertum und studierte Jura in Paris und Toulouse sowie in Bologna und
Pavia, wo er neben seiner juristischen auch seine humanistische Bildung
vervollkommnete und sich mit der seinerzeit als vorbildhaft geltenden
italienischen Literatur beschäftigte. Hier aber auch, im gerade zwischen
Frankreich und Deutschland/Spanien umkämpften Italien, wurde er sich seiner
Identität als Franzose bewusst.
1549 zurück in Paris, erhielt er die
Zulassung als Anwalt am Obersten Pariser Gericht, dem Parlement. Neben seiner
offenbar nicht absorbierenden Tätigkeit als Jurist verkehrte er mit Autoren der
Dichtergruppe der Pléiade, u.a. Ronsard (s.o.) und Du Bellay (s.o.), und
publizierte diverse kleinere Texte, in denen er häufig das idealistische
neoplatonische Liebesideal hinterfragt und diesem modischen Import aus Italien
die realistischere Sicht des Franzosen entgegensetzt.
Vor allem aber verfolgte er das Thema
Frankreich, genauer das des Werdens und der Identität der franz. Nation, deren
innerer Zusammenhalt durch die seit 1534 zunehmende konfessionelle Spaltung
gefährdet war. Hierbei sah Pasquier die Wurzeln der Nation nicht, wie bis dahin
üblich, bei den Römern oder den Franken oder gar dem legendären Trojaner
Francus, sondern bei den keltischen Galliern. Entsprechend war sein Hauptziel
der Nachweis einer geradezu exemplarischen konstitutionellen und kulturellen
Eigenständigkeit Frankreichs, die schon bei den Galliern angelegt gewesen, nach
dem Intermezzo der Römerzeit wiederbelebt und dann von Königen, intellektueller
Elite und Volk kontinuierlich weiterentwickelt worden sei. Mit diesen durchaus
nationalistische Züge tragenden Vorstellungen, die er in den Recherches
ausführte, propagierte Pasquier zugleich die Idee, dass die Belange der in
Jahrhunderten organisch gewachsenen Nation Vorrang hätten vor den wechselnden
Partikularinteressen und insbes. vor der konfessionell motivierten
Parteilichkeit, mit der Katholiken und Protestanten ihr Vaterland spalteten und
sogar auswärtige Mächte wie England oder Spanien in ihren Konflikt hineinzogen.
Mit seiner Idee vom Vorrang des
Interesses der Nation war Pasquier einer der ersten „Politischen“ (politiques),
d.h. jener bald wachsenden Zahl überkonfessionell denkender Intellektueller und
Amtsträger, die angesichts der seit 1562 immer wieder aufflammenden
Religionskriege Frankreich zu befrieden versuchten, dies allerdings erst 1598
unter dem vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierten König Henri IV1) schafften.
1564 machte Pasquier von sich reden
durch ein fulminantes Plädoyer für die traditionsreiche, so typisch
französische Pariser Universität und gegen die ultramontan orientierten
Jesuiten, die gerade das neuartige Collège de Clermont gegründet hatten. Mit
seiner Schelte der quasi vaterlandslosen Jesuiten hatte er ein Thema gefunden,
das ihn immer wieder beschäftigen sollte, z.B. 1602 mit dem sarkastischen Catéchisme des Jésuites, dem später
Blaise Pascal (s.o.) manche Anregung für seine anti-jesuitischen Lettres provinciales (1656-57) entnahm.
1585 wurde Pasquier (sicherlich auch
dank dem Erfolg der Recherches)
Generalstaatsanwalt am königlichen Rechnungshof, was er zwei Jahrzehnte lang
blieb. Auch dieser Posten absorbierte ihn sichtlich nicht völlig, denn neben
diversen kleineren, häufig polemischen Texten publizierte er ab 1586 viele
Bände literarischer Briefe, die mit denen des Römers Plinius oder des Italieners
Claudio Tolomei rivalisieren sollten.
1588 bis 94 war Pasquier Abgeordneter
der Stadt Paris bei der intermittierend tagenden Versammlung der Generalstände
in Blois.
Mit seinem Werdegang war er ein typischer
Vertreter des neuen Amtsadels, der „noblesse de robe“, d.h. einer aus der
königlichen Justiz- und Verwaltungselite samt ihren Familien bestehenden
Schicht zwischen dem höheren Bürgertum und dem älteren Adel, der „noblesse
d'épée“ (Schwertadel).
Vielleicht könnte man Pasquier, mit
seiner Hervorhebung der keltischen Ursprünge Frankreichs, als den entfernten
geistigen Vater der urkeltischen Ur-Franzosen Astérix und Obélix betrachten.
(Stand: Jan. 11)
1) Henri IV, König von 1589 bis 1610.
Der 1553 geborene Henri de Navarre (Enkel von Marguerite de Navarre) stammte
aus einer Seitenlinie des franz. Königshauses und war ursprünglich Protestant,
ab 1576 sogar Chef des protestantischen Lagers. Als 1584 der präsumptive
Nachfolger des kinderlosen Königs Henri III, dessen jüngerer Bruder François
d'Alençon, starb und 1589 Henri selbst ermordet wurde, war Henri de Navarre die
Nr. 1 in der Rangfolge der Thronanwärter. Er musste jedoch sein Anrecht auf den
Thron in jahrelangen Kriegen gegen die von Spanien und Savoyen unterstützte
Katholische Liga und deren Gegenkönig Charles de Bourbon durchsetzen. 1594,
also einige Jahre nach seinem Griff nach der Krone konvertierte Henri mit dem
berühmten Satz „Paris vaut bien une messe!“ (Paris ist eine Messe wert), und
nach seinem endgültigen Sieg über die Liga (1598) verstand er es, Frankreich zu
befrieden, nicht zuletzt durch das Toleranzedikt von Nantes, das den
Protestanten Religionsfreiheit und volle Bürgerrechte einräumte. 1610 wurde
auch er von einem religiösen Fanatiker ermordet. Henri IV ging als besonders
volkstümlicher Herrscher, „le bon roi“, in die franz. Geschichte ein und ist
bis heute jedem auch nur halbwegs gebildeten Franzosen ein Begriff. Legendär
war er auch als „l’amant vert“ (der jugendlich vitale Liebhaber).
Jean
Bodin (*1529
oder 1530 in Angers ; † 1596 in Laon)
Er gilt als der erste franz.
Staatstheoretiker von Rang. Sein Hauptwerk Les six livres de la république /
Sechs Bücher über den Staat wird als einer der Gründungstexte der
Politikwissenschaft betrachtet.
Bodin wuchs auf in kleinbürgerlichen
Verhältnissen (als Sohn eines Schneiders?) in Angers. Er konnte sich aber eine
passable Bildung verschaffen, offenbar bei den Karmelitermönchen seiner Stadt,
wo er auch Novize wurde. Die gelegentlich zu findende Information, er habe sich
zeitweilig in Genf aufgehalten und sei 1547/48 in Ketzerprozesse verwickelt
gewesen, betrifft vielleicht einen sonst unbekannten Namensvetter.
1549 verließ er das Kloster, ohne das
Gelübde abzulegen, und ging nach Paris. Hier trieb er theologische Studien,
hörte aber auch am jungen Collège des trois langues und kam so mit dem
Humanismus in Kontakt. Er kehrte der Theologie den Rücken und studierte und
lehrte im weiteren Verlauf der 1550er Jahre Recht in Toulouse, wobei er sich
besonders für den Vergleich von Rechtssystemen interessierte.
1561 ließ er sich in Paris nieder und
erhielt hier die Zulassung als Anwalt am Obersten Gericht, dem Parlement.
Seine rechts- und staatstheoretischen
Interessen verfolgte er in Paris auch nach Beginn der sog. Religionskriege
(1662) weiter. 1566 publizierte er eine erste Schrift, Methodus ad facilem
historiarum cognitionem (= Methode zum leichten Begreifen der Geschichte),
worin er aufzeigt, dass historische Kenntnisse, insbes. der verschiedenen Rechtssysteme,
nützlich sein können für die Gesetzgebung der Gegenwart.
Sein nächstes Werk, Réponse de J. Bodin aux paradoxes de M. de
Malestroit, erschien 1568: Hierin analysiert er als offenbar erster quasi
wissenschaftlich das vor dem 16. Jh. unbekannte Phänomen der Inflation oder
schleichenden Geldentwertung und erklärt es zutreffend, wenn auch zu
monokausal, aus der starken Vermehrung der Zahl der Silbermünzen, die vor allem
mit dem Silber geprägt wurden, das reichlich aus den spanischen Kolonien in
Amerika kam. Vermutlich war Bodin mit seinen Thesen nicht unbeteiligt daran,
dass 1577 König Henri III (letztlich vergeblich) per Erlass versuchte, den Wert
der Silbermünzen (livres) im Verhältnis zum Goldtaler (écu) zu stabilisieren.
Von März 1569 bis August 1570, während
des inzwischen Dritten Religionskrieges, war er in Paris inhaftiert, vielleicht
jedoch in einer Art Schutzhaft, um ihn, der offenbar als verkappter Protestant
verdächtigt wurde, den Verfolgungen katholischer Eiferer zu entziehen. Danach
gehörte er zu dem hochkarätigen Berater- und Diskussionskreis um Prinz François
d'Alençon (bzw. ab 1576 d’Anjou), den ehrgeizigen vierten und jüngsten Sohn von
Henri II, der sich 1574, beim Tod seines zweitältesten Bruders König Charles IX
schon auf dem Thron sah, dann aber zugunsten des drittältesten Bruders Henri
III zurückstehen musste, weil der die ihm gerade angetragene Königskrone von
Polen ausschlug und nach Paris zurückkam.
Die 1560er und 70er Jahre waren in
Frankreich, aufgrund des Unfalltodes von König Henri II (1559) und der Jugend
der drei Söhne, die ihm kurz nacheinander auf dem Thron folgten, eine Zeit der
Schwäche der Monarchie und damit zugleich eine Zeit zentrifugaler Tendenzen,
die durch die konfessionelle Spaltung des Landes verstärkt wurden und ab 1662
immer wieder religiös verbrämte Bürgerkriege ausbrechen ließen. Da in diesen
Kriegen die Monarchie sich letztlich immer wieder auf die Seite des
katholischen Lagers schlug, versuchte das protestantische Lager, die
Herrschaftsrechte des Monarchen einzuschränken oder ganz in Zweifel zu ziehen.
In diesen Jahren allgemeinen Streites um die beste Staatsform, aber auch unter
dem Eindruck von grausamen Ereignissen wie insbes. den Potestantenmassakern der
Bartholomäusnacht (1572) konzipierte Bodin sein bedeutendstes Werk, Les six livres de la république (1576).
Mit
ihm versuchte er einen mittleren Weg einzuschlagen zwischen dem von vielen
Katholiken vertretenen Macchiavellismus, wonach ein Herrscher die Pflicht und
damit das Recht habe, ohne moralische Rücksichten zum Vorteil seines Staates zu
handeln, und dem von protestantischen Theoretikern vertretenen Ideal einer
Volksherrschaft oder zumindest einer Wahlmonarchie. Ausgehend von der neuartigen These,
dass das Klima eines Landes den Charakter seiner Einwohner präge und damit auch
die für sie geeignetste Staatsform in weitem Umfang vorgebe, postuliert er als
ideales Regime für das klimatisch gemäßigte Frankreich die erbliche Monarchie.
Hierbei soll der Monarch/König „souverän“, d.h. keiner anderen Instanz unterworfen
sein, allerdings einer gewissen Kontrolle unterliegen durch Institutionen wie
die Obersten Gerichtshöfe (Parlements) und die Ständeversammlungen (États). Vor
allem jedoch soll er „nur Gott verantwortlich“ sein, d.h. über den
konfessionellen Parteien stehen. Mit seinem Postulat einer durch Erblichkeit
legitimierten, souveränen und religiös neutralen Monarchie reagierte Bodin auf
das Problem, dass die die jungen Könige bzw. die sie dominierende Königinmutter
und Regentin Catherine de Médicis nicht zuletzt deshalb die Bürgerkriege nicht
zu beenden schafften, weil die Krone seit 1534 fast immer auf Seiten der
Katholiken stand somit nicht als schlichtende überparteiliche Instanz auftreten
konnte.
Die Six livres waren sofort sehr
erfolgreich und wurden umgehend mehrfach nachgedruckt. 1586 erschien eine
erweiterte und vom Autor selbst überarbeitete lateinische Version. Mit seinem
Buch gehörte Bodin zu den Begründern der Bewegung der pragmatisch gesonnenen
„Politischen“ (politiques), die in den Folgejahren an Einfluss gewannen und
schließlich, unter König Henri IV, das Ende der Religionskriege und den Erlass
des Toleranzedikts von Nantes (1598) erreichten.
Nach dem Scheitern der Hoffnungen
von François d’Alençon hatte Bodin sich dem neuen König Henri III angeschlossen.
Dessen Gunst verlor er aber, als er 1576 als Delegierter des Dritten Standes
auf dem Ständetag von Blois versuchte, mäßigend auf die katholische Partei
einzuwirken und die Gewährung finanzieller Sondermittel für den König zu
verhindern, die einer einer intensiveren Kriegsführung dienen sollten. Er zog
sich aus der Politik zurück und verheiratete sich in Laon. Im selben Jahr 76
wurde er dort Nachfolger seines Schwiegervaters im Amt des königlichen
Generalleutnants und Staatsanwaltes.
Zweifellos motiviert durch sein Amt
entwickelte er ein besonderes Interesse für Hexenprozesse. 1580 nämlich
publizierte er ein weiteres sehr erfolgreiches, in mehrere Sprachen (auch ins
Deutsche) übersetztes Werk, das in Literaturgeschichten gerne übergangen wird: La Démonomanie des sorciers (= die Dämonenmanie der Hexer). Es
ist ein Handbuch der Hexer- und Hexenkunde samt Ratschlägen und
Argumentationshilfen für die mit Prozessen befassten Richter, die nach Bodin
vor Todesstrafen nicht zurückscheuen dürfen. (Laut einer Interview-Aussage der
Historikerin Martine Ostorero in Le Monde vom 5.9.08 waren die Jahre
1560 bis 1630 die hohe Zeit der Hexenprozesse in Mitteleuropa.)
1581 trat Bodin noch einmal in den
Dienst von Prinz François d’Alençon und hielt sich mehrere Monate in England
auf, um dort über eine Eheschließung seines Herrn mit Königin Elisabeth zu
verhandeln.
In politisch-ideologischer Hinsicht
blieb er seiner Tendenz zu Pragmatismus und Toleranz treu. Hiervon zeugt (wenn,
was manche Forscher bezweifeln, er der Autor ist) ein als Manuskript erhaltenes
Werk: das Colloqium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis.
Dieses „Siebenergespräch über die verborgenen Geheimnisse der erhabenen Dinge“
zeigt eine friedliche Diskussion unter sieben Vertretern verschiedener
Religionen und Weltanschauungen, die sich am Ende auf die grundsätzliche
Gleichwertigkeit ihrer Überzeugungen einigen.
In den Kriegen, mit denen nach 1584,
dem Tod von François, die Katholische Liga die Ansprüche des zunächst noch
protestantischen Henri IV auf die Thronfolge abzuwehren und einen
Gegenkandidaten durchzusetzen versuchte, stand Bodin anfangs auf Seiten der
mächtigen Liga, deren raschen Sieg er wohl für unausweichlich hielt.
Er starb in einer der zahlreichen
Pestepidemien, die das von den jahrzehntelangen Bürgerkriegen geschwächte
Frankreich immer wieder heimsuchten.
(Stand: Dez. 10)
Étienne de La Boétie (gesprochen: laboeßi ; * 1.11.1530 in
Sarlat/Dordogne ; † 18.8.1563 nahe Bordeaux)
Dieser Jurist, Humanist
und Gelegenheitsautor ist heute praktisch nur noch als enger Freund Montaignes
(s.u.) bekannt. Zu seiner Zeit war er jedoch sehr einflussreich mit seiner um
1550 entstandenen, lange Zeit nur anonym verbreiteten kleinen Schrift Discours
de la servitude volontaire (=Rede/Abhandlung über die freiwillige
Knechtschaft), die die Protestanten bestärkte in ihrem Kampf gegen die
Unterdrückung durch die franz. Krone.
La Boétie
entstammte dem niederen Beamtenadel der Bischofsstadt Sarlat. Er erhielt eine gute
Bildung, u.a. auf dem renommierten Collège de Guyenne in Bordeaux, und
interessierte sich früh für die klassischen griechischen und lateinischen
Autoren. 1548 erlebte er zweifellos aus der Nähe mit, wie, nachdem der neue
König Henri II auch in Südwestfrankreich die Salzsteuer eingeführt hatte, dort
Revolten ausbrachen und durch königliche Truppen blutig niedergeschlagen
wurden.
Um
dieselbe Zeit begann er ein Jurastudium an der Universität von Orléans. Zu
seinen Professoren gehörte Anne du Bourg, der einige Jahre später Gerichtsrat
(„Conseiller“) am Parlement von Paris wurde und dort offensiv für die Rechte
der Protestanten eintrat, was ihm 1559 einen Ketzerprozess und die Todesstrafe
eintrug und ihn zum Märtyrer machte.
Vermutlich war es
während seiner Studienzeit, dass La Boétie, sichtlich unter dem Eindruck der
genannten Revolten und ihrer blutigen Niederschlagung, seinen flammenden Discours
verfasste, worin er die These vertritt, dass ein einzelner Mensch nur
deshalb viele andere Menschen unterdrücken könne, weil diese sich unterwerfen
statt sich kollektiv zu widersetzen.
Nach Abschluss
seines Studiums wurde La Boétie 1553 mit 23 Jahren Gerichtsrat am Parlement von
Bordeaux, dem obersten Gericht der Provinz Aquitaine. Hier befreundete er sich
mit dem gut zwei Jahre jüngeren Montaigne, als dieser 1557 ebenfalls
Gerichtsrat in Bordeaux wurde. Montaigne hat später berichtet, er sei schon
vorher durch den Discours auf La Boétie aufmerksam geworden.
Ab 1560 wurde
dieser verschiedentlich von Michel de l'Hospital, dem „Kanzler“ (chancelier)
von Frankreich, mit dem er freundschaftlich verbunden war, zur Teilnahme an
Verhandlungen gebeten, die das konfessionell zunehmend gespaltene und in Gewalt
abgleitende Frankreich befrieden sollten. Er galt also (ähnlich wie sein Freund
Montaigne) als jemand, der einerseits loyal hinter der Krone stand,
andererseits jedoch genug Verständnis für die Anliegen und Überzeugungen der
Protestanten hatte, um ausgleichend wirken zu können.
Diese
versöhnliche Haltung vertrat er auch in seiner letzten Schrift, dem Mémoire
sur l’édit de janvier [1562] (=Memorandum über den Januar-Erlass), worin er
den König unterstützt, der gerade den Protestanten in gewissem Umfang
entgegengekommen war.
La Boétie starb
jung und plötzlich an einer der häufigen Seuchen der Zeit. Montaigne war bei
dem Sterbenden und bewunderte dessen stoische Fassung, wie er in einem Brief an
seinen Vater berichtet.
1570 gab
Montaigne in Paris verschiedene Schriften aus dem Nachlass von La Boétie in
Druck. Es handelte sich um lateinische und französische Verse – die letzteren
meist im Stil der Pléiade – sowie um Übersetzungen von Texten der alten
Griechen Xenophon und Plutarch (der Anstöße für den Discours geliefert
hatte). Darüber hinaus auch den Discours zu drucken, hielt Montaigne für
unangebracht, denn jener diente inzwischen der protestantischen Seite als
Munition gegen den wieder unnachgiebigen König und seinen Anspruch, absolut zu
herrschen und insbes. auch die Religion seiner Untertanen zu bestimmen. Zudem
entsprach das revoluzzerhafte kleine Werk nicht mehr der ausgleichenden
Loyalität, wie sie der späte La Boétie praktiziert hatte und auch Montaigne sie
vertrat.
Der Discours
wurde erstmals 1574 gedruckt als Teil einer protestantischen Kampfschrift und
nochmals 1577 im Rahmen der propagandistischen Mémoires des états de France
sous Charles IX. Auch spätere Generationen von Oppositionellen, z.B.
prärevolutionäre Autoren der Spätaufklärung und sozialistische und
anarchistische Denker des 19. Jh., griffen häufig auf La Boéties Werk zurück
mit seinem Kernsatz: „Soyez résolus de ne servir plus, et vous voilà libres!“
(Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei!).
(Stand.
April 11)
Étienne
Jodelle (*
ca. 1532 in Paris, † 1573 ebd.).
Dieser heute kaum mehr bekannte
Dramatiker hat in der franz. Literaturgeschichte eine gewisse Bedeutung durch
zwei zu ihrer Zeit neuartige Stücke, die er als ganz junger Mann verfasste: die
Komödie Eugène (1552) und vor allem die Tragödie Cléopâtre captive
(= die gefangene Kleopatra) von 1553.
Die Tragödie, welche darstellt, wie die
besiegte ägyptische Königin Kleopatra sich durch Selbstmord der Demütigung
durch ihren Besieger, den römischen Kaiser Octavian alias Augustus, entzieht,
war in mehrfacher Hinsicht neu: Zum einen ist sie das erste ernste, also nicht
komische, franz. Stück mit weltlicher, d.h. nichtreligiöser Thematik. Weiterhin
ist sie das erste franz. Stück mit antikem Stoff (den Jodelle aus den
„parallelen“ Biografien des Griechen Plutarch [um 100 n. Chr.] bezog). Vor allem
aber ist sie die erste franz. Tragödie nach antikem Muster, insbes. mit ihrem
Aufbau in fünf Akten und dem Auftreten eines Chores. Auch die zumindest
teilweise Abfassung in Alexandrinern war eine Neuerung. Das Stück war ein
Publikumserfolg bei der Pariser Erstaufführung und wurde in den literarisch
interessierten Kreisen als gewissermaßen längst notwendige Errungenschaft
begrüßt. Für die Mitglieder der humanistisch orientierten Pariser Dichtergruppe
der Pléiade, zu denen Jodelle zählte, bedeutete es die Umsetzung ihrer
Theorien, wonach sich die franz. Literatur durch Orientierung an der
klassischen Antike erneuern sollte.
Im selben Sinne hatte Jodelle schon ein
Jahr zuvor den Eugène verfasst, ein Stück, das zwar in Paris spielt und
das typische Farcenthema des Cocuage bearbeitet, sich aber in der Machart
ebenfalls an antiken Vorbildern, nämlich Komödien der klass. römischen Autoren
Plautus und Terenz orientierte.
1555 schrieb er eine weitere
antikisierende Tragödie, Didon se sacrifiant (= die sich opfernde Dido).
Sowohl mit seinen Tragödien als auch
der Komödie verwirklichte Jodelle allerdings nicht nur Ideen der
Pléiade-Gruppe, sondern folgte zugleich auch Vorbildern aus Italien, wo man
schon seit etwas längerer Zeit versuchte, das volksprachliche Theater in
Anlehnung an antike lateinische und griechische Vorbilder zu erneuern.
Seine Lyrik, die er schon sehr jung zu
verfassen begann, gilt als weniger bedeutend.
(Stand: Nov. 10)
Michel
Eyquem, seigneur de Montaigne (* 28.2.1533 auf dem Schlösschen Montaigne/Périgord; †
13.9.1592 ebd.)
Montaigne (wie er in der
Literaturgeschichte schlicht heißt) stammte aus einer Familie reicher Kaufleute
in Bordeaux. Nachdem der Urgroßvater die adelige Grundherrschaft Montaigne
erworben hatte, waren die Eyquems vom großbürgerlichen Patriziat in den Adel
hineingewachsen, besetzten aber weiterhin hohe Ämter in der Stadt. Montaignes
Vater hatte 1525 König François
Ier
auf dessen Italienfeldzug begleitet und war so mit der italienischen
Renaissance-Kultur in Berührung gekommen. Nach seiner Heimkehr hatte er 1528
eine adelige Frau geheiratet und war 1530 Chef des Ordnungswesens (prévôt) von
Bordeaux geworden. Ab 1533 war er stellvertretender Bürgermeister; 1554 wurde
er Bürgermeister.
Montaigne war das erste Kind seiner
Eltern und bekam noch etliche Geschwister, von denen jedoch nur drei das
Erwachsenenalter erreichten. Er wurde zunächst zu einer Amme in einem nahen
Dorf in Pflege gegeben und erhielt dann einen Hauslehrer, einen deutschen
Mediziner, der nur lateinisch mit ihm sprach. 1539 bis 46 besuchte er das
Collège de Guyenne in Bordeaux, wo er auch Griechisch lernte. Anschließend
absolvierte er vermutlich propädeutische Studien an der Artistenfakultät der
dortigen Universität.
Unbekannt ist, ob er 1548 direkt die
Revolte miterlebte, mit der Bordeaux auf die Auferlegung der Salzsteuer durch
den neuen König Henri II reagierte, eine Revolte, die von königlichen Truppen
blutig niedergeschlagen wurde, der Stadt den Verlust ihrer Gerichtsamkeit
eintrug und die Gruppe der Patrizier etliche Köpfe kostete.
1554, mit 21, erhielt Montaigne nach
Jurastudien in Toulouse und vielleicht auch Paris das Amt eines Gerichtsrats
(conseiller) am Steuergericht in Périgueux. Im selben Jahr begleitete er seinen
soeben zum Bürgermeister gewählten Vater, der es vorgezogen hatte Katholik zu
bleiben, zu Verhandlungen mit dem König nach Paris.
Als 1557 das Steuergericht in Périgueux
aufgelöst wurde, erhielt Montaigne einen Gerichtsratsposten am Parlement von Bordeaux, dem obersten
Gerichtshof der Guyenne.
Hier schloss er eine (wie er es
rückblickend sah) geradezu symbiotische Freundschaft mit dem gut zwei Jahre
älteren, humanistisch hochgebildeten und literarisch dilettierenden
Richter-Kollegen Étienne de la Boétie (1530-63), dessen frühen Tod er lange betrauerte.
In seiner Eigenschaft als Gerichtsrat
am Parlement reiste er 1559, 1560 und 1562 nach Paris, wobei es vor allem um
die Frage der Unterdrückung oder Duldung des im franz. Südwesten stark
verbreiteten Protestantismus ging. Bei dem letztgenannten Parisaufenthalt, der
vom Beginn der offenen Kriege zwischen Protestanten und Katholiken, der sog.
Religionskriege, überschattet wurde, musste sich Montaigne, zusammen mit den
anderen Richtern der diversen franz. Parlements, feierlich zum Katholizismus
bekennen.
1565 heiratete er in einer
Konventionalehe, die dies offenbar auch blieb, die Tochter eines
Richterkollegen. Beim Tod des Vaters 1568 erbte er, nach den Regeln der
adeligen Erbteilung, den Hauptteil von dessen Besitz, darunter das Gut und
Schlösschen Montaigne, nach dem er sich hinfort benannte, um seinen Status als
Adeliger zu betonen.
1569 beendete er eine kommentierte
Übersetzung der Theologia naturalis
des Toulouser Theologen und Mediziners Raimundus Sebundus († 1436). Er hatte
sie noch auf Wunsch seines Vaters begonnen, der sich – sehr verständlich in
Zeiten heftiger konfessioneller Streitereien – offenbar für die These von
Sebundus interessierte, wonach Gott und die christlichen Lehren quasi aus der
Natur ableitbar seien.
Zugleich mit seiner Sebundus-Übertragung
gab er in Paris eine Sammlung von franz. und lateinischen Gedichten seines
Freundes La Boétie in Druck.
1571, mit 38, quittierte er sein
Richteramt und zog sich auf sein Schlösschen zurück. Ein Grund zu diesem
Entschluss war vielleicht die Enttäuschung darüber, dass seine Versuche, in
eine der wichtigeren und damit interessanteren Kammern des Gerichts zu
wechseln, gescheitert waren, weil in der einen als zu naher Verwandter schon
sein Schwiegervater saß und in der anderen schon ein Schwager. Vielleicht
spielte aber auch der Umstand eine Rolle, dass er zum zweiten Mal Vater wurde,
nachdem ein im Vorjahr geborenes erstes Kind, ebenfalls ein Mädchen, bald nach
der Geburt gestorben war (so wie auch
vier weitere 1573, 74, 77 und 83 geborene Kinder, allesamt Töchter, das
Säuglingsalter nicht überleben sollten).
Mit der Rolle des Landedelmanns, als
der Montaigne sich nach seinem Rückzug ins Private offenbar sah, vertrug es
sich durchaus, zu lesen und literarisch zu dilettieren. Dies tat er sogleich, mit
Hilfe der schönen Bibliothek, die er besaß und die zum Teil aus der bestand,
die ihm La Boétie übermacht hatte. Hierbei begann er, markante Sätze aus
klassischen, meistens lateinischen Autoren, aufzuschreiben und zum
Ausgangspunkt eigener Überlegungen zu machen. Diese betrachtete er als
Versuche, der Natur des menschlichen Wesens und den Problemen der Existenz auf
den Grund zu kommen. Die passende Darstellungsweise für diese „Versuche“
(essais) musste er jedoch selber tastend entwickeln, denn erst später, dank
ihm, konstituierte sich der essai als neue literarische Gattung.
Insgesamt sind die Essais Montaignes
mehr assoziativ als logisch strukturiert aneinandergereihte, thematisch äußerst
vielfältige, kürzere und längere, mit einer immensen Menge von meistens
lateinischen Lesefrüchten angereicherte Betrachtungen über sich selbst und die
Welt, insbes. den Tod, dessen Allgegenwart ihm die kriegerischen Zeitläufte und
das Sterben seiner Töchter nur zu bewusst sein ließen. Seine Perspektive ist
hierbei die eines Geistes, der den religiösen Dogmen distanziert gegenüber
steht und auch alle sonstigen vermeintlich verbürgten Wahrheiten kritisch
betrachtet. Basis seiner Überlegungen ist die Prämisse, dass man mittels der
Beobachtung des Fühlens, Denkens und Handelns eines einzigen intim bekannten
Individuums, nämlich seiner selbst, zu allgemein gültigen Aussagen über den
Menschen insgesamt gelangen könne.
Allerdings konnte Montaigne nach dem
Wechsel ins Private nicht, wie sicher erhofft, seine Tage ungestört von den Kriegswirren
der Zeit verbringen. Denn als nach den Protestantenmassakern der
Bartholomäusnacht (22./23.8.1572) die Spaltung im Land sich vertiefte und beide
Seiten sich erneut bekämpften, hielt er es für seine Pflicht, sich der
königlichen, d.h. der katholischen Armee anzuschließen. 1574 versuchte er, mit
einer Rede vor den Richtern des Parlements in Bordeaux, zur Versöhnung der
Konfessionen beizutragen. Nach dem Friedensschluss von 1575, der den
Protestanten (vorübergehend) Bürgerrechte gewährte, ließ er sich von Henri de
Navarre, dem Chef des protestantischen Lagers und de facto-Herrscher in weiten
Teilen Westfrankreichs, pro forma zum Kammerherrn ernennen.
Dank der kurzen Ruhe im Land schloss er
1579 Buch I der Essais ab und erweiterte er sie um ein Buch II. Sie
erschienen 1580 in Bordeaux und waren so erfolgreich, dass sie schon 1582
leicht erweitert nachgedruckt wurden.
Da Montaigne seit 1577 unter
Nierenkoliken litt (deren starken Einfluss auf sein Leben und auch sein Denken
und Fühlen er in den Essais thematisierte), ging er 1580 trotz der
soeben wieder ausgebrochenen Kriegshandlungen auf eine Bäder-Reise, von der er
sich Linderung erhoffte. Sie führte ihn über Paris, wo er von König Henri III
empfangen wurde, in etliche französische und süddeutsche Bäder und wurde dann
fortgesetzt als Bildungsreise durch einige Städte Süddeutschlands sowie mehrere
italienische Städte bzw. Stadtstaaten bis nach Rom. Dort blieb er mehrere
Monate, erhielt eine Audienz beim Papst, bekam den Titel eines römischen
Bürgers verliehen und ließ die Essais von der päpstlichen Zensur
absegnen. Die Reise, auf der ihn mehrere Personen begleiteten, beschrieb er in
einem Tagebuch, das er jedoch unpubliziert ließ (und das erst 1770
wiedergefunden und 1774 gedruckt wurde).
Unterwegs, in Lucca, erhielt er im
Frühherbst 1581 die Nachricht, dass er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt
worden war. Etwas widerstrebend und nicht ohne brieflich von König Henri III in
die Pflicht genommen worden zu sein, akzeptierte er das Amt und übte es nach seiner
Heimkehr Ende November zweimal zwei Jahre lang aus. Hierbei war er darum
bemüht, zwischen Protestanten und Katholiken zu vermitteln, wobei er z.B. 1583
versuchte, Verhandlungen zwischen Henri de Navarre und König Henri III
einzufädeln. Auch schaffte er es 1585, seine Stadt von einer militärischen
Beteiligung auf Seiten der Katholischen Liga abzuhalten, die Henri de Navarre
bekriegte, nachdem er 1584 zum nächsten Anwärter auf den Thron aufgerückt war.
Zwischendurch (1583) wurde er zum sechsten Mal Vater, doch starb die Tochter
wiederum bald nach der Geburt.
Nach dem Ende seiner Zeit als
Bürgermeister (Spätsommer 85) und der vorübergehenden Flucht vor einer
Pestepidmie setzte sich Montaigne wieder in seine Bibliothek im Schlossturm, um
neue Lektüren, Erfarungen und Erkenntnisse in den Essais zu verarbeiten, die er hierbei stark erweiterte und um einen
dritten Band vermehrte. Als er im Frühjahr 1588 nach Paris reiste, um sie dort
in Druck zu geben, wurde er unterwegs von adeligen Wegelagerern ausgeraubt, bekam
das Manuskript jedoch von ihnen zurück. In Paris angekommen, geriet er dort in
den Aufstand gegen Henri III, den am 12. Mai die Liga angezettelt hatte. Er
wurde in der Bastille eingekerkert, kam aber durch eine Intervention der
Königinmutter frei. Im Juni 88 erschien die Neuausgabe schließlich im Druck.
Offenbar zur selben Zeit lernte er
Marie de Gournay kennen, die ihm zu einer geistigen Ziehtochter wurde.
Auf der Rückreise im Herbst nahm er als
illustrer Gast an der Versammlung der Generalstände in Blois teil.
In den nachfolgenden Jahren
überarbeitete und vermehrte er unablässig weiter die Essais. Daneben
reiste er mehrfach zu Marie de Gournay nach Paris.
1590 erlebte er die Heirat seiner
einzigen ins Erwachsenenalter gelangten Tochter und 1591 die Geburt einer
Enkelin. Er verstarb plötzlich, während einer Messe in der Schlosskapelle, am
13.9.1592.
1595 publizierte Marie de Gournay
postum in Paris eine nochmals erheblich überarbeitete dritte Version der Essais.
Grundlage
war die Abschrift eines Manuskripts der Essais, die ihr den letzten Stand der
Arbeit Montaignes darzustellen schien. Diese Ausgabe wurde immer wieder
nachgedruckt. Grundlage der heutigen kritischen Editionen ist jedoch das später
aufgefundene Original der genannten Abschrift, das „Exemplaire de Bordeaux“ ,
das weitere Änderungen von der Hand des Autors enthält.
Nachdem sie gleich bei ihrem ersten
Erscheinen 1580 auf großes Interesse gestoßen waren, wurden die Essais
jahrhundertelang viel gelesen und waren sie epochemachend als erstes
europäisches Beispiel ihrer Gattung. Montaigne hatte großen Einfluss auch auf
die ähnlich über den Menschen und die Welt nachdenkenden franz. „Moralisten“
des 17./18. Jh., die meist allerdings die gedrängtere Form des Aphorismus
bevorzugten. Er gilt heute neben Rabelais als der bedeutendste franz. Autor des
16. Jh.
(Vermutlich weil die Gattung später vor
allem in England florierte, wo 1613 auch die erste Übersetzung der Essais in
eine Fremdsprache erschienen war, dominiert bei uns die Schreibung Essay.)
(Stand: März 11)
Guillaume de Salluste, seigneur du
Bartas (1544–1590).
Du
Bartas, wie er in der Literaturgeschichte heißt, wurde früh zum
repräsentativsten Autor der franz. Protestanten und war vor allem bekannt, ja
berühmt durch La Semaine, ou création du monde (1578), ein Epos in
sieben Gesängen in paarweise
reimenden Alexandrinern über die Schöpfung der Welt.
Er
war Sohn eines reichen protestantischen Kaufmanns, der 1565 geadelt wurde. Er
studierte Jura in Toulouse und verbrachte sein Leben im Dienst zunächst von
Jeanne d’Albret, der Königin von Navarra, und anschließend ihres Sohnes Henri
de Navarre, des späteren Henri IV. An dessen Seite kämpfte er gegen die Truppen
der Katholischen Liga und starb an den Folgen einer Kriegsverletzung.
La Semaine ist der Versuch eines frommen, wenn
auch nicht radikalen Protestanten, Vorstellungen der älteren und neueren
Naturphilosophen sowie Erkenntnisse der sich langsam herausbildenden
Naturwissenschaften in Einklang zu bringen mit der Schöpfungsgeschichte der
Bibel. Heute ist das Epos wegen der völlig obsolet gewordenen Thematik wie auch
der abstrus wirkenden Gedankengänge und Vergleiche vergessen; zu seiner Zeit
war es jedoch enorm erfolgreich, wurde allein bis 1632 in 42 Auflagen
nachgedruckt, ins Lateinische, Italienische, Spanische, Englische,
Niederländische und Schwedische übertragen und von vielen Autoren, z.B. noch
Milton, Goethe und Byron, bewundert.
(Stand: Jan. 11)
Robert
Garnier (* 1544
in La Ferté-Bernard/Dép. Sarthe; † 20.9.1590 in Le Mans)
Obwohl
heute kaum mehr bekannt, ist er der bedeutendste franz. Dramatiker des 16. Jh.
und ein wichtiger Vorläufer der großen Klassiker des 17. Jh.. Seine moralisch
und politisch erzieherisch intendierten Stücke verarbeiten in rhethorisch
anspruchsvollen Alexandrinern überwiegend antike Vorlagen und gelten als
Höhepunkt des Humanistentheaters in Frankreich.
Garnier
studierte Jura in Toulouse, wo er sich auch literarisch zu betätigen begann. Er
schrieb zunächst Lyrik im Stil der Pléiade-Schule; sein Gedichtband Plaintes
amoureuses de Garnier von 1565 scheint jedoch verloren. 1564 und 1566
erhielt er Jahrespreise der Toulouser Académie des Jeux floraux (= Ak.
der Blumenspiele) für seine Chants royaux en allegorie, längere
allegorische Gedichte, in denen er die 1562 ausgebrochenen Bürgerkriege
zwischen Katholiken und Protestanten beklagt und, aus einer katholischen
Perspektive, die Rückkehr von Frieden und Ordnung herbeiwünscht. 1565 betätigte
er sich anlässlich eines Besuchs des jungen Königs Charles IX in Toulouse als
Texter von Grußinschriften und Autor dreier Begrüßungssonette.
1567
erhielt er die Zulassung als Anwalt am Parlement von Paris, wo er sich mit der
königstreuen Hymne de la monarchie einführte. 1569 wurde er hochrangiger
Richter in Le Mans.
In
den nachfolgenden 14 Jahren verfasste er acht Stücke, deren Handlungen zwar auf
vorgegebenen Stoffen beruhen und in mehr oder weniger ferner Vergangenheit
spielen, aber sichtlich aktualisiert sind im Hinblick auf die eigene Zeit.
Die
ersten sechs Stücke, sämtlich Tragödien, inspirieren sich an den antiken
griechischen bzw. römischen Autoren Euripides und Seneca. Es sind: Porcie (1569),
Hippolyte (1573), Cornélie (1574), Marc-Antoine (1578), La
Troade (1579) und Antigone (1580). Alle scheinen mit den
Schrecknissen und Grausamkeiten, die sie darstellen, die Wirren der
Religionskriege zu spiegeln, die allen Friedensschlüssen zum Trotz ständig neu
ausbrachen.
1582,
in einer längeren Friedensphase, verfasste Garnier das romaneske, versöhnlich
mit zwei Hochzeiten endende Stück Bradamante, das eine Episode aus
Ariostos Versepos Orlando furioso verarbeitet. Es führte zugleich die
Gattung Tragikomödie in Frankreich ein und war das erste und für lange Zeit
letzte franz. Stück, dessen Handlung im Mittelalter spielt.
Garniers
wohl bestes und jedenfalls erfolgreichstes Stück war sein letztes: die Tragödie
Les Juives (1583). Es bezieht seinen Stoff aus der Bibel und zeigt, wie
der jüdische König Sedecias nach seinem Aufstand gegen den Eroberer
Nebukadnezar grausam bestraft wird - ähnlich grausam wie die aufständischen
franz. Protestanten durch die katholisch gebliebenen Könige verfolgt wurden,
die jedoch, wie suggeriert wird, damit durchaus einer höheren Ordnung und dem
Seelenheil der Bestraften dienen.
Mit
seiner Übernahme antiker Stoffe sowie der antiken Form der Tragödie, insbes. in
Gestalt des Chores, folgte Garnier, wie vorher schon sein älterer Kollege
Étienne Jodelle (s.o.), einer aus Italien gekommenen Mode sowie den Lehren der
Pléiade-Gruppe, wie sie z.B. 1549 von Du Bellay (s.o.) formuliert worden waren.
Nicht zuletzt dank Garnier wurden Stücke, deren Handlung in der Antike spielt,
gängig im franz. Theater. Sein Marc-Antoine wurde von Corneille (s.u.)
für La Mort de César und sein Hippolyte von Racine (s.u.) für Phèdre
als Inspirationsquelle benutzt.
1586
wurde Garnier von König Henri III (der 1589 ermordet wurde) zum Mitglied des
Staatsrats ernannt. Er war damit ein typischer Vertreter der neu entstehenden
Schicht des Amtsadels („noblesse de robe“) zwischen Bürgertum und Adel, aus der
in den nächsten 200 Jahren noch viele Autoren hervorgingen
Seine
Gattin (seit 1573) Françoise Hubert war zu ihrer Zeit eine geschätzte
Dichterin.
(Stand: Nov. 10)
17. Jh. (Barock
und Klassik)
Agrippa
d’Aubigné (*8.2.1552 auf dem Herrensitz Saint-Maury
bei Pons in der Saintonge/Dep. Charente Maritime; † 29.4.1630 in
Jussy bei Genf)
Dieser
adelige Militär und glühende Verfechter des Protestantismus war, vor allem mit
seinem Epos Les Tragiques, sicher der sprachmächtigste franz. Autor
seiner Epoche, des frühen Barock. Da er jedoch seine Werke fern vom Pariser
Literaturbetrieb verfasste und jeweils sehr spät oder gar nicht publizierte,
blieb er zu seiner Zeit als Literat fast unbekannt. Den ihm gebührenden Platz
in der Literaturgeschichte verdankt er erst seiner Entdeckung durch die
Romantiker, insbes. Victor Hugo. Im klassizistisch und katholisch geprägten,
ganz auf Paris bezogenen kulturellen Gedächtnis der Franzosen ist er eine marginale
Figur.
D’Aubigné war erstes Kind seiner
Eltern, die beide der ersten schon protestantisch erzogenen Generation
angehörten. Die Mutter starb bei seiner Geburt.
Ein
prägendes Erlebnis für den Achtjährigen war, dass sein Vater auf einer
Parisreise mit ihm in Amboise Halt machte, ihm die aufgespießten Köpfe von
hingerichteten protestantischen Anführern der sog. Verschwörung von Amboise
(1560) zeigte und ihn schwören ließ „diese ehrenvollen Chefs“ zu rächen.
Da
er früh Unterricht in den alten Sprachen (auch Hebräisch) bekommen und Talent
hierfür bewiesen hatte, wurde er mit zehn zu dem protestantischen Pariser
Humanisten Béroald in Pension gegeben. Wenig später, bei Ausbruch des Ersten
Religionskrieges (1562/63), flüchtete er mitsamt seiner Schule nach Orléans,
das von protestantischen Truppen gehalten wurde und wo sein Vater
stellvertretender Befehlshaber war. Nach dem Fall der Stadt, bei dem der Vater
ums Leben kam, wurde d’Aubigné von Verwandten nach Genf geschickt, wo er bei
dem Humanisten und Reformator Théodore de Bèze seine Schulzeit fortsetzte. Mit
14 brannte er dort durch und geriet in Lyon an einen zweifelhaften Zauberer und
Magier. Hiernach lebte er bei einem Vormund in der Saintonge.
Mit
sechzehneinhalb brannte er abermals durch, diesmal um sich den protestantischen
Truppen im inzwischen Dritten Religionskrieg anzuschließen. In dieser Zeit
lernte er den ein Jahr jüngeren Henri de Navarre kennen, den angehenden Chef
des protestantischen Lagers und späteren König Henri IV.
Nach
dem Friedensschluss (1570) wurde d’Aubigné von der Familie seiner Mutter in der
Beauce aufgenommen. Dort begegnete er 1571 auf einem Nachbarschlösschen Diane
Salviati, einer Nichte von Cassandre Salviati, die um 1550 von Pierre Ronsard
(s.o.) besungen worden war. Er verliebte sich und widmete ihr in den folgenden
zwei Jahren Sonette, Oden und Stanzen im Stil Ronsards und der Pléiade-Schule –
allerdings vergeblich, denn sie blieb abweisend und war überdies auch
versprochen. D’Aubigné vereinigte zwar später die Gedichte unter den Titel Printemps
(=Frühling) in einem Sammelband, ließ diesen aber ungedruckt
(erschienen erst 1874).
Am
18. Aug. 1572, anlässlich der Hochzeit von Henri de Navarre mit Marguerite de
Valois (der Schwester von König Charles IX) war auch d’Aubigné in Paris, floh
aber wenige Tage später, weil er bei einer Rauferei einen Soldaten der
Stadtwache verletzt hatte. Er entging so dem Massaker der Bartholomäusnacht
(23./24.8.), bei dem die katholische Partei das protestantische Lager zu
enthaupten versuchte. Kurz darauf, da die Massaker sich auch auf die Provinzen
ausdehnten, wurde er bei einem Anschlag auf ihn schwer verletzt und schleppte
sich ins nahe Schlösschen Dianes, um in ihren Armen, wie er sich ausmalte, zu
sterben.
Auf
dem Krankenlager will er unter dem Eindruck der blutigen jüngsten Ereignisse
eine Vision gehabt haben, die ihm den Plan zu einem Epos eingab, Les
Tragiques. Es sollte vom tragischen Schicksal der franz. Protestanten
handeln, d.h. ihrer grausamen Verfolgung durch die katholische Partei und die
von ihr instrumentalisierte Staatsgewalt.
1573,
angesichts der nahenden Heirat Dianes, ging d’Aubigné nach Paris und trat als
„Schildknappe“ (écuyer) in den Dienst von Henri de Navarre, der seit der
Bartholomäusnacht am königlichen Hof wie ein Gefangener lebte. Nicht unmöglich
scheint, dass er hierbei, wie Henri selbst, eine Konversion zum Katholizismus
vortäuschte. Auch nahm er, offenbar als geschätzter Unterhalter, durchaus am
Hofleben teil.
Darüber
hinaus hatte oder suchte er in Paris auch Kontakt zu Literaten, denn 1574 gab
er ein Gedicht auf den Tod des Dramatikers Étienne Jodelle (s.o.) in Druck,
eines Mitglieds der Pléiade-Schule.
Anfang
1576 konnte er seinem Herrn zur Flucht aus Paris verhelfen. Er blieb an Henris
Seite, als dieser, rekonvertiert, im nunmehr Sechsten Religionskrieg (1576/77)
den Kampf der Protestanten als ihr Chef wieder aufnahm. 1577 wurde er schwer
verletzt. Auf dem Krankenbett diktierte er angeblich erste Passagen der Tragiques.
Nach
seiner Genesung überwarf d’Aubigné sich mit Henri, der ihm zu politisch, d.h.
nicht radikal genug dachte, und zog sich auf ein Landgut in Westfrankreich
zurück. Hier heiratete er (1583) und bekam mit seiner Frau rasch zwei Töchter
und einen Sohn. Den Siebten Religionskrieg (1579/80) und den Beginn des langen
achten und letzten (1585) erlebte er im selbstgewählten Abseits.
1587
hielt es ihn dort nicht mehr und er kehrte er zurück in die Dienste Henris.
Dieser war nämlich 1584, nach dem Tod des jüngeren Bruders des kinderlosen
Königs Henri III, zum Thronanwärter aufgerückt, sah sich aber der mächtigen
Allianz der Katholischen Liga gegenüber, die mit Hilfe Spaniens und
Savoyen-Piemonts den Protestantismus auszurotten und einen eventuellen
protestantischen König zu verhindern trachtete.
D’Aubigné
nahm nun teil an den Kämpfen gegen die Liga, bei denen es anfangs vor allem um
die Rettung des protestantischen Lagers ging, nach 1589, der Ermordung von
Henri III, zunehmend aber um die Durchsetzung der Thronansprüche Henris. In
diesen Jahren war d’Aubigné nicht nur hoher Militär, sondern bekleidete auch
hohe Verwaltungsämter in westfranz. Provinzen, die von den Protestanten
kontrolliert wurden.
1593
versuchte er vergeblich, Henri von einer neuerlichen Konversion abzuhalten,
mittels derer jener die Duldung von Teilen des katholischen Lagers zu erkaufen
gedachte. Enttäuscht über Henris „Verrat“ an der gerechten Sache zog sich
d’Aubigné erneut zurück auf sein Landgut.
Hier
erlebte er den frühen Tod seiner Frau (1595), die ihn mit den drei Kindern zurückließ.
Vor
allem aber schrieb er nun. So stellte er endlich die Tragiques fertig,
deren „Gesänge“ eins bis drei die Not des Volkes, die Verderbtheit des Hofes
und die Willkür der von den Katholiken beherrschten Gerichtsbarkeit zeigen,
vier und fünf den Leidensweg der Protestanten, insbes. in der
Bartholomäusnacht, sechs die Rache Gottes an den Ungerechten von Kain bis in
die Gegenwart und sieben eine eindringliche Vision des Jüngsten Gerichts. Zum
Druck gab er das in paarweise reimenden Alexandrinern verfasste Epos vorerst
jedoch nicht.
1597
begann er die romanartige Satire La Confession catholique du Sieur de Sancy,
worin er, der aufrechte Protestant, den Opportunismus geißelt, mit dem viele
protestantische Ehrgeizlinge dem Beispiel ihres Königs gefolgt und konvertiert
waren, um besser Karriere zu machen.
Ab
1601 arbeitete er an dem Werk, das ihm sein wichtigstes war: die Histoire
universelle depuis 1550 jusqu’en 1601, eine umfangreiche Geschichte der
Religionskriege samt ihren europäischen Verästelungen aus der Sicht eines
direkt Beteiligten.
Ganz
zurückgezogen blieb er allerdings nicht. So scheint er im Jahr 1600 in Paris an
fruchtlosen katholisch-protestantischen Religionsgesprächen teilgenommen zu
haben, und 1607 verhinderte er als Wortführer der Kompromisslosen, der
„fermes“, eine Annäherung der beiden Konfessionen. Denn sie hätte ja bedeutet,
dass die Protestanten ihren Peinigern hätten vergeben müssen, womit diese der
Gottesrache vielleicht entzogen worden wären, die ihnen die Tragiques
angekündigt hatten. Auch mit Pamphleten bekämpfte d’Aubigné die Kompromissler
unter den Protestanten, die „prudents“.
Ebenfalls
1607 stellte er die Confession catholique fertig, wiederum ohne das Werk
zu publizieren (das erst 1660 in Köln erschien).
Nach
der Ermordung von König Henri IV und der Übernahme der Regierungsgeschäfte
durch die Regentin Marie de Médicis (1610) schaffte d’Aubigné keine dauerhafte
Rückkehr an den Hof. Vielmehr beteiligte er sich an Versuchen des
wiederbelebten protestantischen Lagers, seine Positionen im Land zu sichern. So
nahm er 1611 in Saumur an einer Versammlung von Mandatsträgern protestantischer
Gemeinden teil; 1615 kämpfte er als hoher Offizier in einer protestantischen
Armee gegen königliche Truppen.
1616
erschien, in der westfranz. Kleinstadt Maillé und unter einem Pseudonym,
endlich das Epos Les Tragiques, das nun jedoch, mehr als dreißig Jahre
nach seiner Konzeption, hier und dort obsolet wirken musste, selbst wenn die
Thematik nach wie vor aktuell war.
Inzwischen
hatte d’Aubigné denn auch ein wiederum satirisches romanartiges Werk begonnen, Les
aventures du baron de Faeneste. Es kontrastiert in einer locker
strukturierten Handlung den Titelhelden, einen lächerlichen, aber
selbstbewussten katholischen Höfling, mit einem gebildeten protestantischen
Landedelmann, hinter dem der Autor selbst erkennbar ist. Teil I und II
erschienen (wiederum in Maillé) 1617, Teil III 1619.
Etwa
gleichzeitig ging in Maillé die Histoire universelle in den Druck: Band
I kam 1618 heraus, Band II 1619.
Als
eine große Enttäuschung erlebte d’Aubigné 1618, dass sein Sohn konvertierte. Er
enterbte ihn im Zorn (und bewirkte so, dass seine Nachkommen im Mannesstamm
verarmten, darunter seine Enkelin Françoise d’Aubigné, die allerdings, nach
einem Zwischenspiel als bürgerliche Madame Scarron, Mätresse von Louis XIV
wurde und schließlich als Mme de Maintenon zu dessen Gattin „linker Hand“
avancierte).
1620
beteiligte sich d’Aubigné an einer Verschwörung gegen den Duc de Luynes, einen
Günstling des jungen Louis XIII. Nach deren Scheitern wurde er aus Frankreich
verbannt. Entsprechend wurde die dreibändige Ausgabe der Histoire
universelle, die im selben Jahr herauskam, in Paris vom Henker verbrannt.
D’Aubigné
fand Asyl in Genf, dem geistigen Zentrum des frankophonen Protestantismus, wo
er in Stadtnähe ein verfallenes Schlösschen kaufte und restaurierte (und 1523
nochmals heiratete).
Als
1621 die königliche franz. Armee einmal mehr einen Feldzug gegen die Truppen
der Protestanten führte, wurde er als erfahrener Militär von der Stadt Genf
beauftragt, die Verteidigung gegen einen eventuellen Angriff vorzubereiten.
Seine
letzten Jahre füllte er wieder mit Schreiben. So verfasste er kleinere
staatstheoretische Schriften (Traité sur les guerres civiles und Du
devoir mutuel des rois et des sujets) sowie Pamphlete gegen Luynes. Er
überarbeitete Les Tragiques und publizierte sie, nun unter seinem Namen,
in Genf (1523 oder 25). Er führte den Faeneste fort, dessen vierter Teil
allerdings erst 1630 in seinem Todesjahr in Genf erschien. 1627 begann er einen
vierten Band seiner Histoire, der die Zeit nach 1601 darstellen sollte,
aber unvollendet blieb. Daneben schrieb er die Autobiografie Sa vie à ses
enfants (= Sein Leben, seinen Kindern [gewidmet]; gedruckt erst 1729) und
stellte unter dem Titel L’Hiver (= Winter) einen Band überwiegend
religiöser Gedichte aus seinen mittleren Jahren zusammen (gedruckt in Genf
1630).
Wohl bei kaum einem franz. Autor
klaffen die Entstehungszeiten und die Erscheinungsdaten der Werke so oft und so
weit auseinander wie bei d’Aubigné. Dies hatte den Effekt, dass er die
ursprünglich angesprochene Leserschaft meistens nicht mehr erreichte und damit
zu seiner Zeit praktisch unwirksam blieb. Offensichtlich war er auch bei der
Wahl seiner Drucker, z.B. in der peripheren Kleinstadt Maillé, wenig auf eine
effiziente Verbreitung bedacht. Vielleicht sah er sich insgesamt mehr als
literarisch nur dilettierenden Edelmann denn als Autor. Zu seinem Glück entriss
ihn die verdiente Bewunderung der Romantiker dem Vergessen.
(Stand: Dez. 11)
François de Malherbe (* 1555 in Caen;
† 16.10.1628 in Paris)
Heute allenfalls als Name bekannt, gilt er in der franz.
Literaturgeschichtsschreibung traditionell als eine Art Markstein zwischen
Barock und Klassik.
Malherbe wuchs auf in einer protestantischen Richterfamilie
in Caen, wo er früh in humanistischen Zirkeln verkehrte und Gedichte verfasste.
Auch er selbst studierte Jura, zunächst in Caen, dann in Basel und in
Heidelberg, kalvinistischen Hochburgen der Zeit. Die ab 1562 immer wieder
ausbrechenden Religionskriege scheinen ihn nicht direkt berührt zu haben. 1577,
beim Ende des Sechsten, konvertierte er zum Katholizismus und wurde Sekretär
des königlichen Statthalters (gouverneur)
der Provence, des literaturbeflissenen Bastards von König Henri II, Henri
d'Angoulême, der auch Grand Prieur,
d.h. Oberhaupt des Malteserordens in Frankreich war. 1581 heiratete er in Aix
die Tochter eines der Vorsitzenden Richter am obersten Gerichtshof (Parlement) der Provence.
Seine ersten Werke (kürzere und längere lyrische Texte) sind
geprägt von italienischen Vorbildern und von den Dichtungen der Pléiade-Schule, d.h. der
Lyrikergeneration vor ihm. Als 1586, kurz nach Beginn der letzten Phase der
Religionskriege, sein Protektor Henri d’Angoulême ermordet wurde, kehrte
Malherbe zurück nach Caen und wurde dort städtischer Richter. Ab 1595,
inzwischen war Frankreich fast befriedet, lebte und schrieb er wieder in Aix.
Sein Name wurde allmählich bekannt in der Literaturszene der Zeit. Dennoch
scheiterte er lange Zeit mit seinen Versuchen, erneut einen hochstehenden Mäzen
zu finden oder gar am Hof Fuß zu fassen (z.B. 1600 mittels einer Begrüßungsode
an die zweite Gemahlin von König Henri IV, Marie de Médicis).
1605 endlich wurde er Henri IV vorgestellt, dann allerdings
sogar zum écuyer (Schildknappen) du Roi und zum Königlichen Kammerherrn
(gentilhomme de la Chambre) ernannt
und somit geadelt. In den nächsten 20 Jahren war Malherbe anerkannter
Hofdichter, denn auch nach König Henris Ermordung 1610 blieb er in der Gunst
der Königin und gewann später die des allmächtigen Kardinals de Richelieu.
In seiner Hofdichterrolle verfasste er
zahllose Gelegenheitsgedichte (poésies de
circonstance) zu den unterschiedlichsten Anlässen, z.B. Prière pour le Roi allant en Limousin (1605, sein Einstiegsgedicht in Paris), Sonnets pour Alcandre (Rollenlyrik im
Namen von Henri IV an eine von dessen Geliebten), Ode au Roi Louis XIII allant châtier la rébellion des Rochelois
(1628). Zugleich beherrschte er als Kritiker mit seinem Urteil die Pariser
Literaturszene und umgab sich mit jüngeren Literaten als Schülern. In dem Maße,
wie seine Kreativität abnahm, wurde sein Stil nüchterner, klarer, ausgefeilter,
formvollendeter; und während die meisten seiner dichtenden Zeitgenossen der
typisch barocken Tendenz zum Gekünstelten und damit oft zum Hermetismus, d.h.
dem gewollten Schwierigsein, folgten, war Malherbe der Meinung, dass Dichtung
verständlich sein soll. Ebenso verurteilte er das angeblich der Inspiration
folgende Drauflosschreiben und vertrat vielemehr das Prinzip des geduldigen
Arbeitens und Feilens am Text.
Mit
den strengen formalen und sprachlogischen Maßstäben, die er so setzte, wurde er
einer der einflussreichsten Wegbereiter der franz. Klassik. Bekannt geworden
ist der Halbvers „Enfin Malherbe vint !“, mit dem der spätere Klassiker Nicolas
Boileau (s.u.) ihm Tribut zollte. Für die Romantiker des frühen 19. Jh.
allerdings, die sich von den literarischen Normen der Klassik zu befreien
versuchten, war Malherbe der Prototyp des inspirationslosen Verseschmieds – ein
Klischee, das noch heute oft sein Bild in der Literaturgeschichte bestimmt.
(Stand: Jan. 11)
Honoré d'Urfé (*10.2.1567
Marseille; †1.6.1625 Villefranche-sur-Mer nahe Nizza).
Sein Name ist verbunden vor allem mit L'Astrée, einem so umfänglichen wie
erfolg- und einflussreichen Schäfer-Roman.
D'Urfé kam als fünfter von sechs Söhnen
einer altadeligen Familie im Marseiller Haus seines Onkels zur Welt, des Comte
(=Graf) de Savoie-Tende, Gouverneur der Provence. Seine Kindheit verbrachte er
jedoch überwiegend auf Schloss La Bastie im Forez am Oberlauf der Loire, das
sein Großvater, der Erzieher der Söhne von König Henri II gewesen war,
verschönert und mit einer gutbestückten Bibliothek ausgestattet hatte. Er wurde
früh für den Malteserorden bestimmt und besuchte bis 1584 das Jesuiten-Kolleg
in Tournon an der Rhône, wo er eine umfassende humanistische Bildung erwarb.
Mit 17 schrieb er ein erstes Schäfergedicht, La Sireine. Mit Anfang 20 hatte er die Idee zu einem Schäferroman
(roman pastoral) nach italienischen und spanischen Vorbildern, d.h. vor allem
Sannazaros Arcadia, Tassos Aminta, Guarinis Il pastor fido, Montemayors Diana
und Cervantes' Galatea.
Doch wurde zunächst nichts daraus, denn
1590 unterbrach d'Urfé sein Leben als lesender und schreibender (und offenbar
nicht eben mönchisch-keuscher) junger Edelmann und schloss sich der Armee der
Katholischen Liga an, die 1589 den zunächst noch protestantischen neuen König
Henri IV nicht anerkannte und im Bündnis mit dem König von Spanien und dem
Herzog von Savoyen-Piemont gegen ihn einen Bürgerkrieg führte. Zweimal geriet
er hierbei in Gefangenschaft, kam aber durch die Intervention von Verwandten
jeweils wieder frei. 1595, nach der Niederlage der Liga und seiner zweiten
Freilassung, ging er ins Exil nach Virieu in Savoyen, mit dessen Herzog er über
seine Mutter verwandt war.
In Virieu und am savoyischen Hof in
Turin schriftstellerte er wieder: Er verfasste die Versepisteln Épîtres morales (begonnen schon während
der zweiten Gefangenschaft, gedruckt in zwei Bänden 1598 und 1603) und begann
seinen seit langem projektierten Schäferroman, L'Astrée.
1600 heiratete er seine Jugendliebe,
die Frau eines älteren Bruders, nachdem ihre Ehe vom Papst für nichtig erklärt
und er selbst von seinem Ordensgelübde entbunden worden war. Allerdings
trennten sich die neuen Gatten ziemlich bald, wenn auch gütlich. L'Astrée,
die von der Liebe des Schäfers Céladon zu der Schäferin Astrée erzählt,
verarbeitet in vielerlei Hinsicht d'Urfés zunächst unerlaubte, schwierige Liebe
zu seiner Schwägerin.
1603 machte er, so wie viele andere
zuvor oppositionelle Adelige, seinen Frieden mit Henri IV und weilte hiernach
häufig in Paris. Dort versah er am Hof das Amt eines gentilhomme ordinaire (eine Art Edeldomestik des Königs), verkehrte
vor allem aber aber mit Literaten, u.a. Malherbe (s.o.), und frequentierte die
tonangebenden Salons, z.B. den der Marquise de Rambouillet. Allerdings hielt er
sich auch oft in Turin oder seinen Besitzungen auf.
Zugleich führte er L’Astrée fort: 1607 wurde der erste Band
gedruckt, 1610 und 1619 erschienen Bd. II und III. 1624 folgte Teil I von Bd.
IV, 1627 (schon postum) der Rest des Bandes, dem d'Urfés langjähriger Sekretär
Baro 1627 einen fünften Band hinzufügte, der wohl grosso modo der originalen
Konzeption d’Urfés entsprach.
Dieser nämlich hatte inzwischen trotz
seines vorgerückten Alters im Dienst des Herzogs von Savoyen an dessen Krieg um
das Veltlin teilgenommen und war bei einem Sturz mit seinem Pferd ums Leben
gekommen.
Wie der Name der Titelfigur des Romans,
Astrée, andeutet, spielt die Handlung
nicht, wie in den o.g. ital. und span. Vorbildern, in einem räumlich und
zeitlich fernen, legendären Arkadien, sondern in Frankreich, genauer in d'Urfés
Heimatgegend, dem Forez. Immerhin wird sie zurückverlegt in das 5. Jh. n. Chr.,
d.h. die Zeit der Völkerwanderung, von deren Wirren, das Forez aber ausgenommen
scheint, ebenso wie es noch frei ist von der Herrschaft einer zentralistischen
und tendenziell absolutistischen Monarchie, wie sie dem Aristokraten d’Urfé
insgeheim zuwider war. Die mehr als 5000 (!) Seiten des Werkes umfassen
eine Haupthandlung, in die nach dem Schubladenprinzip mehrere Nebenhandlungen,
zahlreiche Binnenerzählungen sowie lange Diskussionen der Figuren über alle
Aspekte der Liebe eingebettet sind. Haupthandlung ist die Geschichte der Liebe
des anfangs 14-jährigen Céladon zu der 12-jährigen Astrée, die ihn wegen seiner
vermeintlichen Untreue verstößt und erst nach langen, langen Prüfungen wieder
aufnimmt. (In Bd. III z.B. lebt Céladon als angebliche Druidentochter unerkannt
mit Astrée in engster Freundschaft zusammen, was ihn öfters in Bedrängnis
bringt.)
Die Astrée
ist von der Technik her eine Summe der Romankunst der Zeit. Vor allem aber
hatte sie wegen der psychologischen Einfühlsamkeit der Personen-Darstellung,
der salongemäß kultivierten Reden dieser Personen und des schönen Dekors, in
dem die Handlung spielt, einen enormen und langandauernden Erfolg in adeligen,
aber auch in bürgerlichen Kreisen. Sie diente als Vorlage für andere
Schäferromane, Schäfergedichte, Schäferspiele, Schäferopern und -ballette,
sowie für viele Gemälde, Stiche, Wandteppiche usw. Der männliche Protagonist
Céladon wurde zum Prototyp des schmachtenden, schüchternen Liebhabers; sein
Name ist ins franz. Lexikon eingegangen in der Wendung „être un Céladon“.
Die Astrée wurde früh auch ins
Deutsche übersetzt.
(Stand: Juli 05)
Alexandre Hardy (* um 1570 in Paris; † 1632)
Zwar ist er auch in Frankreich kaum mehr bekannt, doch
war er einer der fruchtbarsten Dramatiker der franz. Literaturgeschichte
überhaupt mit seinen offenbar mehr als 600 Stücken. Sein Einfluss auf die
Dramatiker neben und unmittelbar nach ihm sowie auf den Publikumsgeschmack der
Zeit war groß.
Die meisten seiner Tragödien, Tragikomödien und
Pastoralen schrieb er ab 1593 für die Truppe um den Schauspieler Valleran
Lecomte, die im Saal des Pariser Hôtel de Bourgogne auftrat, aber auch in der
Provinz umherzog. Sein Publikum waren demnach nicht nur die gebildeten Kreise
in Adel und Bürgertum, sondern auch ungebildete Zuschauer z. B. auf
Jahrmärkten.
Da Hardy lange ausschließlich für eine bestimmte
Truppe arbeitete, ließ er seine Stücke während dieser Zeit ungedruckt. Nach dem
Druck nämlich wären sie frei gewesen und hätten auch von
konkurrierendenTruppen aufgeführt
werden dürfen.
Seine Stoffe bezog Hardy relativ wahllos aus der
klassisch-antiken und spätantiken, aber auch der jüngeren franz., italienischen
und spanischen Literatur. Hierbei arbeitete er häufig ältere und neuere Stücke
anderer Autoren nach seinen Vorstellungen und denen seiner Schauspieler einfach
nur um. Er dramatisierte aber auch erzählende Werke und überführte z. B. den
berühmten Liebes- und Abenteuer-Roman Theagenes und Chariklea von Heliodor
(3./4. Jh.), der in Frankreich seit 1548 in der Übersetzung Jacques Amyots
(s.o.) verbreitet war, in eine Serie von acht Folgen. Naturgemäß wirken
Komposition und Stil seiner meist sehr rasch verfassten Stücke oft flüchtig,
doch war er ein routinierter Praktiker, der sein Publikum durch aktionsreiche
Handlungen, spannende, mitunter brutale Szenen und lebendig wirkende Figuren zu
fesseln verstand.
Als Hardy nach Lecomtes Tod nicht mehr für nur eine
Truppe arbeitete (auch wenn er überwiegend das Pariser Théâtre du Marais
belieferte), ließ er eine Auswahl von 34 Stücken drucken (Paris., 6 Bde.,
1624-28; Neudruck in 5 Bdn. Marburg 1883-84). Nur sie sind erhalten geblieben.
Die Autoren der Generation nach ihm, z. B. Jean
Chapelain (s.u.) oder Jean Mairet (s.u.), die um 1635 die Regeln und
Vorstellungen des klassischen französischen Theaters entwickelten, taten dies
nicht zuletzt in direkter Reaktion auf Hardy, dem sie Regellosigkeit, Mangel an
Geschmack und Rohheit vorwarfen. Schon vorher hatte es seinem Image geschadet,
dass der Pariser Literatur-Guru François de Malherbe (s.o.) seinen Stil für
unlesbar erklärte.
(Stand: März
08)
Claude Favre de Vaugelas (*6.1.1585 in Meximieux/Bresse ; † 26.2.1650 in
Paris).
Sein Name ist jedem Historiker der
franz. Sprache bekannt.
Vaugelas (wie er i.d.R. schlicht
genannt wird) war Sohn eines klein- bzw. neuadeligen Richters in der bis 1601
zu Savoyen gehörenden Provinz Bresse nahe dem schweizerischen Genf. 1624 erbte
er den Titel eines „baron de Pérouges“.
Er erhielt eine solide klassische
Bildung, überwiegend durch seinen Vater, und trat jung in die Dienste des Duc
de Nemours, eines Cousins des Herzogs von Savoyen. In seinem Gefolge reiste er
viel und erwarb gute Kenntnisse des Italienischen und Spanischen. Er ließ sich
schließlich in Paris nieder, wo er sich mit wechselnden Aktivitäten über Wasser
hielt, z.B. indem er einen franz. Hochadeligen als Dolmetscher nach Spanien
begleitete oder sich als Hauslehrer in einer anderen hochadeligen Familie
verdingte. Auch ließ er sich die niederen Weihen erteilen, um vielleicht
einträgliche Kirchenpfründen bekommen und möglichst kumulieren zu können.
Immerhin gelang es ihm, Zugang zu einigen mondänen Salons der Hauptstadt zu
erhalten, wo man ihn geschätzt zu haben scheint, und Kontakte mit anerkannten
Autoren zu pflegen, u.a. Malherbe (s.o).
Er selbst war als Literat nur ein mäßig
erfolgreicher Übersetzer aus dem Lateinischen und Spanischen. Doch erarbeitete
er sich hierbei einen Ruf als Grammatiker und Sprachgelehrter. 1634 gehörte er,
als Mitglied des Kreises um Valentin Conrart (s.u.), zu den
Gründungsmitgliedern der Académie Française (s.u.). Er war danach von Anbeginn
an aktiv an dem wichtigsten Projekt der Académie beteiligt, dem Wörterbuch der
franz. Sprache, dessen Konzept er entwarf, wobei er selber für die Buchstaben A
bis I zuständig war.
Unzufrieden über die Langsamkeit, mit
der dieses und die anderen Académie-Projekte vorankamen, insbes. die Grammatik
(die erst 1932 erschien und sofort als veraltet galt), brachte er seine eigenen
Überlegungen zu Papier als Remarques sur
la langue française, utiles à ceux
qui veulent bien parler et écrire, die er 1647 publizierte. Das Buch, ein
Ratgeber für das „richtige“ Sprechen und Schreiben, wurde rasch mehrfach
aufgelegt und zur allseits bekannten Autorität (die Molière in seinen Femmes
savantes ironisiert). Mit den Remarques wurde Vaugelas zum Ahnherrn
der in Frankreich (anders als im deutschen Sprachraum) sehr zahlreichen, noch
heute höchst aktiven Wächter und Hüter der franz. Sprache.
Als Norm für den „guten Gebrauch“ (le bon usage) des Franz. setzte er den
mündlichen Sprachgebrauch des überwiegend in Paris lebenden Hochadels und den
schriftlichen Sprachgebrauch der bons
auteurs, d.h. der anerkannten, in Paris arbeitenden und in Pariser Salons
verkehrenden Autoren. Er bestärkte damit den wachsenden, auf Paris
ausgerichteten politischen Zentralismus auch auf sprachlichem Gebiet und
initiierte eine Entwicklung, die bis heute alle Personen benachteiligt, die
nicht das pariserisch geprägte français
standard beherrschen.
(Stand: Dez. 08)
La marquise de
Rambouillet (* 1588 in Rom; † 2.12.1665 in Paris)
Sie
war zwar keine Autorin, ist aber als Schirmherrin eines der wichtigsten
„Salons“ in die Geistes- und insbes.
die Literaturgeschichte eingegangen.
Geboren
als Tochter des französischen Marquis Jean de Vivonne und der aus altem
römischen Adel stammenden Giulia Savelli, war sie sehr jung mit dem reichen
Marquis de Rambouillet verheiratet worden. Sie war hochgebildet und beherrschte
mehere Sprachen. Da sie gesundheitlich anfällig war und die regelmäßige
Anwesenheit am Pariser Königshof scheute, schuf sie sich ab ca. 1620 eine Art
kleinen eigenen Hof in ihrem nahe dem Louvre gelegenen Stadtpalast, dem Hôtel
de Rambouillet, das mehr oder weniger nach ihren Plänen erbaut worden war. Hier
führte sie bis gegen 1660 ein offenes Haus, in dem sich geistig interessierte
Hochadelige, darunter Le Grand Condé oder Richelieu, mit kleinadeligen sowie
auch bürgerlichen Intellektuellen trafen. Zugleich, um keine reine
Männergesellschaft entstehen zu lassen, sorgte sie für die Anwesenheit adeliger
Damen sowie auch adeliger junger Mädchen, darunter, neben ihrer Tochter Julie,
Marie de Rabutin-Chantal, die spätere Mme de Sévigné (s.u.) oder
Marie-Madeleine Pioche de la Vergne, die spätere Mme de La Fayette (s.u.).
Der
sich durchaus als elitär und exklusiv empfindende Kreis um die Marquise sowie
den einfallsreichen Animateur Vincent Voiture (s.u.) übte sich vor allem in der
Kunst der geistreichen Konversation sowie der galanten Gelegenheitsdichtung.
Hierbei entwickelte man das im Prinzip egalitäre, d. h. nicht ständisch
gebundene Ideal des honnête homme (ein Begriff, der vielleicht in Analogie zu
„gentilhomme - Edelmann“ kreiert wurde und mit „Ehrenmann“ sehr unzutreffend
übersetzt ist).
Die
bewusst kunst- und anspruchsvollen Ausdrucksweisen des Kreises fanden starken
Widerhall in der Literatur der Epoche, wirkten aber auch in die Pariser
Gesellschaft hinein, wo sie bald teils nachgeahmt, teils aber auch als
„preziös“ (eigentlich „kostbar“) belächelt wurden.
Nach
dem Tod Voitures (1648) und mit Beginn der Wirren der Fronde (1648-52) war die
Glanzzeit des Hôtel de Rambouillet vorbei. Als 1661 Molière (s.u.) mit Les
Précieuses ridicules die Preziosität in Gestalt zweier überkandidelter
Bügerstöchter karikierte, war sie schon eine Art abgesunkenes Kulturgut
geworden.
(Stand:
Nov. 09)
Théophile de Viau (*1590 in Clairac ; † 25.9.1626 in Chantilly).
Er war zu seinen Lebzeiten ein sehr erfolgreicher
Autor, der zur Zeit der Klassik aber in Vergessenheit geriet und erst von den
Romantikern als einer der besten Lyriker des 17. Jh. wiederentdeckt wurde.
Viau (in Literaturgeschichten häufig
liebevoll schlicht „Théophile“ genannnt) war jüngerer Sohn aus einer
protestantischen adeligen Familie und besuchte kalvinistische Schulen in
Montauban und in Leiden/Holland.
Nachdem er 1615, in einer der immer
wieder noch aufflammenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen
Protestanten und Katholiken, zunächst auf protestantischer Seite gegen die
Armee des jungen Königs Louis XIII gekämpft hatte, machte er seinen Frieden mit
diesem, um in Paris Zugang zum Hof und zur guten Gesellschaft zu erhalten und
leichter Mäzene zu finden. 1619 bekam er jedoch Schwierigkeiten mit der Justiz,
weil Jesuiten ihn als unchristlichen libertin
(Freidenker), aber auch als sittenlosen, womöglich homosexuellen Lebemann
denunzierten. Er zog es deshalb vor, vorübergehend aus Paris zu verschwinden.
1620 kämpfte er in der königlichen Armee gegen Truppen der Protestanten. 1622
konvertierte er offiziell zum Katholizismus, so wie viele französische
Protestanten, die es leid waren, Bürger zweiter Klasse zu sein. De facto war
und blieb Viau jedoch libertin und
Epikuräer (Anhänger des die Lust und den Genuss bejahenden griechischen
Philosophen Epikur), wobei vielleicht seine mutmaßliche Homosexualität eine
Rolle spielte, die ihn letztlich sowohl bei Katholiken wie bei Protestanten
Außenseiter sein ließ und ihm die Prekarität und Flüchtigkeit der menschlichen
Existenz besonders bewusst machte.
Als Lyriker, der er hauptsächlich war,
orientierte sich Viau formal an Malherbe (s.o.), akzeptierte aber nicht dessen
Nüchternheit und quasi kunsthandwerkliche Feilerei, sondern ließ der Phantasie und
der Spontaneität der Gefühle und Gedanken freieren Lauf. Ein Sammelband seiner
thematisch vielfältigen und oft sehr persönlich wirkenden Dichtungen erschien
erstmals 1621 als Œuvres poétiques,
traf ganz offenbar den Zeitgeschmack und erlebte mehrere jeweils erweiterte
Auflagen, deren letzte postum noch rd. 90 (!) Male nachgedruckt wurde.
Auch als Dramatiker war Viau
erfolgreich mit Les amours de Pyrame et
de Thisbé (1621), einem Stück, das die unglückliche Liebe der
Nachbarskinder Pyramus und Thisbe darstellt, die von beiden Familien und dazu
dem König als Nebenbuhler behindert wird und im irrtümlichen doppelten
Selbstmord endet. Das Stück wurde zwischen 1623 und 1698 73 Male nachgedruckt
und diente vielen späteren Autoren als Vorbild.
1623 floh Viau einmal mehr aus Paris,
als ihm ein anonymes erotisches Gedicht mit homosexueller Pointe zugeschrieben
wurde. In Abwesenheit zum Scheiterhaufen verurteilt, wurde er bald danach
verhaftet und 1625, nach einem nochmaligen, zweijährigen, demütigenden Prozess,
zu einer Verbannung aus Paris „begnadigt“. Offensichtlich wollte man ein
Exempel an ihm statuieren, um die anderen libertins
zu disziplinieren, mochte dann aber nicht bis zum Äußersten gehen, weil der
Prozess ein großes öffentliches Für und Wider erregte und hochstehende Personen
sich für ihn einsetzten. Viau wurde hiernach von Freunden in der Provinz
aufgenommen, starb jedoch mit 36 an den gesundheitlichen Folgen der Haft, kurz
nachdem ihm die Rückkehr nach Paris erlaubt worden war.
(Stand: Juli 09)
Jean Chapelain (* 4.12.1595 in Paris; † 22.2.1674 ebd.)
Er stammte aus einer kleinbürgerlichen
Juristenfamilie, konnte aber gute Kenntnisse der klassischen Sprachen und des
Italienischen und Spanischen erwerben. Seinen Unterhalt verdiente er zunächst
als Hauslehrer. Dieser als Autor eher nur mittelmäßige Literat ist gleichwohl
sehr bedeutsam geworden durch seine Lettre
sur la règle des vingt-quatre heures (1630). Es ist ein poetologischer
Traktat über die aristotelische Lehre von den drei Einheiten des Dramas, wonach
die Handlung eines Stücks zielstrebig und einlinig sein soll (Einheit der
Handlung), möglichst nur an einem Ort spielen darf (Einheit des Ortes) und
innerhalb von 24 Stunden abgeschlossen sein muss (Einheit der Zeit). Chapelain
orientierte sich hierbei an italienischen Dramatikern und Theoretikern, vor
allem Giulio Cesare Scaligero. Er reagierte damit gegen das seines Erachtens
regellose Theater des fruchtbarsten Dramatikers der ersten Jahrzehnte des 17.
Jh., Alexandre Hardy (ca. 1570–1632, angeblich über 600 Stücke!, s.o.).
Nach dem Erfolg seines Traktats und
dank dem Umstand, dass er 1634 zu den Gründungsmitgliedern der Académie
Française (s.u.) gehörte, war Chapelain fast 40 Jahre lang einer der
Platzhirsche des Pariser Literaturbetriebs. Mehr nebenher betätigte er sich als
Gelegenheitsdichter im Dienste hochstehender Personen, als Chefkritiker der
Académie (die laut
Gründungsauftrag über den guten Geschmack in Sprache und Literatur wachen
sollte) sowie als Epiker. Denn die Gattung Versepos florierte, was heute kaum
mehr bekannt ist, sehr im 17. Jh.. Das epische Hauptwerk von Chapelain, La Pucelle d'Orléans (1656), war
allerdings nur deshalb kurz erfolgreich, weil er die potenziellen Leser lange
Zeit hindurch neugierig zu machen und hinzuhalten verstanden hatte.
Ab 1661 führte Chapelain im Auftrag des
neuen allmächtigen Ministers Colbert eine königliche Pensions-Liste, auf die
solche Autoren gesetzt wurden, die dem Minister und seinem jungen König Louis
XIV genehm waren und damit als einer jährlichen Gratifikation würdig
erschienen.
(Stand: Dez. 10)
Vincent
Voiture (* 1597 in Amiens; † 26.5.1648 in Paris)
Voiture
verkörperte perfekt den im deutschen Sprachraum der Zeit kaum bekannten Typ des
Fürstendieners, Lebemannes, Gesellschaftsmenschen und Literaten in einer
Person. Er war zugleich Produkt und Akteur der Pariser Salonkultur vor und um
1650, die ihn formte und die er maßgeblich mitgeformt hat. Viele Autoren neben
und nach ihm hat er beeinflusst.
Er
wuchs auf als Sohn eines vermögenden Weinhändlers, der sein Geschäft von Amiens
nach Paris verlegt hatte und hier den Hof belieferte. Er genoss eine gute
Bildung und kam über einen adeligen Schulfreund früh mit hochgestellten
Personen in Berührung, insbes. dem jüngeren Bruder von König Louis XIII, Gaston
d'Orléans, bei dem er sich als Sechzehnjähriger mit einem geistreichen Gedicht
einführte. Früh auch pflegte er einen quasi adeligen Lebensstil mit Mätresse,
Spiel und Duellen.
Um
seinem gesellschaftlichen Ehrgeiz eine solidere Basis zu geben, kaufte er 1626
das Amt eines Königlichen Rates (conseiller du Roi), das seinen Inhaber nach
Ablauf einer bestimmten Frist in den Adelstand erhob. Im selben Jahr erhielt er
Zugang zum „preziösen“ schöngeistigen Salon der Marquise de Rambouillet, dessen
hohe Zeit die gut zwanzig Jahre wurden, während derer er dort mit seiner
Konversation, seinen unterhaltsamen Einfällen sowie seinen Versen und Briefen
tonangebend war.
Ebenfalls
1626 wurde er von Gaston d’Orléans als „gentilhomme ordinaire“ in sein Personal
aufgenommen und bald mit der protokollarischen Aufgabe betraut, ihm die
Botschafter ausländischer Fürsten zu präsentieren. Denn Gaston war aufgrund der
langen, bis 1638 währenden Kinderlosigkeit von Louis XIII viele Jahre hindurch
potenzieller Thronfolger und wurde als solcher nicht nur häufig in
Adelskomplotte gegen den allmächtigen Minister Kardinal de Richelieu
hineingezogen, sondern auch von auswärtigen Fürsten umworben, die mit oder
gegen Frankreich am Dreißigjährigen Krieg (1618-48) beteiligt waren.
Als
1628 Gaston ein erstes Mal vom König mit Verbannung bestraft wurde, folgte
Voiture ihm ins Exil nach Lothringen, das noch zum Deutschen Reich gehörte;
1631 folgte er ihm ins damals spanische (d.h. feindliche) Brüssel. 1633 reiste
er für ihn, denn offenbar besaß er Spanischkenntnisse, in diplomatischer
Mission nach Madrid, wobei er einen Abstecher ins nordafrikanische Ceuta machte
und über Lissabon und England zurückkehrte. Die Briefe und Versepisteln, die er
jeweils aus der Ferne an Freunde vom Hôtel de Rambouillet schickte, waren dort
stets ein Ereignis und wahrten ihm in Abwesenheit seinen Platz als zentrale
Figur.
Über
das Hôtel de Rambouillet und die dort verkehrenden Autoren hatte Voiture naturgemäß
Anschluss an Pariser Literatenzirkel gefunden. Insbes. gehörte er zu dem um
Valentin Conrart (s.u.) vereinten Kreis und zählte so, als dieser 1634 von
Richelieu zum Gründungskern der Académie Française erhoben wurde, zu deren
ersten Mitgliedern.
Spätestens
hierdurch trat er, trotz seiner Nähe zu Gaston d’Orléans, in ein näheres
Verhältnis auch zu Richelieu, dem er sich 1636 durch ein Gedicht über die
Rückeroberung der pikardischen Stadt Corbie empfahl, die zuvor von spanischen
Truppen eingenommen worden war.
1638
reiste Voiture, der auch über Italienischkenntnisse verfügte, in diplomatischer
Mission, nunmehr des Königs, zum Großherzog von Toscana. Bei einem Abstecher
nach Rom kümmerte er sich dort um einen Prozess der aus Italien stammenden
Marquise de Rambouillet, traf Literaten und wurde in eine „Akademie der
Humoristen“ aufgenommen.
Zurück
in Paris erreichte er den Höhepunkt seiner Höflingskarriere, als er 1639 von
Louis XIII zum Königlichen Hofmeister (maître d’hôtel du Roi) ernannt wurde,
eine Beinahe-Sinekure mit erfreulichem Gehalt, das vermehrt wurde durch eine
jährliche Zahlung (pension) von 1000 Talern (écus), die ihm die Königin aus
ihrer Schatulle gewährte. Als ihn 1642 sein alter Schulfreund, der in der
Steuererhebung tätig war, zu einer Art Bürochef mit 4000 Talern Einkommen
machte, war er mehr als nur wohlhabend.
Nach
dem Tod von Richelieu (1642) und Louis XIII (1643) schaffte es Voiture, die
Gunst auch des neuen mächtigen Mannes, des Kardinals Mazarin, zu erlangen.
Nach
wie vor verkehrte er im Hôtel de Rambouillet. So war er dort 1645 Protagonist
eines literarischen Duells in Sonetten, zu dem ihn ein gewisser Claude de
Malleville herausforderte und das lange Diskussionen auslöste. Und noch nach
seinem Tod, sorgte er für Gesprächsstoff, als 1650 der vor allem als Dramatiker
aktive Isaac de Benserade ein Sonett von ihm mit einem themengleichen Gedicht
zu übertreffen versuchte.
Da
er als Autor letztlich nur dilettierte, beschränkte Voiture sich hierbei auf
kürzere Versgattungen, d.h. Sonette, Balladen, Rondeaus, Episteln u.ä., sowie
Briefe. Das Markenzeichen dieser Texte sind Gefälligkeit, Esprit und
Leichtigkeit bei formaler Perfektion. So sind seine Verse in Metrik und Sprache
sowie in ihrer Metaphorik und Gedanklichkeit durchaus kunstvoll, wirken aber
selten angestrengt oder gar gekünstelt. Gemäß dem in der Salonliteratur
geltenden Ideal eines „mittleren“ Stils, vermeiden sie Pathos und Emphase
ebenso wie Gelehrsamkeit, Derbheit oder Schlüpfrigkeit. Ihr Gegenstand ist zum
einen meist das Thema Frauenschönheit und Liebe, das, sichtlich in Anlehnung an
Clément Marot (s.o.), spielerisch-galant behandelt wird, sowie zum anderen
Fürstenlob in verschiedenster Form, das aber unaufdringlich-launig zu sein
versucht. Die Briefe sind, ohne ihren Charakter als ausgefeilte Kunstwerke zu
leugnen, nicht für ein anonymes Publikum oder gar die Nachwelt verfasst,
sondern stets an konkrete Empfänger gerichtet. Mit ihrer Orientierung an der
kultivierten gesprochenen Sprache der Salons, ihrem Humor und ihren diskreten
privaten Anspielungen sollten sie spontan und vor allem persönlich wirken,
obwohl sie sichtlich dazu bestimmt waren, auch von Dritten, vor allem
gemeinsamen Bekannten, gelesen und goutiert zu werden.
Da
ihm der Beifall seines engeren Hörer- und Leserkreises genügte, bemühte Voiture
sich nicht um die Verbreitung seiner Texte per Druck. So wurde er einem
größeren Publikum erst postum bekannt dank einer einbändigen Sammelausgabe
seiner Gedichte und Briefe, die kurz nach seinem Tod ein Neffe besorgte. Sie
wurde bis 1745 häufig neu aufgelegt und hat viele spätere Autoren beeinflusst,
z.B. Jean de La Fontaine, Nicolas Boileau oder Mme de Sévigné.
(Stand: Jan. 09)
Charles Sorel (*1599 in
Paris; † 7.3.1674 ebd.).
Er ist im deutschen Sprachraum kaum
bekannt geworden, gilt in der franz. Literaturgeschichte aber durchaus als
bedeutsamer Autor.
Sorel stammte aus einer Pariser
Juristenfamilie und erhielt eine passable Bildung. 1623 betrat er als ganz
junger Mann höchst erfolgreich die literarische Bühne mit La vraie histoire comique de Francion, dem ersten französischen
Picaro-Roman nach spanischen Vorbildern (wie z.B. dem Lazarillo de Tormes von 1554). Es ist die Geschichte eines jungen
Provinzadeligen, der zunächst ein Liebesabenteuer mit einer verheirateten Frau
hat, dann aber eine ideale Geliebte wiederzufinden versucht, die nach Italien
entschwunden ist und die er schließlich auch bekommt. Eingefügt in diese
Haupthandlung, die zunächst bei und in Paris, dann in und bei Rom spielt, sind
längere Einschübe, in denen verschiedene der Figuren, darunter der Titelheld
Francion selbst, als Ich-Erzähler rückblickend aus ihrem mehr oder weniger
bewegten Leben berichten. Hierbei gibt Sorel in einer für die Zeit sehr
realistischen Weise Einblick in die Lebensverhältnisse fast aller Schichten der
damaligen franz. Gesellschaft, die im Rahmen spannender Handlungssequenzen
nicht ohne Witz und Satire dargestellt werden. Der Francion wurde das ganze 17. Jh. hindurch ständig nachgedruckt und
vielfach imitiert.
1627/28 publizierte Sorel einen
weiteren, aber deutlich weniger erfolgreichen Roman, Le Berger extravagant. Es ist die quasi mit pädagogischen
Intentionen erzählte Geschichte eines jungen Pariser Bourgeois, der nach allzu
ausgiebiger Lektüre von Schäferromanen als Hirte mit dem romanesken Namen Lysis
zu leben versucht, dank dem Spott seiner Freunde schließlich aber von seiner
Torheit geheilt wird. In diesem teilweise reichlich lehrhaften
"Anti-Roman" (so der Titel der überarbeiteten Version von 1633/34)
persiflierte Sorel die von Honoré d'Urfé (s.o.) mit seinem Schäferroman L'Astrée ausgelöste Mode der
Schäfergedichte, Schäferstücke, Schäferromane und schäferlichen
Gesellschaftsspiele aller Art.
1635 kaufte Sorel von einem Onkel das
Amt eines Historiographe [Chronisten] de
France, das zwar nur mäßig dotiert war, aber eine Beinahe-Sinekure
darstellte, die es einem Literaten erlaubte, einigermaßen unabhängig von
Mäzenen und von der Gunst des Publikums zu schriftstellern. Dies tat er denn
auch mit Fleiß noch viele Jahre, wobei er neben zwei weiteren Romanen
vorwiegend ernsthaftere „livres d'histoire, de morale et politique“ verfasste
(z.B. eine Histoire de Louis XIII,
1646). Er konnte jedoch nicht mehr anknüpfen an den großen Erfolg des Francion und den immerhin passablen des Berger, die die Entwicklung der franz.
Literatur beeinflusst haben und ihrem Autor bis heute eine gewisse Bekanntheit
sichern.
Von Interesse ist Sorel übrigens auch
als Chronist der Literatur seiner Zeit mit den Büchern La Bibliothèque française (1664) und De la connaissance des bons livres (1671), wobei er der erste in
Frankreich war, der sich an solchen Überblicken versuchte.
(Stand: Febr. 08)
René Descartes (* 31.3.1596
in La Haye/Touraine; † 11.2.1650 in Stockholm)
Er gilt den Franzosen als einer ihrer
wichtigsten Denker und hat, so das verbreitete Klischee, den franz.
Nationalcharakter im Sinne von Logik, Ordnung und Rationalität geprägt: des
nach ihm benannten esprit cartésien.
Er wurde geboren als viertes Kind einer
kleinadeligen Familie der Touraine; sein Vater war Gerichtsrat (conseiller) am Parlement von Rennes, dem
Obersten Gerichtshof der Bretagne. Da seine Mutter gut ein Jahr nach seiner
Geburt starb und der Vater sich rasch wieder verheiratete, verlebte Descartes
seine Kindheit bei einer Amme und einer Großmutter. Mit 8 kam er als
Internatsschüler auf das Jesuitenkolleg von La Flèche, das er 1614 mit einer
soliden klassischen, aber auch mathematischen Bildung verließ sowie mit
überwiegend positiven Erinnerungen an seine Lehrer und Mitschüler, von denen einer,
der spätere Pariser Privatgelehrte und Naturforscher Marin Mersenne (1588-1648)
eine enge Bezugsperson für ihn blieb.
Bis 1616 studierte Descartes Jura in
Poitiers und legte ein juristisches Examen ab, so als wolle er in die
Fußstapfen seines Vaters treten. Anschließend absolvierte er jedoch an einer
Pariser „Académie“ für junge Adelige einen Lehrgang in Fechten, Reiten, Tanzen
und gutem Benehmen und verdingte sich (ebenfalls noch 1616) bei dem berühmten
Feldherrn Moritz von Nassau im holländischen Breda, so als wolle er die andere
Option eines jungen Adeligen ausüben, nämlich eine Offizierskarriere. In Breda
lernte er den 6 Jahre älteren Arzt und Naturforscher Isaac Beeckmann kennen,
der ihn für die Physik begeisterte und dem er, dankbar für diese Initiation,
sein erstes naturwissenschaftliches Werk widmete, das mathematisch-physikalisch
orientierte Musicae compendium (1618).
1619, nach Reisen durch Dänemark und
Deutschland, verdingte sich Descartes nochmals als Soldat, nunmehr bei Herzog
Maximilian von Bayern, unter dem er auf kaiserlich-katholischer Seite an der
Eroberung Prags teilnahm, d.h. den ersten Kämpfen des Dreißigjährigen Krieges
(1618-48).
Im November 1619, kurz nachdem er in
Prag die Arbeitsstätte der Astronomen Tycho Brahe (1546-1601) und Johannes
Kepler (1571-1630) besichtigt hatte, bekam er in einer Art Vision die Idee,
dass es „eine universale Methode zur Erforschung der Wahrheit“ geben müsse und
dass er berufen sei, sie zu finden, wobei er keine Erkenntnis akzeptieren dürfe
außer der, die er in sich selbst oder dem „großen Buch der Welt“ endeckt und
auf ihre Plausibilität und Logik hin überprüft habe.
1620 hängte er also den Soldatenrock an
den Nagel, machte die Pilgerfahrt, die er der Jungfrau Maria zum Dank für die
Vision gelobt hatte, und ging einige Jahre lang auf jeweils vielmonatige Reisen
durch Deutschland, Holland, die Schweiz und Italien. Sein Anliegen war,
Einblicke jeglicher Art zu gewinnen und sich im Gespräch mit den
verschiedensten Leuten, vor allem Gelehrten, zu bilden.
1625, nachdem er sein Erbe liquidiert
und so angelegt hatte, dass es ihm ein bescheiden auskömmliches Leben erlaubte,
ließ er sich nieder in Paris. Hier verkehrte er mit Intellektuellen und in der
guten Gesellschaft (bestand auch siegreich ein Duell), las, schrieb (z.B. den
kleinen Traktat Regulae ad directionem
ingenii =Regeln zur Leitung des Intellekts, 1628) und machte sich einen
Namen als scharfsinniger Kopf. Insbesondere beeindruckte er auf einer
Abendgesellschaft den Kardinal Pierre de Bérulle so sehr, dass dieser ihn zu
einer Privataudienz einlud und ihn danach aufforderte, seine Theorien
ausführlicher darzustellen und damit die Philosophie zu reformieren.
Descartes zog deshalb 1629 aus Paris
nach Holland, wohin ihn vielleicht die noch bestehende (aber bald in die Brüche
gehende) Freundschaft mit Beeckmann zog sowie zweifellos das anregende und
tolerantere geistige Klima, das in diesem multireligiösen und wirtschaftlich
potenten Land mit großer Schul- und Hochschuldichte sowie vielen Buchdruckern
herrschte. Hier verbrachte er, zwar im Austausch mit Intellektuellen
unterschiedlichster Herkunft und Ausrichtung, aber dennoch relativ
zurückgezogen, die nächsten 18 Jahre, wobei er seltsam unstet die Städte und
Wohnungen wechselte (mit einer Dienstmagd aber auch ein Kind, ein Mädchen,
zeugte, deren Tod ihn erschütterte, als sie fünfjährig starb). Vor allem jedoch
schrieb er fleißig, darunter zahlreiche Briefe, die er über seinen Pariser
Freund Mersenne, der allein seine jeweilige Adresse wusste, mit Gelehrten aus
ganz Europa sowie auch einigen geistig interessierten hochstehenden Damen
wechselte.
Die ersten Monate in Holland arbeitete
Descartes an einem Traktat zur Metaphysik, in welchem er einen klaren und definitiven
Gottesbeweis zu führen hoffte. Er legte ihn jedoch beiseite, um an einem
großangelegten naturwissenschaftlichen Werk zu arbeiten, das er in der sich
langsam profilierenden Wissenschaftssprache Französisch verfasste und nicht
mehr, wie seine bisherigen Texte, in dem bis dahin dominierenden Latein. Diesen
Traité du Monde (=Abhandlung über die
Welt), wie er heißen sollte, ließ er jedoch unvollendet, als er vom Schicksal
Galileo Galileis erfuhr, der soeben (1633) von der Inquisition zum Widerruf seiner
Erkenntnisse gezwungen worden war, die das heliozentrische Weltbild von
Kopernikus und Kepler bestätigten.
1637 publizierte er im holländischen
Leiden den Discours sur la méthode pour
bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, plus la
Dioptrique, les Météores et la Géométrie qui sont des essais de cette méthode (=Rede/Vortrag
über die Methode, seine Vernunft gut zu führen und die Wahrheit in den
Wissenschaften zu suchen, dazu die Lichtbrechung, die Meteore und die Geometrie
als Versuchsanwendungen dieser Methode). Der als populärwissenschaftliches Werk
auf hohem Niveau angelegte Discours sur
la méthode (den auch Damen lesen können sollten) wurde Descartes'
langfristig wirksamstes Buch, das nach Meinung vieler Franzosen ihr Denken im
Sinne einer auf Logik und Systematik bedachten analytischen Intellektualität
geformt hat. Fixpunkte des Discours sind
eine Erkenntnistheorie, die nur das als richtig akzeptiert, was durch die
eigene schrittweise Analyse und logische Reflexion als plausibel verifiziert
ist; eine Ethik, gemäß der das Individuum sich im Sinne bewährter
gesellschaftlicher Konventionen pflichtbewusst und moralisch zu verhalten hat;
eine Metaphysik, die zwar (durch logischen Beweis) die Existenz eines
vollkommenen Schöpfer-Gottes annimmt, aber kirchenartigen Institutionen wenig
Raum lässt; eine Physik, die die Natur als durch allgemein gültige Gesetze
geregelt betrachtet (göttliche und sonstige Wunder also ausschließt) und dem
Menschen ihre rationale Erklärung und damit ihre Beherrschung zur Aufgabe
macht.
Langfristig weniger wirksam, aber in
Fachkreisen zunächst offenbar anstößiger waren die nächsten Werke von
Descartes: die 1641 gedruckten Méditations
sur la philosophie première, dans laquelle sont démontrées l'existence de Dieu
et l'immortalité de l'âme (so der Titel einer franz. Übersetzung von 1647)
und die Principia philosophiae
(=Grundlagen der Philosophie, 1644). Die letzteren veranlassten Utrechter und
Leidener calvinistische Theologen zu einer derart agressiven Polemik, dass
Descartes 1645 an einen Umzug nach England dachte und in den Folgejahren
mehrmals fluchtartig aus Holland nach Frankreich verreiste.
Sicher ließ ihn diese Situation
nachdenken über die Beweggründe menschlichen Verhaltens, und sie ist vielleicht
nicht unbeteiligt an dem Traktat Les passions de l'âme (=die Leidenschaften
der Seele, 1649), den er für seine eifrigste, kritischste und kompetenteste
Briefpartnerin, Elisabeth von Böhmen, verfasste. Hierin interpretiert er nicht
nur die direkten Reflexe, z.B. die Angst, sondern auch die spontanen
Gefühlsregungen, z.B. Liebe oder Hass, als nur zu natürliche Ausflüsse der
kreatürlichen Körperlichkeit des Menschen, verpflichtet jedoch diesen, als ein
zugleich mit einer Seele begabtes Wesen, zu ihrer Kontrolle durch den Willen
und zu ihrer Überwindung durch vernunftgelenkte Regungen wie z.B. selbstlosen
Verzicht oder großmütige Vergebung. Mit diesem Ethos der Pflicht und der
Selbstüberwindung hat Descartes die Literatur der franz. Klassik des 17.
Jahrhunderts, insbes. den Dramatiker Pierre Corneille (s.u.), stark
beeinflusst.
Um 1645 hatte er einen BriefwechseI
begonnen mit der hochgebildeten jungen Königin Christina von Schweden
(1626-89), die durch den franz. Botschafter auf ihn aufmerksam gemacht worden
war. Im Spätsommer 1649 folgte er ihrem Wunsch, er möge sie persönlich in seine
Philosophie einführen, und reiste nach Stockholm. Hier wohnte er bei dem
Botschafter, musste aber wochenlang auf die zunächst abwesende Königin warten,
ehe es Ende Januar zu einigen wenigen Audienzen kam (übrigens jeweils morgens
um fünf). Anfang Februar 1650 erkrankte Descartes und starb zehn Tage später.
Hatte man bisher der Annahme den Vorzug gegeben, er sei an einer Lungenentzündung
gestorben, so konnte kürzlich Theodor Ebert (Der rätselhafte Tod des René
Descartes, 2009) durch akribische Recherchen die schon unter Zeitgenossen
kursierende Vermutung bestätigen, dass er vergiftet wurde. Der Täter war dann
vermutlich ein franz. Augustinermönch, der ebenfalls im Haus des Botschafters
wohnte, viel mit Descartes diskutiert hatte, ihn sichtlich nicht für einen
rechtgläubigen Katholiken hielt und offenbar verhindern wollte, dass er die
Königin durch seine rationalistischen Lehren von dem Gedanken abbringen könnte,
katholisch zu werden (was sie wohl schon damals überlegte und wenig später,
1654, tat).
Descartes’ Schriften wurden 1663 vom
Vatikan auf den Index gesetzt.
Die berühmte Maxime „cogito, ergo sum“
(=ich denke, also bin ich existent), die der Erkenntnistheorie Descartes’
zugrunde liegt, ist gebildeten Europäern bis heute geläufig. Als seine
dauerhafteste Leistung sollte sich allerdings sein Beitrag zur Mathematik
erweisen: die Entwicklung der analytischen Geometrie.
(Stand: Nov. 09)
Tristan L’Hermite (eigentlich François L’Hermite, seigneur du Solier; * 1601
auf Schloss Solier/Marche; † 11.9.1655 in Paris)
Dieser als Lyriker und Dramatiker von
den Zeitgenossen sehr geschätzte Autor stammte aus einer alten, aber verarmten
Adelsfamilie. Schon als 5-Jähriger wurde er Page bei einem legitimierten
Bastard von König Henri IV, wobei er, teils als Spielgefährten, viele
hochadelige Personen kennenlernte. Mit 13 verletzte er in einem Duell einen
königlichen Gardisten tödlich und musste fliehen. Nach einem unsteten
Wanderleben vor allem in England und Schottland kam er 1619 nach Frankreich
zurück, trat in die Dienste eines höherrangigen Adeligen und wurde vom jungen
König Louis XIII begnadigt. 1621 avancierte er sogar zum gentilhomme ordinaire (einer Art Edeldomestik) bei Gaston
d'Orléans, dem jüngeren Bruder des Königs, dem er bis 1634 diente und mehrfach
bei dessen Verbannungen vom Hof ins Exil folgte.
Nachdem er sich schon seit etwa 1624
unter dem Pseudonym „Tristan“ literarisch betätigt hatte, versuchte er ab 1634
als Autor zu leben, d.h. von den Zuwendungen verschiedener Mäzene, aber auch
von der Vermarktung seiner Werke, insbes. seiner Theaterstücke – was nicht
ausschloss, dass er von Zeit zu Zeit wieder hochstehenden Personen zu Diensten
war, z.B. Gaston oder dem duc de Guise.
1633 war das Gedichtbändchen Les Plaintes d'Acante sein Durchbruch,
1638 gab er seine Lyrik gesammelt heraus als Les amours de Tristan.
1636 verfasste er das erste und erfolgreichste seiner rd. 10 Stücke, die Tragödie
La Marianne, die den
Herodes-Mariamne-Stoff aus der jüdischen Geschichte behandelt. 1642 stellte er Le Page disgrâcié fertig, einen
autobiografischen Roman im Stil der Picaro-Romane, der den jungen Tristan als
Spielball eines launischen Schicksals darstellt und als einer der ersten franz.
autobiografischen Romane von Bedeutung gilt.
1648 wurde er in die Académie Française
(s.u.) aufgenommen. Bald nach seinem Tod jedoch geriet er in den Schatten der
Generation der Klassiker, die nach ihm die literarische Bühne betrat und so gut
wie alle Autoren davor als zweitrangig erscheinen ließ.
(Stand: Juli 05)
Georges
de Scudéry (* 22. 8. 1601
in Le Havre; † 14. 5.
1667 in Paris)
Er
ist heute praktisch nur noch bekannt als Bruder der Autorin Madeleine de
Scudéry (s.u.), die einen Großteil ihres Romanschaffens unter seinem Namen
veröffentlichte, in der Literaturgeschichte aber ungleich größere Geltung
genießt.
Scudéry
stammte aus einer ursprünglich südfranzösischen adeligen Familie. Sein Vater
war jedoch Marineoffizier geworden und befehligte später den befestigten Hafen
Le Havre. Mit 12 Jahren wurde er Waise und kam zusammen mit seiner sechs Jahre
jüngeren Schwester zu einem Onkel bei Rouen, der ihnen eine gute Bildung
angedeihen ließ. Um die 20 Jahre alt hielt er sich offenbar längere Zeit in Rom
auf. Mit 22 wurde er Offizier und nahm an einigen der Feldzüge teil, mit denen
die Krone die Macht der eigentlich gleichberechtigten, aber als widerspenstig
und aufsässig geltenden Protestanten zu brechen versuchte. 1630 quittierte er
den Dienst, um sich ganz der Literatur zu widmen.
Er
ließ sich, zusammen mit seiner Schwester, die unverheiratet blieb, in Paris
nieder, wo er das Image eines adeligen Militärs und Haudegens kultivierte, der
nur nebenher und eher widerwillig schrieb.
Er
debütierte 1631 mit einem Band Gedichte im Stil von Théophile de Viau (s.o.),
doch betätigte er sich anschließend vor allem als Dramatiker mit einer Serie
von insgesamt 16 passabel erfolgreichen Theaterstücken, überwiegend
Tragikomödien. Er fand Zugang zu Pariser Salons (wo er auch seine Schwester
einführte), erlangte aber auch die Protektion des allmächtigen Ministers
Kardinal Richelieu, der das Theater für seine politischen Zwecke einzuspannen
bemüht war.
In
der Querelle du Cid, dem Literatenstreit um Pierre Corneilles erfolgreiche
Tragikomödie Le Cid (Auff. Ende 1636, s.u.), agierte er, zunächst mit
Rückendeckung Richelieus, als einer der aktivsten Kritiker seines jüngeren
Konkurrenten. Seine gehässigen Observations sur „Le Cid“ (1637) trugen
ihm jedoch auf lange Sicht nur den Ruf eines pedantischen Beckmessers ein. Die
aus den Observations entwickelte Apologie du théâtre (1639), mit
der er sich als Dramentheoretiker zu profilieren gedachte, fand nur geringes
Echo.
Gegen
1640 versuchte er sich als Romancier und verfasste gemeinsam mit Schwester
Madeleine den Roman Ibrahim, Ou l'Illustre Bassa (4 Bde., 1641).
Nach
dem Tod Richelieus (1642) verhielt er sich neutral gegenüber dessen unbeliebten
Nachfolger Kardinal Mazarin. Er wurde belohnt mit dem Posten eines
Befehlshabers des Forts Notre-Dame-de-la-Garde, das den Hafen von Marseille
beschützte. Hier blieb er mit Madeleine, die ihm gefolgt war, bis 1647, wonach
er sich offenbar vertreten lassen konnte und nach Paris zurückging.
Während
des Fronde-Aufstands (1648-52) ergriff Scudéry gegen Mazarin Partei und schloss
sich dem Fürsten Condé an. Zweifellos dank dessen Protektion wurde er 1650 als
Nachfolger von Claude Favre de Vaugelas (s.o.) zum Mitglied der Académie
française gewählt. Nach dem Sieg Mazarins wurde er seines Marseiller Postens
enthoben und in die Normandie verbannt. Er ließ sich in Rouen nieder, wo er das
lange Versepos Alaric, Ou Rome vaincue. Poème héroïque (1654) vollendete
und sich vorteilhaft verheiratete.
Als
er 1660 nach Paris zurückkehren durfte, hatte sich dort der literarische
Geschmack so stark verändert, dass ihm kein Come back gelang.
(Stand: Okt. 09)
Valentin
Conrart (* 1603 in
Paris; † 23.9.1675 ebd.).
Er
ist weniger als Autor im engeren Sinn bedeutsam, denn als wichtige Figur im
Pariser Literaturbetrieb seiner Zeit.
Er
war Sohn eines wohlhabenden Pariser Kaufmanns aus der protestantischen
Minderheit Frankreichs und absolvierte zunächst eine kaufmännische Ausbildung.
1627 erwarb er das Amt eines Königlichen Rates und Sekretärs, das seinem
Inhaber wenig Mühe abverlangte, aber einen adelsartigen Status verschaffte.
Hiernach widmete er sich überwiegend seinen literarischen und
gesellschaftlichen Interessen.
Allgemein
anerkannt dank seiner verbindlichen und integrativen Persönlichkeit, war er
regelmäßiger Gast in den Salons der Marquise de Rambouillet, Madame de Sablés
und später Mlle de Scudérys (s.u.), von der er in ihrem Roman Le Grand Cyrus
unter dem Namen „Théodame“ porträtiert wurde. Er selbst versammelte in seinem
Haus einen eigenen Literatenkreis, zu dem u.a. Jean Chapelain (s.o.), Vincent
Voiture (s.o.) oder Claude Favre de Vaugelas (s.o) zählten.
Aus
diesem Kreis ging 1634 durch eine Initiative des allmächtigen Ministers
Kardinal de Richelieu die Académie Française hervor, deren erster ständiger
Sekretär Conrart wurde und bis zu seinem Tod blieb.
So
spielte er in der Anfangsphase der Académie eine wichtige Rolle bei der
Erarbeitung ihrer Statuten und bei den Verhandlungen zum einen mit Richelieu
über deren Genehmigung und zum anderen mit dem König wegen ihrer Bestätigung.
Auch gewann er den Justizminister (chancelier) Pierre Séguier als Mitglied und
Schutzherrn, bei dem hinfort die Sitzungen stattfanden, und er kümmerte sich um
die Registrierung des königlichen Bestätigungserlasses durch das Parlement von
Paris. Später führte er die Protokolle und die Akten der Académie, vertrat
diese mit Geschick und Würde nach außen und trug viel dazu bei, dass sie rasch
zu einer geachteten Einrichtung wurde.
Geschrieben
hat Conrart nur wenig, publiziert noch weniger, daher der oft angeführte Vers
von Nicolas Boileau (s.u.): « J'imite de Conrart le silence prudent ».
Außer einigen Gedichten liegt von ihm nur eine postum (1681) gedruckte
Briefsammlung und ein Bericht über die Fronde-Unruhen vor (Mémoires sur
l'histoire de son temps, abgedruckt erst 1825 in den Mémoires pour
servir à l'histoire de France von Louis Jean Nicolas Monmerqué). Die
Pariser Bibliothèque de l'Arsenal besitzt weitere als Manuskript nachgelassene
Schriften.
(Stand:
Jan. 07)
1635
Bestätigung der Gründungsakte der Académie
Française durch Louis XIII
Es ist ein wichtiges, fast jedem
gebildeten Franzosen geläufiges Datum, denn die Académie Française ist nicht
nur eine der ältesten Institutionen im geistigen Leben Frankreichs, sondern
auch die prestigereichste.
Das
16. und 17. Jh. waren in Mittel- und Westeuropa die hohe Zeit der Akademien.
Diese waren mehr oder weniger locker organisierte Diskussionszirkel von
Literaten, Künstlern und Gelehrten sowie auch geistig interessierten Adeligen,
die sich zunächst meist um einen arrivierten Kollegen und/oder einen (i.d.R.
fürstlichen) Mäzen herum konstituierten. Schon 1570 wurde in Paris eine erste
Académie Française ins Leben gerufen, die jedoch bald wieder einschlief. Die jetzige
Académie Française ist hervorgegangen aus einem Pariser Literatenkreis, der
sich seit 1629 bei dem heute praktisch unbekannten Autor Valentin Conrart
(s.o.) traf. 1634 wurde der zunächst 9, dann 12 Köpfe zählende Kreis durch den
regierenden Minister Kardinal de Richelieu auf 34 Mitglieder aufgestockt und zu
einer staatlichen Institution erhoben, die 1635 von Louis XIII mit Brief und
Siegel ausgestattet wurde. 1637 wurden die Statuten vom höchsten Pariser
Gericht, dem Parlement, registriert und damit rechtskräftig. 1639 wurde die
Mitgliederzahl nochmals erhöht, und zwar auf 40, wo sie seitdem blieb.
Während
der Revolutionszeit wurde die Académie 1793 zusammen mit ihren
Schwesterinstitutionen, der Académie des Sciences und der Académie des
Inscriptions et Belles Lettres, verboten. Zur Zeit des Directoire 1795 wurden
alle drei wiederbelebt und in Form von „Klassen“ zusammengefasst zum Institut
de France. Erst 1816 wurde die Académie Française in ungefähr der alten Form
und unter dem alten Namen wieder selbständig.
Die Académie verfügte lange Zeit über
keine feste eigene Bleibe, sondern versammelte sich zunächst bei Mitgliedern,
z.B. Conrart oder, später, dem Kanzler (Justizminister) Ségier. Ab 1662 tagte
man im Louvre. Seit 1805 residiert die Académie im Collège des Quatre Nations
gegenüber dem Louvre; dort hat auch der auf Lebenszeit gewählte und
wohlbeamtete „Secrétaire perpétuel“ seine Dienstwohnung. Ebenfalls seit 1805
tragen die Mitglieder bei ihren offiziellen Zusammenkünften oder Auftritten das
habit vert (grüne Jacke und
Kniebundhose, grüner zweispitziger Hut sowie Degen).
Die Mitgliedschaft in der Académie gilt
auf Lebenszeit; Ausschlüsse sind möglich, aber äußerst selten; die ebenfalls
höchst seltenen Austritte werden ignoriert. Gern werden die Académiciens (ein Begriff, der nur sie
bezeichnet, und nicht studierte Leute allgemein) auch „les 40 Immortels“ (= die
40 Unsterblichen) genannt unter Bezugnahme auf das Motto À l'immortalité! (=
auf zur Unsterblichkeit!), das das Académie-Siegel trägt. Heute wird diese
Benennung (bei allem Respekt) allerdings meist ironisch verwendet, auch im
Hinblick auf die hohe Sterblichkeitsrate der überwiegend ja betagten
Herrschaften.
Nach dem Tod eines Mitglieds wird von
den anderen durch Wahl ein Nachfolger kooptiert, der früher vom König bestätigt
werden musste und hierdurch (wenn er nicht schon adelig war) eine
Quasi-Erhebung in den Adelsstand erfuhr. Nach seiner feierlichen Aufnahme muss
das neue Mitglied eine Laudatio auf seinen Vorgänger halten, was nicht immer als
angenehme Aufgabe wahrgenommen wird. Im Laufe ihres Bestehens haben mehr als
700 Personen der Académie angehört. Erstes weibliches Mitglied wurde 1980 gegen
damals immer noch große Widerstände die Schriftstellerin Marguerite Yourcenar.
Da mit einem Fauteuil (Sessel)
in der Académie ein hohes Prestige verbunden ist, gerät die Neubesetzung eines
vakant gewordenen Sitzes stets zu einem Pariser gesellschaftlichen Ereignis von
größtem Interesse, das von Spekulationen, Intrigen und Pressionen begleitet
wird. Naturgemäß macht nicht immer der rückblickend bessere Kandidat das
Rennen, sondern meist der angepasstere. Viele bahnbrechende Autoren (z.B.
Diderot, Rousseau, Balzac, Flaubert, Baudelaire, Zola, Sartre oder Camus) sind
nicht aufgenommen worden oder haben eine Mitgliedschaft gar nicht erst
angestrebt.
Spätestens seit der Querelle des
Anciens et des Modernes von 1687 war die Académie immer wieder Schauplatz von
Machtkämpfen zwischen Traditionalisten und Neuerern. Während im 18. Jh.
überwiegend die Neuerer das Heft in der Hand hatten, dominieren seit dem späten
19. Jh. die Traditionalisten. Deshalb werfen franz. Intellektuelle der Académie
häufig Erstarrung und eitle Selbstbeschau vor.
Die
offizielle Aufgabe der Académie war und ist laut Satzung die Vereinheitlichung
und Pflege der franz. Sprache, insbes. durch die Erarbeitung eines Wörterbuchs
sowie anderer Referenzwerke (Grammatik, Rhetorik, Poetik). In diesem Sinne
werden als Mitglieder in aller Regel Leute gewählt, die sich einen Namen als
Schreibende gemacht haben, auch wenn sie im Hauptberuf häufig keine Literaten
sind, sondern z.B. Professoren, Politiker, kirchliche Würdenträger oder
hochrangige Militärs.
Die erste Ausgabe des Académie-Wörterbuchs
erschien ab 1694. Die im 19. und 20. Jh. unternommenen Neubearbeitungen setzten
die normative Tendenz schon der ersten Ausgabe fort und bildeten, indem sie die
Umgangsprache und die Fachsprachen weitgehend ignorierten, den franz.
Sprachgebrauch immer unvollkommener ab. Entsprechend gab es schon um 1685 ein
konkurrierendes Projekt: das Dictionnaire
universel von Antoine Furetière (s.u.), das allerdings erst 1690 postum und
illegal in den Niederlanden gedruckt wurde.
Die Académie verwaltet ein beachtliches
Vermögen aus privaten Stiftungen. Aus den Erträgen finanziert sie u.a. diverse
Literatur-Preise, die sie jedes Jahr verleiht. Seit 1986 zählt hierzu der Grand
prix de la Francophonie, der das Interesse der Académie an der Verbreitung
der französischen Sprache in der Welt bezeugt.
(Stand:
Juni 12)
Jean Mairet (* 4.1.1604 in Besançon; † 31.1.1686 ebd.)
Er ist vor allem bekannt als Verfasser
von drei Tragödien (in fürstlichen Kreisen spielender, tragisch endender Stücke
mit historischem Stoff) sowie von etwa sieben Tragikomödien (in höheren Kreisen
spielender Stücke mit nicht-tragischem Ausgang) und gilt als der bedeutendste
franz.sprachige Dramatiker der Zeit zwischen 1625 und 1637, d.h. vor dem
Aufstieg des ältesten Klassikers, Pierre Corneille (s.u.).
Mairet war eigentlich zum Studium aus
der heimatlichen Franche-Comté (die damals der spanischen Krone gehörte) nach
Paris gekommen, verlegte sich aber rasch aufs Stückeschreiben. Mit etwa 20
bekam er ein erstes Stück von einem Theater abgenommen. 1626 schaffte er den
Durchbruch mit der „tragicomédie pastorale“ La Sylvie, einem Stück nach
Honoré d’Urfés (s.o.) Roman L’Astrée. 1631 plädierte er im Vorwort zu
seiner Tragödie Silvanire für die Einhaltung der drei Einheiten im Sinne
des soeben erschienenen Traktates von Jean Chapelain (s.o.) und trug damit
entscheidend zur Verbreitung der neuen Doktrin bei, nach der die Handlung eines
Stücks 1) nicht länger als 24 Stunden dauern, 2) an ein und demselben
Schauplatz spielen und 3) einlinig, d.h. ohne Nebenhandlungen, sein sollte
(Forderungen, die La Sylvie allesamt noch nicht erfüllt hatte) .
Mairets größter Erfolg war 1634 die auf
einer italienischen Vorlage beruhende Tragödie La Sophonisbe, in deren
Zentrum eine von den Römern besiegte numidische Königin steht, die Selbstmord
begeht, um sich nicht als Schauobjekt in einem Triumphzug durch Rom geführt zu
sehen. Das Stück wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein häufig gespielt. Vor
allem aber ist es die erste gelungene franz. Tragödie nach Chapelains
Regelwerk.
1637 war Mairet einer der Wortführer in
der sog. Querelle du Cid und verfasste mehrere Pamphlete gegen
Corneille, der in seiner sehr erfolgreichen Tragikomödie Le Cid' (1636)
die drei Einheiten nicht respektiert hatte und dafür auch von der neuen
Académie Française gerügt wurde. Corneille antwortete u.a. mit einem Avertissement
au Besançonnois Mairet, dessen Titel sichtlich auf die
Tatsache anspielt, dass sein Gegner quasi ein feindlicher Ausländer war, denn
Frankreich führte gerade u.a. in der Franche-Comté Krieg gegen Spanien
(1636-44). Die beiden Autoren beendeten den Streit schließlich auf Order von
Kardinal-Minister Richelieu, und Mairet musste sein mutmaßliches Hauptziel aufgeben, nämlich
Corneille als Konkurrenten auszubremsen. Seine eigene Karriere beschloss er
1643 mit der Tragikomödie La Sidonie.
Er blieb aber weiterhin in Paris und
wurde dort 1648 zu einer Art Botschafter seiner Heimatprovinz ernannt, die nach
Beendigung des Dreißigjährigen Krieges und dem Abschluss des Westfälischen
Friedens zunehmend von Frankreich vereinnahmt wurde. 1653 wurde er wegen
angeblicher königsfeindlicher Reden während des Fronde-Aufstands (1648-52) aus
Paris ausgewiesen, durfte aber bald zurückkehren. Als 1668 Louis XIV die
Franche-Comté handstreichartig annektierte und damit den Botschafterposten
überflüssig machte, ging Mairet nach Besançon zurück, das, nachdem es von 1307 bis
1664 Freie deutsche Reichsstadt gewesen war, 1679 endgültig an Frankreich fiel.
(Stand: Mai 09)
Madeleine de Scudéry (* 1607 in Le
Havre; † 1701 in Paris).
Mlle de Scudéry (wie sie in der
Literaturgeschichte heißt) zählt zu den größten franz. Autorinnen und wurde als
erste von ihnen auch außerhalb Frankreichs viel gelesen.
Sie wurde geboren als Tochter eines
kleinadeligen Kaperschiff-Kapitäns und dann Befehlshabers des befestigten
Hafens von Le Havre. Nach ihrer frühen Verwaisung wurden sie und ihr 6 Jahre
älteren Bruder Georges (s.o.) von einem Onkel bei Rouen aufgenommen, der ihnen
eine gute Bildung angedeihen ließ. Als Georges 1630 eine siebenjährige Zeit als
Offizier beendet hatte und mit der Absicht Literat zu werden nach Paris ging,
folgte sie ihm und blieb auch, da sie offenbar nicht zu heiraten gedachte
und/oder nicht die nötige Mitgift hatte, in den nächsten 20 Jahren mit ihm in
einem gemeinsamen Haushalt zusammen. Hierbei folgte sie ihm sogar nach
Marseille, wo er 1642-47 einen militärischen Posten am Hafen bekleidete.
Über Georges kam sie, zunächst als
seine Juniorpartnerin, zum Schreiben: Gemeinsam (wenn wohl auch mit zunehmend
geringerem Anteil von ihm, der sich mehr als Dramatiker sah) verfassten sie den
Roman Ibrahim, ou l'Illustre Bassa
(1641, 4 Bde). Über Georges auch erhielt sie Zugang zu Pariser
Literatenkreisen, insbes. zum Salon der Marquise de Rambouillet, der Leitfigur
der préciosité, sowie später zum
Kreis um den großen Mäzen der 50er Jahre, Finanzminister Nicolas Fouquet.
Ihr Durchbruch – immer noch unter dem
Namen des Bruders – wurden die pseudohistorischen Romane Artamène ou le Grand Cyrus (1649-53) und Clélie, histoire romaine (1654-60), die heute als Höhepunkte des
„heroisch-galanten“ Romans gelten. Es sind zwei jeweils zehnbändige Werke, in
deren locker strukturierter Haupthandlung und vielen Einschüben es zentral nur
um drei Dinge geht: die allen Schicksalsschlägen trotzende heroisch-tugendhafte
Liebe hochstehender Damen, die Kriegs- und Heldentaten der sie verehrenden
Herren und geistreich-galante Konversationen der Damen und Herren über das
Thema Liebe. Sprichwörtlich geworden ist die „carte de Tendre“ aus Clélie, eine allegorische Landkarte des
Reiches der Liebe, in dem die Leidenschaft gezügelt und in eine Sympathie der
Seelen überführt ist. Le Grand Cyrus
und Clélie wurden in ganz Europa vor
allem von einem adeligen Publikum gelesen, aber durchaus auch im Bürgertum. Für
die Pariser Leser waren sie darüber hinaus als Schlüsselromane von Interesse:
Viele der dargestellten Ereignisse und vor allem ein Großteil der auftretenden
Personen hatten wiedererkennbare Vorbilder im zeitgenössischen Frankreich, z.B.
den hochadeligen Heerführer Fürst Condé (Cyrus), sowie im engeren Umfeld der
Autorin, z.B. die befreundeten Literaten Paul Pellisson (s.u.) oder Mme de
Sévigné (s.u.).
Nachdem Mlle de Scudéry sich aus dem
Schatten ihres Bruders herausgearbeitet hatte und dieser überdies 1652 als
„Frondeur“ in die Normandie verbannt worden war, hatte sie begonnen sich ihren
eigenen Salon zu schaffen. Hier ließ sie sich als „neue Sappho“ umschwärmen,
empfing fast alle wichtigen Autoren der Zeit und auch Besucher aus den höheren
Ständen und trat ein wenig die Nachfolge der Marquise de Rambouillet an, die es
sich zur Aufgabe gemacht hatte, die in hundert Jahren Krieg verrohten adeligen
Männer zu galant flirtenden und gepflegt parlierenden sowie bei Bedarf auch
lyrisch dilettierenden Kavalieren zu erziehen.
Die weiteren Romane, die Mlle de
Scudéry verfasste (z.B. 1661 Célinte
oder 1667 Histoire de Mathilde d'Aguilar),
waren der neuen Mode folgend deutlich kürzer und realistischer, aber auch
weniger erfolgreich.
Um 1670 war sie für einen Sitz in der
Académie Française im Gespräch (die so vielleicht schon damals ihren Charakter
als bloßer Männerclub verloren hätte), doch erhielt sie dann 1671 nur den
ersten von der Académie vergebenen „prix
d'éloquence“ (=Beredsamkeitspreis).
Nochmals erfreulichen Ruhm erlangte sie mit den mehrbändigen Conversations morales (1680-92).
Sie erreichte das für damals sehr hohe
Alter von 94 Jahren.
P.S.: Andere bedeutendere Autoren der
um 1650 florierenden Gattung „heroisch-galanter Roman“ (roman héroïco-galant) sind Marin Le Roy de Gomberville (1600–1674)
mit Polexandre (5 Bde, 1629-37) und
Gautier de Costes de La Calprenède (1610–1660, s.u.) mit Cassandre (10 Bde, 1642-45), Cléopâtre
(12 Bde, 1647-56) und Faramond (12
Bde, 1661-70).
(Stand: Jan. 09)
Pierre Corneille (* 6.6.1606 in Rouen; † 1.10.1684 in Paris).
Er
ist der älteste und einer der bedeutendsten der Autoren des „klassischen“
Zeitalters der franz. Literatur. Im Verein mit den 15 bzw. 23 Jahren jüngeren
Kollegen Molière (s.u.) und Jean Racine (s.u.) bildet er in den Augen der
Franzosen das Dreigestirn ihrer größten Dramatiker.
Corneille
wuchs auf als erstes von sechs Kindern eines wohlhabenden königlichen Jagd- und
Fischereiaufsehers in Rouen. Hier auch besuchte er das Jesuitenkolleg, wo er
eine gediegene Bildung erhielt, insbes. in klassisch-lateinischer Literatur.
Anschließend studierte er Jura, ebenfalls in Rouen, und wurde mit 18 als Anwalt
im Praktikantenstatus am dortigen Parlement zugelassen, dem höchsten Gericht
der Normandie. Mit 22 (1628) bekam er von seinem Vater je ein kleineres
Richteramt am Parlement sowie in der Fischerei- und Jagdgerichtsbarkeit
gekauft, die er bis 1650 ausübte. Soziologisch gesehen zählte er hiermit zum
sog. Amtsadel (noblesse de robe), einer Schicht zwischen Erwerbsbürgertum und
Adel, deren meist käufliche und vererbbare Ämter, wenn sie hochrangig waren,
ihren Inhabern den erblichen Adel verschafften, wenn sie niedriger waren, zumindest
bestimmte Privilegien gewährten.
Der eigentliche Ehrgeiz Corneilles galt
jedoch schon seit der Schulzeit dem Schreiben von Gedichten (auch in
lateinischer Sprache) und von Stücken. Als 1629 der bekannte Schauspieler und Theaterdirektor
Mondory mit seiner Wandertruppe in Rouen gastierte, bot Corneille ihm seine
spätestens im Vorjahr, vielleicht sogar schon 1625 verfasste Komödie Mélite an. Dieses Verwirrspiel um sechs
junge Leute, die sich schließlich zu drei Paaren finden, kam im Winter 1629/30
sehr erfolgreich in Paris auf die Bühne und half Mondory, sich dort mit einem
neuen Theater fest zu etablieren, dem Théâtre du Marais.
In den folgenden Jahren schrieb
Corneille für das Marais eine Serie weiterer Stücke. Das erste war die
wenig erfolgreiche Tragikomödie Clitandre, Ou l’innocence persécutée (=C,
oder die verfolgte Unschuld, 1630/31), ein unendlich kompliziertes Stück um
Liebe, Eifersucht, Hass, Mordversuche, Verwechselungen und den Zorn eines
Fürsten, der den Titelhelden, einen Höfling, als vermeintlichen Verräter
verurteilt, aber dann begnadigt. Mit Clitandre bezieht sich Corneille
zum ersten Mal, wenngleich nur vage, auf aktuelle Zeitereignisse, nämlich den
Prozess gegen den Anti-Richelieu-Verschwörer Marillac. Es war auch das erste
Stück, das er drucken ließ, wobei er unter dem Titel Mélanges poétiques eine
Auswahl seiner bis dahin verfassten Gedichte anhängte. Es folgten die Komödien La
Galerie du Palais (=der große Saal des Justiz-Palastes, 1632), La Veuve (1633), La Suivante (=die
Gesellschafterin, 1634) und La Place Royale (=der Königsplatz [sc. die
heutige Place des Vosges], 1634). Die letztere scheint in der extremen
Bindungsscheu des Protagonisten Alidor ein persönliches Problem Corneilles zu
gestalten: die Furcht sich zu binden (die vielleicht durch seine enttäuschte
Jugendliebe zu einer gewissen Catherine Hue verstärkt worden war).
Alle diese frühen Stücke gelten heute als zwar weniger bedeutende Jugendwerke, wirkten damals aber neuartig, denn trotz ihrer konventionellen Aufmachung schienen sie in Sprache und Geist die zeitgenössische Gesellschaft zu spiegeln und spielten auch meist, z.T. schon am Titel erkennbar, in Paris. Zudem hatten sie passablen bis guten, Mélite und La Galerie sogar sehr guten Erfolg und verschafften Corneille früh den Status eines anerkannten Autors.
Als solcher erhielt er bei seinen häufigen Paris-Besuchen
auch bald Kontakt zu Literatenkreisen und Salons, u.a. dem der Marquise de
Rambouillet. Als geistreicher Unterhalter galt er dort nicht; auch effektvoll
aus aus seinen Stücken vorzulesen lag ihm wenig. Immerhin schätzte man die
Gelegenheitsdichte, die er bei diesem oder jenem geselligen Anlass beitrug.
1633 betätigte sich Corneille erstmals
als Panegyriker, ein heute wenig bekannter Aspekt seines Schaffens. Er
verfasste im Auftrag des Bischofs von Rouen ein Lobgedicht, mit dem dieser
König Louis XIII und dessen allmächtigen Kardinal-Minister Richelieu bei einem
Besuch begrüßen ließ.
1634, nach dem großen Erfolg der
Tragödie Sophonisbe von Jean Mairet (s.o.), versuchte sich auch
Corneille, vorerst wenig überzeugend, in dieser Gattung und verfasste Médée (Auff. 1635), sein erstes einen antiken Stoff verarbeitendes Stück.
1635
wurde er, u.a. zusammen mit dem etwas jüngeren Jean Rotrou (s.u.), Mitglied
einer Gruppe von fünf Autoren im Dienst Richelieus, der das Theater zu einem
Ort der Propaganda für seine Politik der Stärkung der absoluten Monarchie zu
machen versuchte. Nach zwei im Team verfassten Stücken stellte Corneille seine
Mitarbeit zwar ein, erhielt jedoch die ihm gewährte Jahresgage (pension) von
1500 Francs (etwa dem, was eine bescheidene Person samt einem Domestiken
brauchte) bis zu Richelieus Tod 1642.
Ebenfalls ab 1635 befasste er sich
offenbar mit spanischer Literatur. Ein Grund war sicher, dass sein Kollege
Rotrou kurz zuvor begonnen hatte, spanische Stücke für das französische Theater
umzuschreiben. Ein anderes Motiv war vielleicht, dass Spanien auch politisch
aktuell war, denn Frankreich hatte sich soeben in den Dreißigjährigen Krieg
eingeschaltet und war, zunächst wenig glücklich, mit spanischen Truppen
konfrontiert, die von den Spanischen Niederlanden, dem jetzigen Belgien, her
eindrangen.
Im Winter
35/36 brachte Corneille L’Illusion comique heraus, ein
sehr erfolgreiches Stück, in dem er das beliebte barocke Motiv des Theaters im
Theater verarbeitet und zugleich, ganz im Sinne seines Dienstherrn Richelieu,
für eine Aufwertung des Schauspielerberufes wirbt. Innerhalb einer eher
märchenhaften Rahmenhandlung spielen in L’Illusion weitere,
erst am Ende als bloßes Theater erkennbare Handlungen (worin u.a. der
prahlerische, aber feige spanische Haudegen Matamoro die von ihm umworbene Frau
an einen Clindor verliert, der sich en passant als Franzose erweist). L’Illusion ist das
letzte Stück, in dem Corneille die Lehre von den „drei Einheiten“ (des Ortes, der Zeit und der Handlung) ignoriert, die in Pariser Literatenkreisen
gerade lebhaft diskutiert wurde und sich durchzusetzen begann.
Nachdem im Sommer 1636 die Spanier die
Grenz- und Festungsstadt Corbie erobert, aber nach langem Ringen wieder
verloren hatten, stellte Corneille im Spätherbst eine Tragikomödie fertig, die
Bezüge auf diesen Kampf zu enthalten scheint: Le Cid. Die Aufführung
dieses Stücks gegen Ende des Jahres war sein eigentlicher Durchbruch und gilt
zugleich als der Beginn der hohen Zeit des Theaters der Klassik. Die Handlung
spielt im 11. Jh. in Spanien und beruht auf der des Stücks Las Mocedades del Cid
(=die jugendlichen Heldentaten des Cid [d.h. des mittelalterlichen spanischen
Nationalhelden]) von Guillén de Castro (1618). Sie zeigt die Konflikte des
verlobten adeligen Paares Rodrigue und Chimène: Rodrigue muss, den Geboten der
Familienehre gehorchend, den Vater seiner Verlobten zum Duell fordern, weil der
seinen eigenen schon ältlichen Vater beleidigt hat; Chimène dagegen muss,
nachdem Rodrigue ihren Vater in dem Duell tödlich verletzt hat, beim König die
Todesstrafe gegen ihn fordern. Rodrigue wird jedoch nach einigem Hin und Her
vom König begnadigt und aufs Neue mit Chimène verlobt, weil er sich inzwischen
um das Vaterland verdient gemacht hat, indem er als Feldherr das Heer der
Mauren vor Sevilla geschlagen hat. Die im Sinne der Staatsräson getroffene
Entscheidung des Königs wird allerdings auch als menschlich richtig bestätigt,
dadurch dass Chimène sich zu ihrer Liebe bekennt, als sie einen Augenblick lang
irrtümlich annimmt, ein von ihr akzeptierter Fürkämpfer, der Rodrigue
seinerseits zum Duell gefordert hatte, habe ihn besiegt und getötet.
Le Cid
war (ähnlich wie Molières Tartuffe, Beaumarchais’ Figaro
oder Hugos Hernani) eines der großen Ereignisse der franz.
Theatergeschichte. Der Erfolg war so spektakulär, dass König Louis XIII den
Vater Corneilles in den Adelstand erhob, womit der Autor als schon adelig
geboren galt. Mehrere Nachahmer beeilten sich, die Handlung mit eigenen Stücken
fortzusetzen (z.B. Le Mariage du Cid oder La Mort du Cid); doch
traten rasch auch Neider und Mäkler auf den Plan, darunter die
Dramatiker-Rivalen Georges Scudéry (s.u.) und Jean Mairet (s.o.), die Corneille
vordergründig mit den Argumenten attackierten, er habe die Regeln der bienséance (Anstand, Sittsamkeit)
verletzt, seine spanische Vorlage schamlos plagiiert und zudem die drei
Einheiten nicht korrekt beachtet, die inzwischen als obligatorisch galten. Als
Corneille Anfang 1637 hierauf selbstbewusst mit einer kleinen Schrift, der
ironischen Excuse à Ariste, reagierte, löste er eine heftige Kontroverse
aus, die „querelle du Cid“, in die
sich weitere Literaten pro und contra mit Pamphleten einmischten (von denen ca.
35 erhalten sind). Der monatelange Streit endete mit dem Eingreifen Richelieus,
den zwar die positive Darstellung des wiederholt von ihm verbotenen Duells
unter Adeligen verärgert hatte, dem jedoch das Lob der Staatsräson gefallen
musste. Er beauftragte die junge Académie Française (s.u.), ein offizielles
Urteil abzugeben, das, überwiegend von Jean Chapelain (s.o.) verfasst, zwar
negativ, aber versöhnlich ausfiel.
Während das Publikum weiter den Cid
beklatschte, der auch auf die Dauer das meistgespielte Stück Corneilles blieb,
zog dieser sich verunsichert nach Rouen zurück (wo er 1638 vergeblich eine
Doppelbesetzung seiner Ämter und damit eine Halbierung von deren Einkünften und
ihres Wiederverkaufswerts zu verhindern versuchte).
Erst 1640, inmitten aufstandsähnlicher
Wirren in Rouen, die von kriegsbedingten Steuererhöhungen ausgelöst worden
waren und schließlich von Truppen blutig niedergeschlagen wurden, schrieb er
ein nächstes Stück: Horace. Die im
frühen Rom spielende Tragödie zeigt, dass zwar zwischenmenschliche,
insbesondere familiäre Bindungen einen hohen Wert darstellen, dass jedoch der
Nutzen und der Ruhm des Vaterlandes Vorrang haben und somit der König einen
Gesetzesbrecher, hier den Mörder im Affekt seiner Schwester, amnestieren darf,
wenn der sich um den Staat verdient gemacht hat und auch weiterhin verdient
machen wird. Corneille beachtete diesmal (wie auch in Zukunft) die drei
Einheiten peinlich genau und widmete die Druckfassung des Werkes Richelieu, der
es nach einer Privataufführung für gut befunden hatte.
Anfang 1641 schloss er Cinna, ou la clémence d’Auguste ab. Gegenstand ist die Verschwörung
republikanischer römischer Patrizier gegen Kaiser Augustus und dessen
exemplarisch großmütige, aber auch politisch kluge Vergebung, als er das
Komplott entdeckt. In diesem spiegeln sich sichtlich die zeitgenössischen
Intrigen hochstehender Adeliger, insbes. der Duchesse de Chevreuse, gegen
Richelieu und dessen Politik des antifeudalistischen Absolutismus.
Horace und Cinna
waren zwar sehr erfolgreich gewesen (das letztere Stück wurde nach dem Cid
das meistgespielte des Autors), doch stockte danach dessen Produktion. 1641
heiratete er mit 35, d.h. für damalige Verhältnisse sehr spät, die elf Jahre
jüngere Richterstochter Marie de Lampérière, mit der er vier Söhne und zwei
Töchter haben sollte. 1642 übernahm er beim Tod seines Vaters dessen Haus und
die Vormundschaft für zwei noch unmündige Geschwister, darunter den 19
Jahre jüngeren Bruder Thomas (1625-1709), den späteren
Dramatiker.
Erst Anfang 1643 brachte er ein neues
Stück heraus, Polyeucte martyr, eine
um 250 in Armenien spielende „christliche Tragödie“. Sie wurde ein Erfolg beim
Publikum, vor allem dank einer eingebauten Liebesgeschichte, der Klerus
allerdings kritisierte die Profanierung eines religiösen Stoffs auf der Bühne.
Ebenfalls 1643 schaffte es Corneille
mit einem Lobgedicht, sich die Gunst des Nachfolgers von Richelieu,
Kardinal-Ministers Mazarin, zu sichern und von ihm eine Pension von immerhin
1000 Francs gewährt zu bekommen.
Nach dem Polyeucte verfasste
Corneille eine ganze Serie von Stücken, in denen er den mit dem Cid eingeschlagenen
Weg weiterverfolgte und sich ein bestimmtes Image erwarb. Denn die Handlungen
beruhen sämtlich auf historischen, meist antiken, überwiegend römischen
Stoffen, weisen aber in der Regel einen verdeckten Bezug zur aktuellen
politischen Realität auf und kreisen um hochgestellte Personen, die den
Konflikt zwischen Neigung oder Leidenschaft und Pflicht zugunsten der Letzteren
lösen, insbes. im Sinne der Staatsräson, aber auch allgemein der Ethik von René
Descartes (s.o.). Die wichtigsten Titel bis 1648 sind La Mort de Pompée (1643), Rodogune,
princesse des Parthes (1644)
und Héraclius (1647). Die einzigen Komödien in der Serie sind Le Menteur
(=der Lügner, 1643) und La Suite [Fortsetzung] du Menteur (1644). Der
sehr erfolgreiche Menteur gilt als die erste Charakter-Komödie vor
Molière und wichtiges Vorbild für diesen. Die Tragödie Andromède, die
Corneille 1647 auf Bestellung Mazarins verfasste, die jedoch wegen widriger
Umstände erst 1650 zur Aufführung kam, war sein erstes Stück mit
Gesangseinlagen und dem Einsatz von Maschinen.
1647 wurde Corneille in die Académie Française
aufgenommen. Schon 1644 hatte er einen ersten Sammelband seiner Stücke
veröffentlicht; 1648 brachte er einen zweiten heraus. Er schien nun bestens
etabliert.
Hiernach jedoch wurde auch er erfasst
von den Wirren der Aufstände der sog. Fronde (1648-52) gegen Königinmutter Anne
d’Autriche, die für den noch unmündigen Louis XIV die Regentschaft ausübte, und
vor allem gegen ihren Minister Mazarin, der die absolutistische Politik
Richelieus fortsetzte. So geriet 1649 das vom Publikum zunächst gut
aufgenommene Stück Dom Sanche d’Aragon letztlich zum Misserfolg, weil
der Fürst Condé, der ranghöchste der Frondeure, die gerade Paris beherrschten,
eine Huldigung an Mazarin darin sah und den Daumen senkte.
Im Gegenzug wurde Corneille Anfang 1650
von Mazarin nach dessen vorläufigem Sieg belohnt, indem er am Parlement von
Rouen das hochrangige Amt des Anwaltes der (allerdings kaum mehr tagenden)
Ständeversammlung der Normandie erhielt, das durch Absetzung des Inhabers,
eines Frondeurs, frei geworden war. Dies erlaubte ihm, seine beiden bisherigen
kleineren Ämter verkaufen.
Dennoch scheint er sich innerlich bald
von Mazarin gelöst zu haben, denn sichtlich huldigte er noch 1650 mit Nicomède dem Fürsten Condé, der gefangen
genommen worden und zu einer Art antiabsolutistischen Lichtgestalt mutiert war.
Er musste jedoch erleben, dass Condé
nach seiner Freilassung 1651 endgültig unterlag und dass daraufhin Pertharite, roi des Lombards, ein Stück um einen von einem vom Thron
verdrängten König, in Paris durchfiel, weil das Thema obsolet geworden
war nach der siegreichen Rückkehr des jungen Louis XIV und seiner Mutter Anne
in die Hauptstadt.
Corneille, der überdies sein neues Amt
an seinen inzwischen amnestierten und wieder eingesetzten Vorgänger hatte
zurückgeben müssen, zog sich enttäuscht ins Private zurück. In dieser Zeit der
Frustration arbeitete er zunächst vor
allem an einer Versübertragung der Imitatio Christi des Thomas a
Kempis. Sie erschien von 1652-54 in drei Bänden unter dem Titel L’Imitation
de Jesu-Christ, brachte ihm sehr viel Anerkennung und wurde mehrfach neu
aufgelegt. Auch dieser Aspekt, dass Corneille sich des öfteren als religiöser
Autor betätigte, findet in den Literaturgeschichten kaum Beachtung.
Erst 1658 beendete er seine innere
Emigration. Ein Faktor war zweifellos, dass im Sommerhalbjahr die Wandertruppe
von Molière längere Zeit in Rouen gastierte und dort einige Stücke auch
Corneilles spielte. Hierdurch kam dieser mit der Truppe in Kontakt und
verliebte sich in die junge Schauspielerin Marquise du Parc. Als die Truppe im
Herbst nach Paris weiterzog, zog es ihn wieder häufiger dorthin. Ein weiterer
Grund war allerdings, dass sein Bruder Thomas 1656 mit dem Erfolgsstück Timocrate
dort eine eigene Karriere gestartet hatte und dass ihn auch der neue
Groß-Mäzen, Finanzminister Nicolas Fouquet, lockte, der ihm eine Pension von
2000 Francs aussetzte. In Paris bewegte er sich nun, von dem gesellschaftlich
geschickteren Thomas lanciert und flankiert, in dem Kreis um Fouquet sowie in
anderen Salons. Schon bald beschränkte er sich nicht mehr auf eine Rolle als
anerkannter Literat und galanter Gelegenheitslyriker, sondern er versuchte sich
auch wieder als Dramatiker, indem er auf einen Vorschlag Fouquets die Tragödie Œdipe verfasste. Die Aufführung Anfang
1659 durch die Truppe Molières und mit der Du Parc als Jocaste wurde zwar ein
mondänes Ereignis, doch schien es manchen Kennern, als habe Corneille
nachgelassen.
Das nächste Stück folgte 1660: die
Tragödie La Toison d’or (=das Goldene Vlies), die im Auftrag eines
reichen normannischen Adeligen entstand und mit aufwendigen Maschinen im Sommer
auf dessen Schloss und im Winter in Paris im Marais aufgeführt wurde.
Im selben Jahr brachte Corneille eine
neue Geamtausgabe seiner Stücke heraus, nun in schon drei Bänden, wobei er
jeden Band mit einem Discours [=Abhandlung] sur la poésie dramatique
eröffnete. Auch ließ er die beflissen-pompösen Widmungsadressen an
hochgestellte Persönlichkeiten fort, die er den früheren Einzelausgaben der
Stücke vorangestellt hatte und die ihm jetzt wohl unter seiner Würde schienen.
In der Tat war er als „le grand
Corneille“ zu einer Art Platzhirsch des Pariser Theaterlebens avanciert.
Den
Sturz Fouquets, der 1661 verhaftet und wegen Bereicherung im Amt verurteilt
wurde, überstand er unbeschadet. Er fand rasch einen neuen Gönner in Duc Henri
de Guise, von dem er selbst und Thomas (der eine Schwester seiner Frau
geheiratet hatte) samt ihren Familien im herzoglichen Stadtpalast aufgenommen
wurden. Nach dem Umzug von Rouen nach Paris lebten die Brüder Corneille
übrigens für immer hier, meistens, wie schon in der Heimatstadt, im selben
Haus.
Als
1663 der neue Minister Colbert eine Liste von Autoren zusammenstellte, die von
ihm und seinem jungen König als einer Pension würdig erachtetet wurden und von
denen man im Gegenzug staatstragende und panegyrische Texte erwartete, kam auch
Corneille darauf mit erfreulichen 2000 Francs. Er entsprach den in ihn
gesetzten Erwartungen sogleich mit einem Remerciement présenté au Roi en
1663 und tat es auch in der Folgezeit recht häufig. Hierbei ergaben sich
zusätzliche konkrete Motive daraus, dass er den König schon 1664 mit einem
Sonett um die Neuausstellung seines Adelsbriefes bitten musste, der zusammen
mit Hunderten anderer durch einen Erlass Colberts kassiert worden war, und dass
er ihn später bei der Etablierung seiner älteren Söhne (zweier Offiziere und
eines Geistlichen) um Unterstützung anging.
Mit dem passabel erfolgreichen Œdipe
und dem vielbestaunten La Toison d’or hatte Corneille seine Arbeit als
Dramatiker voll wieder aufgenommen. Wie vorher schrieb er vor allem Tragödien
mit Stoffen aus der älteren, meist römischen Geschichte (Sertorius,
1661/62; Spohonisbe, 1662; Othon, 1664; Agésilas, 1665/66;
Attila, 1666/67). Hierbei bevorzugte er nun, seinen inzwischen sehr erfolgreichen
Bruder Thomas imitierend, eher romaneske Handlungen. Denn sichtlich hatte sich
der Publikumsgeschmack stark verändert aufgrund der innenpolitischen
Windstille, die nach dem Sieg des Absolutismus unter Mazarin herrschte, aber
auch dank der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung, die sich nach dem
Friedensschluss mit Spanien (1659) und dem Beginn der Alleinherrschaft des
jungen Louis XIV (1661) verbreitete. Die neuen Stücke von Corneille wurden
sämtlich aufgeführt (z.T. von der Truppe Molières) und sie hatten stets auch
passablen Erfolg, doch trafen sie nicht mehr recht den Nerv der Zeit. Sichtlich
gelang es Corneille nicht, jenen Bezug zur aktuellen Realität herzustellen, der
die Stücke ausgezeichnet hatte, die in den bewegten Zeiten vor und während der
Fronde entstanden waren.
1667 betätigte er sich erneut als Panegyriker, indem er den
im August siegreich aus dem Devolutionskrieg heimkehrenden Louis XIV mit dem
Lobgedicht Au Roi sur son retour de Flandre begrüßte und ihm etwas
später mit dem epischen Gedicht Les victoires du Roi en1667 huldigte.
Als im November 1667 Racine mit seinem erfolgreichen dritten
Stück, der Tragödie Andromaque, eine neue Ära einzuleiten schien,
war Corneille so geschockt, dass er an völligen Rückzug vom Theater dachte. In dieser
Situation schrieb er 1669 wiederum ein langes frommes Werk, das Office de la
Vierge traduit en français, tant en vers
qu’en prose, par P. Corneille, avec les sept psaumes pénitentiaux, les vêpres
et complies du dimanche et tous les hymnes du breviaire romain. Es erschien Anfang 70, mit einer Widmung an Königin
Marie-Thérèse. Anders als die Imitation von 1652-54 fand das Office
jedoch kaum Beachtung und erlebte auch keine Neuauflage.
Ende 1670 versuchte Corneille, gedrängt
von alten Freunden und Bewunderern, ein neuerliches Come back als Dramatiker
mit der „comédie héroïque“ Tite et Bérénice. Allerdings brachte der
inzwischen selbstbewusste Racine zur selben Zeit das themengleiche Stück Bérénice
heraus, das vom Publikum als das deutlich bessere bewertet wurde.
Corneille
schrieb dennoch drei weitere Stücke, die aber, ohne völlig erfolglos zu sein,
keinen größeren Anklang mehr fanden: Psyché (1670/71), Pulchérie
(1671/72) und Suréna, général des Parthes (1674). Eine Sonderstellung
nimmt hierbei die „Ballett-Tragödie“ Psyché ein, deren Plan und erster
Akt von Molière stammten, während die letzten drei Viertel von Corneille
verfasst wurden. Als bestes Werk seiner gesamten Spätzeit gilt heute das
letzte, die Tragödie Suréna
Seinen
hohen Status in der Literatenszene und in der Pariser Gesellschaft konnte
Corneille bis zum Ende seines Lebens halten, u.a. dank dem Geschick und dem
Einfluss seines sehr loyalen Bruders Thomas sowie dank der Treue einiger
befreundeter Kollegen, z.B. Jean Donneau de Visé, der in seiner 1672
gegründeten Zeitschrift Le Mercure galant zuverlässig hinter ihm stand.
Auch erhielt er oft demonstratives Lob von Feinden und Neidern Racines, die
diesen so zu kränken gedachten.
In
Pariser Adelskreisen und am Hof behielt er ebenfalls seine Bewunderer, und
gewogen blieb ihm König Louis, dem er 1672 das lange Lobgedicht Les
victoires du Roi sur les États de Hollande en l'année 1672 widmete. 1675
und 76 hatte er die Genugtuung, dass Louis am Hof vier bzw. sechs ältere Stücke
von ihm aufführen ließ.
Die
gelegentlich zu findende Angabe, Corneille sei im Alter verarmt, ist nicht
richtig.
Nach
seinem Tod wurde sein Platz in der Académie Française (deren Sitzungen er stets
gewissenhaft besucht hatte) an seinen Bruder Thomas vergeben. Hierbei hielt
Ex-Rivale Racine die Begrüßungsrede, die zugleich eine Laudatio auf den
Verstorbenen war.
Was die Wirkung und Nachwirkung
Corneilles betrifft, so hat er nicht nur alle Dramatiker neben und nach ihm
beeinflusst, darunter Racine und später Voltaire (s.u.), sondern er gilt bis
heute mit seinen rd. 35 Stücken als einer der großen franz. Klassiker und als
bedeutendster Tragöde neben Racine (der trotz seines deutlich schmaleren Œuvres gern als der etwas Größere
erachtet wird). Aufgrund seines Erfolges in Frankreich
selbst wurde er schon zu seinen Lebzeiten in Übertragungen auch von deutschen
Theatertruppen gespielt. Bruder
Thomas, der zeitweise sogar erfolgreicher war als er, ist dagegen seit langem
in der literarhistorischen Versenkung verschwunden.
(Stand: Juli 12)
Jean Rotrou (*
21.8.1609 in Dreux; † 28.6.1650 ebd.)
Obwohl zu
Lebzeiten sehr erfolgreich und auch von großem Einfluss auf die Dramatiker
neben und kurz nach ihm, verschwand Rotrou nach seinem frühen Tod rasch im
Schatten des großen Dreigestirns der „Klassiker“ Corneille, Molière und Racine.
Erst in jüngerer Zeit hat die Literaturgeschichte ihm seinen Platz als eines
der fruchtbarsten und sicher auch fähigsten Dramatiker des 17. Jh.
zurückzugeben versucht.
Über das Leben
Rotrous ist nur wenig bekannt. Er stammte aus einer Richterfamilie in Dreux
(ca. 90 km westlich von Paris) und muss auch selber, überwiegend wohl in Paris,
Jura studiert haben. In seiner Eigenschaft als Jurist erhielt er die Zulassung
als Anwalt am Pariser Hohen Gericht, dem Parlement, und kaufte er später (1639)
ein Richteramt in seiner Heimatstadt, das er bis zu seinem Tod auch ausübte.
Allerdings trat
er früh (1626?) in Kontakt mit der Truppe der „Comédiens du Roi“, die im Hôtel
de Bourgogne spielte, und begann Stücke zu schreiben. Zugleich suchte er und
fand Anschluss im Pariser Literatenmilieu. Sein erstes bekanntes Stück
verfasste er mit 18: die Tragikomödie L’Hypocondriaque Ou la Mort amoureuse (=der
Hypochonder oder der verliebte Tod, Auff. 1628). In den Folgejahren lieferte er
seiner Truppe zahlreiche weitere Stücke, die überwiegend wohl nur Bearbeitungen
vorhandener in- und ausländischer Stücke waren und auch nie im Druck
erschienen. (Dies geschah allerdings auch deshalb nicht, weil damals die Truppen
die von ihnen uraufgeführten Stücke als ihr Eigentum betrachteten, wogegen ein
gedrucktes Stück Allgemeingut wurde und damit auch von anderen Truppen gespielt
werden durfte.)
Immerhin schien
der Hypocondriaque seinem jungen Autor offenbar zu wichtig, um ungedruckt
zu bleiben. Er schaffte es ihn 1631 mit einer Widmung an den Grafen von xxx zu
publizieren, wobei er unter dem Titel Œuvres poétiques
eine Sammlung eigener Gedichte aus verschiedenen Gattungen anhängte. Unsicher
ist, ob er hiermit Pierre Corneille (s.o.) imitierte, der im selben Jahr 1631
an sein erstes gedrucktes Stück, Clitandre, ebenfalls eine
Gedichtsammlung anhängte, oder aber ob er umgekehrt ihm zum Vorbild wurde.
Rotrous nächstes
gedrucktes Stück, La Bague
de l’oubli (1635), war gewissermaßen epochemachend.
Es ist eine Bearbeitung des gleichnamigen Stücks von Lope de Vega, La sortija del olvido,
und leitet die Hinwendung Rotrous, Corneilles und anderer franz. Autoren zur
spanischen Literatur ein, deren „Goldenes Zeitalter“ gerade am Ausklingen war.
Une édition critique de L’Hypo. a été donnée par
J.-Cl. Vuillemin (Droz, 1999).
Comme lui, Corneille incline dans
la même direction. Le travail brillant montre les marques d’une adhérence au
modèle espagnol. En 1634, a la publication de Cléagénor et Doristée
(jouée en 1630), il affirme déjà être l’auteur de trente pièces,
mais ceci comprend probablement des adaptations. Diane (jouée en
1630 ; publiée en 1633), Les Occasions perdues (jouée en
1631 ; publiées en 1635), qui lui font obtenir les faveurs de Richelieu
et L’Heureuse constance (jouée en 1631 ; publiée en 1635), louée
par Anne d'Autriche, sont produites en succession rapide et étaient
toutes dans la manière espagnole. En 1631, il imite Plaute dans Les Ménechmes et, en 1634, Sénèque
dans son Hercule mourant. Suivent des comédies et des tragi-comédies.
Des documents établissent la vente, en 1636, de quatre pièces à l’éditeur parisien Antoine de
Sommaville pour 750 livres tournois et, l’année
suivante, la vente de dix nouvelles pièces au même libraire.
Il passe alors beaucoup de temps
au Mans chez le sieur de Belin, son protecteur, qui était
l’un des adversaires de Pierre Corneille dans la querelle du Cid. On a généralement supposé, en partie en
raison d’une lettre fabriquée, longtemps admise comme étant de Corneille, que Rotrou avait généreusement défendu son
prétendu ami dans cette affaire. Il est plus vraisemblable que Rotrou ait
adopté une neutralité de bon aloi dans un différend où il avait des intérêts
dans les deux camps. Toutefois, à cause d'une lettre intitulée L’Inconnu et
véritable amy de Monsieur de Scudéry et Corneille (1637), qui lui fut un
temps accordée, Rotrou a pourtant été crédité d’une tentative de réconciliation
entre les parties.
À la mort du comte de Belin en 1637,
Rotrou achète en 1639 la charge de lieutenant particulier au bailliage
de Dreux. L’année suivante, il épouse Marguerite Camus et
s'installe dans une vie de magistrat et de père de famille. Parmi les pièces
écrites avant son mariage, on compte une traduction de l’Amphitryon de
Plaute, sous le titre Les Deux Sosies (1636), d’Antigone (1638) et de Laure persécutée (jouée en 1637 ; publiée en 1639),
dans un style opposé à celui de ses pièces classiques.
En 1646, Rotrou produit le premier de ses quatre chefs-d’œuvre, Le
Véritable Saint Genest (jouée en 1646 ; publiée en 1648) d’après Lo Fingido verdadero de Lope de
Vega, Dom Bernard de
Cabrère (1647) est une tragi-comédie de mérite ; Venceslas
d’après No ay ser padre siendo rey de Rojas Zorrilla
(1647 ; publiée en 1648) est considérée comme son chef-d'œuvre et a eu
plusieurs reprises à l'époque moderne ; Cosroès (1649) a un arrangement oriental et est considéré comme la seule pièce
absolument originale de Rotrou.
Resté à son poste à Dreux lors de
l’épidémie de peste de 1650, Rotrou la contracte et en meurt en quelques
heures. Sa grande fécondité littéraire (il a laissé trente-cinq pièces
rassemblées sans compter celles perdues, égarées ou non réunies) et sans doute
l’incertitude du plan dramatique que démontre son éternelle hésitation entre
les styles classique et baroque ont cependant nui à la réception équitable de
son œuvre. Les situations qu'il peint, souvent pathétiques et nobles, comme la
brillance, la force et la simplicité de ses vers l'ont hissé, à juste titre,
presque à l’égal de Corneille et de Racine. Ainsi que l'affirme J.-Cl. Vuillemin, Rotrou
peut être considéré comme "le plus éminent des moins éminents dramaturges
du Grand Siècle". Longtemps demeuré occulte, Rotrou ne l'est plus!
Une rue qui flanque le théâtre de
l'Odéon, à Paris, porte son nom. Dans son ouvrage "Baroquisme et théâtralité",
J.-Cl. Vuillemin a créé "rotrouesque" en tant qu'adjectif dérivé.
Alors que Rotrou, qui a été nommé par Voltaire "le fondateur du théâtre", est un des auteurs dramatiques les plus importants de son époque (avec Corneille), la tradition de l'histoire littéraire en France a malheureusement laissé ses oeuvres de côté et a participé à sa méconnaissance par le grand public en voulant ramener le Grand Siècle français aux classiques comme Corneille, Molière et Racine.1
Paul Scarron (* 4. (?) 7.1610 in Paris; † 7.10.1660 ebd.)
Er war zu seiner Zeit recht erfolgreich und wird heute gern
als Realist avant la lettre betrachtet.
Er stammte aus einer Juristen-Familie der bonne bourgeoisie parlementaire parisienne,
erhielt eine gute Bildung und ließ sich 1634 die Niederen Weihen erteilen. Dies
erlaubte ihm, 1636 eine einträglichen Domherrenpfründe in Le Mans zu besetzen,
nachdem eine Rom-Reise 1635 seine Bildung vervollständigt hatte.
Als 1638 eine fortschreitende
Muskellähmung sein Leben zu erschweren begann, verkaufte Scarron 1640 seine
Pfründe und kehrte nach Paris zurück, wo er Anschluss an die Literatenkreise
fand.
Er debütierte mit humoristischen Texten: 1643 publizierte er
den Sammelband Recueil de quelques vers burlesques,
der viel nachgeahmt wurde. Von 1648 bis 1652 arbeitete er an Le
Virgile travesti [=der verkleidete Vergil], einer Parodie von Vergils Epos Æneis, das im Lateinunterricht der Zeit obligatorisch war.
Fast von Anbeginn an war er auch als Komödienautor aktiv und
blieb es u.a. mit Jodelet ou le Maître valet [=J. oder der Herr als
Diener] (1645), Don Japhet d'Arménie (1653), L'Écolier de
Salamanque [=der Student aus Salamanca] (1654), Le Marquis ridicule ou
la comtesse faite à la hâte'' (=der lächerliche Marquis oder die eilig
kreierte Comtesse (1655), La fausse apparence (=der trügerische
Schein) (1657), Le Prince corsaire [=der Piratenfürst] (1658). Mit
seinen Komödien schwamm Scarron auf der Welle der zeitgenössischen Degen und
Mantel-Stücke im spanischen Stil.
Sein größter und dauerhaftester Erfolg wurde Le Roman comique (2 Bde, 1651 und 1657,
unvollendet). Es ist ein immer noch gut lesbarer burlesker Roman, dessen
Rahmen- und Haupthandlung mit derber Komik den heroisch-galanten Roman à la
Scudéry (s.o.) und La Calprenède (s.u.) parodiert und persifliert und dessen
eingelegte Novellen und Binnenerzählungen im galant-sentimentalen Ton
spanischer Vorbilder gehalten sind.
1652 mehrte eine ganz andere Aktion den
Bekanntheitsgrad Scarrons: Er ließ sich in den weltlichen Stand zurückversetzen
und heiratete, obwohl inzwischen weitgehend gelähmt und nicht eben reich, eine
16jährige mittellose adelige Waise, die ihm durch kluge und wohlgesetzte Briefe
aufgefallen war: Françoise d'Aubignée, eine Enkelin von Agrippa d’Aubigné
(s.o.), die später als Mme de Maintenon Gattin „linker Hand“ von Louis XIV
wurde. Dank dem Witz und Galgenhumor Scarrons, aber auch dank dem Charme und
Esprit seiner jungen Frau wurde ihr Haus zum Treffpunkt von Literaten und
geistig interessierten Aristokraten, was ihnen wiederum half, die Zuwendungen
diverser Mäzene zu erlangen, in den 1640er Jahren insbes. des Kardinals de Retz
(s.u.) und in den 1650ern des Finanzministers Fouquet.
Vielleicht zu Unrecht war Scarron 1651, während des
bewaffneten Aufstands anti-absolutistischer Kräfte, der „Fronde“, verdächtigt
worden, eine gegen den Minister Kardinal Mazarin gerichtete Polit-Satire
geschrieben zu haben, La Mazarinade.
Dies brachte ihn 1653, nach dem Sieg Mazarins, kurz in Schwierigkeiten und
veranlasste ihn, für mehrere Monate aus Paris zu verschwinden.
Das
Schaffen Scarrons fällt zeitlich zusammen mit dem Höhepunkt des Einflusses der
spanischen Literatur des „goldenen Zeitalters“ um 1600, des „Siglo de oro“, auf
die französischen Autoren. Dieser Einfluss war zweifellos mitbedingt durch das
Interesse, das Spanien als Kriegsgegner Frankreichs während des Dreißigjährigen
Krieges und danach noch bis zum Pyrenäenfrieden von 1659 genoss.
(Stand: Juli 12)
La Calprenède (Gautier de
Costes, sieur de la Calprenède, * um 1610 in Sarlat/Dép. Dordogne; † 15.10.1663 in Les Andelys)
La Calprenède
(wie er in der
Literaturgeschichte heißt) war um die Mitte des 17. Jh. ein in ganz West- und
Mittel-Europa vielgelesener Romanautor.
Er stammte aus einer Familie des
mittleren Amtsadels und ging nach Abschluss seiner Schul- und Studienzeit in
Cahors und Toulouse 1632 nach Paris, wo er eine Offizierskarriere in der
königlichen Garde begann. Dank seinem Talent als fantasievoller Erzähler gelang
es ihm, der Königin aufzufallen, und er erhielt das mehr Ehre als Dienst
bedeutende Amt eines gentilhomme du roi.
Früh begann er zu schreiben, und zwar,
neben ersten Romanen, Tragödien und Tragikomödien um Figuren aus der antiken
und der englischen Geschichte. Neun seiner Stücke gelangten zwischen 1632 und
1641 auch zur Aufführung, blieben jedoch ohne größere Resonanz.
Um 1640 schwenkte er um auf vielbändige
historische Romane im Stil des zeitgenössischen "heroisch-galanten"
Romans und wurde mit ihnen erfolgreich.
Die einzelnen
Titel sind: Cassandre (10 Bde.,
1642-45), Cléopâtre (12 Bde.,
1647-56) und Faramond ou l'Histoire de
France (12 Bde, 1661-1670). Der Letztere wurde von einem Fortsetzer beendet, nachdem La
Calprenède an den Folgen eines Reitunfalls gestorben war.
Wie im heroisch-galanten Roman üblich,
sind die zentralen Figuren hochstehende, teils aus der Geschichte bekannte,
teils fiktive Personen. Die Hauptthemen sind Liebe, Leidenschaft und heroische
Taten. Die Haupthandlung versucht die drei Einheiten einzuhalten, wird aber
ständig durch zeitlich zurückliegende Nebenhandlungen und durch Reden der
Figuren verlangsamt.
(Stand: Jan. 09)
François de La Rochefoucauld (* 15.9.1613 in
Paris; † 17.3.1680 ebd.)
Er entstammte einer alten adeligen
Familie, die 1622 vom Grafen- in den Herzogsstand erhoben worden war. Ehe er
nach dem Tod seines Vaters 1650 den Herzogstitel erbte, trug er den eines
"prince [=Fürst] de Marcillac". Bereits mit knapp 15 wurde er
standesgemäß verheiratet. Zwar hatte er nie ein engeres Verhältnis zu seiner
Frau, bekam aber mehrere Kinder mit ihr.
Als der Adelige, der er war, nahm La
Rochefoucauld in den 1630er Jahren als Offizier an Feldzügen in Italien und
Flandern teil, ohne sich jedoch durch mehr als die vom ihm erwartbare Bravour
auszuzeichnen.
Ebenfalls in den 30er Jahren beteiligte
er sich unter dem Einfluss der Duchesse de Chevreuse an den erfolglosen
Intrigen der Königin Anne d'Autriche und des Hochadels gegen Kardinal
Richelieu, was ihm 1637 eine Woche Haft in der Bastille und die Verbannung aus
Paris eintrug. Nach dem Tod Richelieus (1642) und von Louis XIII (1643) erhoffte
er sich einen einflussreichen Posten von Anne d'Autriche, die für den kleinen
Louis XIV die Regentschaft ausübte. Er musste jedoch erleben, wie Anne Kardinal
Mazarin begünstigte, der bald die absolutistische Politik Richelieus
fortsetzte.
1648 beteiligte sich La Rochfoucauld
unter dem Einfluss der aus einer Seitenlinie des Königshauses stammenden
Duchesse de Longueville (mit der er 1649 einen außerehelichen Sohn bekam) an
der "Fronde", einem bewaffneten Aufstand der Hohen Richter der
Parlements, des Volkes von Paris und des Hochadels gegen Mazarin und die Krone.
Hier spielte er mehrfach eine Rolle bei Verhandlungen der Parteien, erlitt in
den Bürgerkriegswirren aber auch große Vermögensverluste. 1652 wurde er, auf
der Seite des Prince de Condé gegen Mazarin kämpfend, im Gesicht verwundet und
zog sich auf eines seiner Landgüter zurück. Da er zu stolz war, nach dem Sieg
Mazarins um seine Begnadigung zu bitten, wurde er für rechtlos erklärt und floh
ins österreichische Luxemburg.
1653 machte er dann doch seinen Frieden
mit Mazarin und dem jungen Louis XIV, dem er jedoch immer suspekt blieb. Er kam
zurück nach Paris und versuchte, seine prekären Vermögensverhältnisse zu
ordnen. Um seine Enttäuschung nach dem Sieg Mazarins zu verarbeiten, verfasste
er in diesen Jahren die von 1624 bis 1652 reichenden Memoires (die 1662 gegen seinen Willen als Raubdruck in Amsterdam
erschienen und ihm schadeten, da sich darin viele noch lebende Personen
unvorteilhaft dargestellt fanden).
In Paris verkehrte La Rochfoucauld am
Hof und in adeligen Kreisen, mehr aber in Salons, z. B. dem der Marquise de
Sablé, sowie in jansenistisch inspirierten Zirkeln, wo man angesichts der
Frage, warum der eine Mensch offenbar von Gott erwählt ist und der andere
nicht, ein neuartiges Interesse für das Individuum, seine Psychologie und sein
Verhalten entwickelte.
1658 begann er mit der Abfassung
kürzerer aphoristischer Betrachtungen über die Natur des Menschen allgemein und
die Verhaltensweisen der Angehörigen der adeligen Gesellschaft im Besonderen. 1664 gab er unter dem Titel Réflexions ou sentences et maximes morales eine
Sammlung dieser pointierten, meist pessimistischen, oft sarkastischen Texte zum
Druck.
Da sich das Buch trotz der negativen
Weltsicht seines Autors gut verkaufte, ließ er 1666, 1671, 1675 und 1678
Neuauflagen folgen, in denen die Zahl der "Sentenzen und Maximen" von
zunächst rd. 300 auf rd. 500 anwuchs. Die in der Literaturgeschichte meist
unter dem schlichten Titel Maximes
laufende Sammlung wurde so zu seinem Hauptwerk. Ein Sammelband von Texten mit
dem Titel Réflexions diverses kam
postum hinzu.
1671 übermachte er seinen Herzogstitel
seinem ältesten, eher ungeliebten Sohn, der als Kammerherr des Königs
fungierte, d.h. als Edeldomestik, der rund um die Uhr bereit zu stehen hatte
(und so jahrzehntlang praktisch nie aus Versailles heraus kam). La
Rochefoucaulds letzte Jahre wurden von einem starken Gichtleiden sowie dem
Verlust seiner beiden Lieblingssöhne im Krieg (1672) überschattet. Einen
gewissen Trost verschaffte ihm in dieser Zeit seine enge Freundschaft mit der
Romanautorin Madame de La Fayette (s.u.).
Er ist der erste und einer der
bedeutendsten jener über den Menschen und die Gesellschaft reflektierenden
Autoren des 17./18. Jh., die in der franz. Literaturgeschichte unter dem Namen
"les Moralistes" zusammenfasst werden (und für die es in der
deutschen Literaturgeschichte kein Pendant gibt).
(Stand: Jan. 09)
Gilles Ménage (* 15.8.1613 in Angers; † 23.7. Juli
1692 in Paris)
Ménage ist heute als Autor zwar völlig
vergessen, war jedoch eine interessante Figur in der Pariser literarischen
Szene um die Mitte des 17. Jh.
Er stammte aus einer Juristenfamilie
und studierte Jura, um Anwalt zu werden wie sein Vater und sein Großvater (der
sich auch als juristischer Autor betätigt hatte). Er erhielt zwar noch die
Zulassung am Parlement von Paris, doch gab er hiernach, vielleicht aus
gesundheitlichen Gründen, die Juristerei auf. Er ließ sich statt dessen die
Niederen Weihen erteilen und kumulierte kleinere kirchliche Pfründen, die ihm
ein gewisses Einkommen sicherten, aber keine Präsenz vor Ort verlangten. So
konnte er als l’Abbé Ménage, wie er nun hieß, in Paris seinen literarischen und
philologischen Interessen nachgehen und sich in intellektuell interessierten
Kreisen bewegen.
Insbesondere verkehrte er in den 40er
Jahren im „preziösen“ Salon der Marquise de Rambouillet, wo er z.B. eine
gelehrige Schülerin und langjährige spätere Freundin fand in der jugendlichen
Marie-Madeleine Pioche de la Vergne, der späteren Romanautorin Madame de La Fayette
(s.u.). Wohl ab 1643 zählte er zum Umfeld von Paul de Gondi alias de Retz, dem
ehrgeizigen Stellvertreter und designierten Nachfolger des Pariser Erzbischofs
sowie, ab 1651, Kardinal (s.u., Cardinal de Retz).
Nach
der Niederlage des Aufstandes der „Fronde“ 1652 und der Verhaftung von Retz als
Rädelsführer, schloss Ménage sich locker der Partei der Sieger unter Mazarin
an. Etwa ab derselben Zeit verkehrte er im Salon der Romanautorin Madeleine de
Scudéry (s.o), wo er sich mit der jungen Marquise de Sévigné (s.u.)
befreundete. Wenig später trat er auch in Verbindung mit dem Kreis um den neuen
Pariser Groß-Mäzen, den (1661 verhafteten) Finanzminister Nicolas Fouquet.
Inzwischen
lebte er im Domherrenstift von Notre-Dame de Paris. Hier unterhielt er selber
einen Zirkel bürgerlicher Literaten, deren Treffen er nach dem Mittwochstermin
„Mercuriales“ (lat. „dies Mercurii“) nannte.
Als Autor von Versen, die er vor allem
zum Vortrag in den von ihm besuchten Salons verfasste, dichtete Ménage nicht
nur französisch, sondern auch italienisch und lateinisch. Zentrales Thema
seiner Madrigale, Eklogen, Episteln, Epigramme usw. war die galante Verehrung
der Damen. Seine Gedichte erschienen 1656 gesammelt als Poemata latina,
gallica, graeca, et italica. Auf sein Wirken soll die Verbreitung der
„bouts-rimés“ zurückgehen, einer Modegattung in den Salons der Preziosität.
Vor allem aber war Ménage Philologe und
solcher u.a. Mitglied der Gelehrten- und Literatenvereinigung der Florentiner
Accademia della Crusca. Seine Abhandlung Origines de la langue française (1650; später ausgebaut und neu herausgegeben als Dictionnaire
étymologique) und die Origini della lingua italiana (1669) zählen zu
den ältesten Beiträgen der seriösen etymologischen Forschung in Frankreich.
Daneben war er ein streitbarer
Charakter und gefürchteter Polemiker. So wechselte er Ende der 50er Jahre
erbitterte Pamphlete mit dem Literatenkreis um Jean Chapelain (s.o.). Scharf auch ging
er z.B. mit den erfolgreichen Remarques
sur la langue française, utiles à
ceux qui veulent bien parler et écrire von Claude Favre de Vaugelas (1647,
s.o.) ins Gericht, denen er seine Observations sur la langue française (1672)
entgegenstellte.
Molière (s.u.) konnte sichtlich mit
einem gewissen Bekanntheitsgrad seiner Figur rechnen, als er ihn 1672 in der
Rolle des pedantisch-preziösen Gelehrten Vadius in den Femmes savantes auftreten
ließ. Schon vorher hatte ihn Nicolas Boileau (s.u.) satirisch verspottet.
Ein interessantes Dokument für
Literarhistoriker sind die Erinnerungen, Betrachtungen und Bonmots von Ménage,
die 1693 postum gesammelt unter dem Titel Menagiana erschienen.
(Stand: Nov. 08)
Le cardinal de Retz (= Jean-François Paul de Gondi alias de Retz, * 20.9.1613 in Montmirail/Marne; † 24.8.1679 in Paris)
Dieser auch aufgrund seiner turbulenten
Biografie interessante Autor gilt den Franzosen als einer ihrer Klassiker der
Gattung Memoiren.
Retz (wie er i. d. R. schlicht genannt
wird) war Enkel eines italienischstämmigen Lyoneser Bankiers, der dank der
Protektion von Catherine de Médicis (ab 1533 Gattin und später lange Zeit
mächtige Witwe von König Henri II) zu hohen Ämtern und dem Titel eines Herzogs
der kleinen Landschaft Retz in der Bretagne gelangt war und seinem Sohn, Retz’
Vater, zu einer hochadeligen Partie und einem Generalsposten verholfen hatte.
Da Retz nur zweitgeborener Sohn war und ein jüngerer Bruder seines Großvaters
es zum Bischof gebracht hatte, wurde er mit 10 tonsuriert. Als er 13 war, starb
seine Mutter und sein frommer Vater zog sich als Mönch in ein Kloster zurück.
Er selbst kam ins Internat des von Jesuiten geführten Pariser Collège de Clermont, wo er einem
Klassenkameraden, dem späteren Literaten Tallemant de Réaux, als streitsüchtig
und geltungsbedürftig in Erinnerung blieb, aber ein begabter Schüler war, der
z.B. sechs Fremdsprachen lernte (darunter, für einen damaligen Franzosen
ungewöhnlich, auch Deutsch). Nach Beendigung des Kollegs nahm er lustlos sein
Theologiestudium auf, das ihn nicht hinderte, sich zugleich im adeligen Milieu als
Schürzenjäger zu betätigen oder 1638 eine Erzählung um den Genueser Grafen
Fiesco zu verfassen, dessen Rolle als Kopf einer Verschwörung gegen den Dogen
Andrea Doria (1547) ihn offenbar faszinierte.
1638 schloss er das Studium dennoch mit
Glanz ab, wurde zum Priester geweiht und entwickelte sich in den Folgejahren zu
einem erfolgreichen mondänen Prediger. Komplett ausgearbeitete Texte seiner
Predigten sind nicht erhalten, wohl auch deshalb, weil er offenbar weitgehend
improvisierte.
Als der Hochadelige und Ehrgeizige, der
er war, beschäftigte Retz sich aber nicht nur mit seinen kirchlichen Aufgaben
und seinen Liebschaften, sondern vor allem mit der Politik, d.h. den
Machtkämpfen vor und hinter den Kulissen am Hof. So beteiligte er sich 1638 und
1641 an den erfolglosen Intrigen der Königin Anne d’Autriche und des Hochadels
gegen den allmächtigen Kardinal de Richelieu.
Nach dem Tod von Richelieu (1642) und
König Louis XIII (1643) gelang es Retz, zum Stellvertreter und designierten
Nachfolger seines Großonkels ernannt zu werden, der inzwischen zum Erzbischof
von Paris avanciert war. Anfang 1644 wurde er in seinem Stellvertreteramt zum
Titularbischof von Korinth geweiht, einer nur auf dem Papier existierenden
Diözese. Er war nun ein einflussreicher Mann in Paris, als der er auch
Literaten und Künstler protegierte.
Die Beförderung Mazarins zum Kardinal
und Minister durch die Königinmutter und nunmehr Regentin Anne d’Autriche
spornte seinen Ehrgeiz an, eine ähnliche Karriere zu versuchen. So beteiligte
er sich als Akteur, aber auch als gefürchteter Pamphletist am Aufstand
(1648–52) des Pariser Parlements und dann des Hochadels gegen Anne und Mazarin,
der sog. Fronde. Hierbei wechselte er, zunächst glücklich, mehrfach die Seiten
und zog sich 1651 mit Hilfe Annes einen Kardinalshut an Land. 1652 geriet er
jedoch zwischen die Stühle und wurde im November, bald nach der Rückkehr des
jungen Königs Louis XIV nach Paris, als Rädelsführer verhaftet und in die
Festung Vincennes gebracht.
1654 starb sein Onkel, der Erzbischof,
und Retz gedachte die ihm eigentlich zustehende Nachfolge anzutreten. Doch der
inzwischen für volljährig erklärte Louis war nicht gewillt, dies zuzulassen,
sondern versuchte ihn zum Verzicht zu zwingen. Als Retz ablehnte, wurde er nach
Nantes geschafft, in die ferne Provinz.
Dort konnte er auf abenteuerliche Weise
aus der Gefangenschaft fliehen und verließ Frankreich, nicht ohne einen
fulminanten Protestbrief an die franz. Bischöfe zu richten. Seine Klagen
verhallten jedoch wirkungslos und er blieb im Exil, das er unstet in Spanien,
Italien, England, der Schweiz sowie (er war ja Kardinal) in Rom verlebte. 1662,
nachdem er endlich doch auf die Nachfolge seines Onkels verzichtet hatte, wurde
er von Louis begnadigt. Er erhielt als Entschädigung die reiche lothringische
Abtei Commercy zugewiesen, blieb jedoch vom Hof (wo sich für einen Hochadeligen
wie ihn alles Wesentliche abspielte) ausgeschlossen. Immerhin wurde er von
Louis mehrfach (1662, 65, 68 und 70) in diplomatischen Missionen nach Rom
geschickt bzw. bei Papstwahlen beauftragt, im Sinne Frankreichs zu agieren.
Ab 1670 zog er sich völlig zurück nach
Commercy. Hier diktierte er schließlich (1671-75?) seine Memoiren, die er einer
anonymen adeligen Dame widmete, vermutlich Mme de Sévigné (s.u.), deren Ehevertrag
er 1644 mit abgezeichnet hatte und die 1664 einige Zeit in Commercy zu Gast
gewesen war. Das Manuskript ist erhalten, allerdings nicht lückenlos.
1675 wurde Retz fromm, was ihm etliche
Zeitgenossen nicht abnehmen wollten. Er starb bei dem Besuch einer Nichte in
Paris und wurde in der Basilika Saint-Denis beigesetzt, auf Befehl des Königs
ohne Namen auf seiner Grabplatte.
Im Zentrum der Mémoires stehen
die Jahre vor und während der Fronde, d.h. Retz’ hohe Zeit als Drahtzieher und
Intrigant. Sie gelten als ein Meisterwerk der Gattung aufgrund der
psychologischen Intuition, mit der Retz beobachtet, der Präzision und
Pointiertheit, mit der er formuliert, aber auch dem Geschick, mit dem er sich
und seine Positionen in Szene setzt. Die Mémoires
waren, als sie postum 1717 in der Umbruchstimmung nach König Louis’ XIV Tod
erschienen, ein großer Publikumserfolg und wurden bis ins 19. Jh. hinein als
eine Art Lehrbuch der politischen Intrige und des Machtpokerns gelesen.
(Stand: Dez. 08)
Antoine Furetière (1619–1688). Ein als belletristischer Autor nur der
zweiten Reihe angehörender Literat. Er stammte aus kleinbürgerlichen Pariser
Verhältnissen, konnte sich aber eine gute Bildung verschaffen, sogar ein
Jurastudium anschließen und ein kleineres Amt kaufen. Zusätzlich ließ er sich
die Niederen Weihen erteilen, um – mit Erfolg – an Pfründen zu kommen, die ihm
ein auskömmliches Leben sicherten. Ansonsten verkehrte er in Pariser
Literatenkreisen, betätigte sich in verschiedenen Gattungen (z.B. schrieb er,
ähnlich wie Scarron, 1649 eine burleske Æneis)
und war ein gefürchteter Satiriker und Kritiker. 1662 wurde er Mitglied der
Académie française. 1666 erschien sein Roman
bourgeois, eine Abrechnung mit dem heroisch-galanten Roman, dem Furetière
ein in bürgerlichen Kreisen spielendes realistisches Pendant gegenüberzustellen
versucht (das streckenweise aber langweilig ist und bei den Zeitgenossen auf
deutlich weniger Interesse stieß als bei heutigen Literarhistorikern).
Furetière sollte vor allem als Gelehrter bedeutsam werden: Da ihn die Mitarbeit
am Wörterbuch der Académie passionierte,
dieses ihm aber zu langsam vorankam, erstellte er ein eigenes Dictionnaire universel contenant généralement tous les termes de toutes les sciences et des arts. Als das Werk 1684
fertig war, durfte es aber wegen Protests der Académie, die Furetière geistigen
Diebstahl vorwarf und ihn sogar aus ihren Reihen ausschloss, nicht erscheinen
und wurde erst 1690 postum von dem bedeutenden Frühaufklärer Pierre Bayle in
Holland gedruckt. Der Furetière gilt
heute, weil er (anders als das 1694 erstmals erschienene, puristisch und
normativ angelegte Académie-Wörterbuch) auch umgangssprachliche und
fachsprachliche Bedeutungen von Wörtern verzeichnet, als wichtige Quelle für
die franz. Sprache des 17. Jh. Er wurde zum Vorbild vieler späterer
Wörterbücher.
(Stand: Mai 09)
Hercule Savinien Cyrano de
Bergerac (*
6.3.1619 in Paris, † 28.7.1655 in Sannois bei Paris)
Er ist heute vor allem als romaneske
Dramen- oder Filmfigur bekannt. Die eigentliche Bedeutung dieses Autors, der
sich in vielen Genres betätigte, liegt jedoch darin, dass er als einer der
Erfinder des Science fiction-Romans und als ein Vorläufer der Aufklärer des 18.
Jahrhunderts gelten kann.
Cyrano – wie er in den
Literaturgeschichten meistens schlicht heißt – stammte aus einer ursprünglich
bürgerlichen Familie, doch hatte sein Großvater, der Pariser Seefisch-Händler
Savinien Cyrano, 1571 das adelnde Amt eines Königlichen Notars und Sekretärs
gekauft und später, 1582, zwei Landgüter unweit der Hauptstadt erworben,
darunter eines, das einer aus dem Südwesten zugewanderten adeligen Familie de
Bergerac gehört hatte. Cyranos Vater, Abel de Cyrano, besaß ein höheres Amt am
Obersten Pariser Gericht, dem Parlement, und firmierte bei seiner Heirat unter
dem adeligen Titel „écuyer“ (eigentlich „Schildknappe“). Cyrano selbst
betrachtete sich uneingeschränkt als adelig und zeichnete meist „(de)
Bergerac“.
Seine Kindheit als vierter Sohn seiner
Eltern verbrachte er, offenbar weitgehend getrennt von ihnen, zum Teil auf
einem der Güter, zum Teil bei einem Dorfpfarrer, der ihm Unterricht erteilte.
Später besuchte er das jansenistisch orientierte Collège de Beauvais in Paris.
Ein gelehriger und braver Schüler war er anscheinend nicht. Den Direktor des
Kollegs, einen allseits geachteten Gelehrten, karikierte er später in einer
Komödie.
Nach Beendigung der Schulzeit 1638
führte er zunächst ein Dandy-Leben. Offenbar jedoch verschlechterte sich die
finanzielle Lage der Familie um dieselbe Zeit, denn schon 1636 hatte sein Vater
die Güter verkauft. Cyrano verdingte sich deshalb in einem Garde-Regiment, das
hauptsächlich aus gasconischen Kadetten bestand, so dass auch er selbst – zu
Unrecht – oft als Gascone betrachtet wurde. Bei seinen Kameraden machte er sich
einen Namen als Haudegen und Duellist, doch kannte man ihn auch als Verfasser
von Versen.
1639 und 40 nahm er mit seinem Regiment
am französisch-spanischen Krieg teil, der sich zu dieser Zeit im Nordwesten
Frankreichs abspielte. Er wurde zweimal verwundet, hängte danach den Soldatenrock
an den Nagel und kehrte nach Paris zurück.
Hier hörte er ab 1641 die Vorlesungen
des Naturphilosophen und –forschers Pierre Gassendi. Über ihn lernte er die
Theorien der antiken Naturphilosophen kennen, aber auch das heliozentrische
Weltbild nach Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei, das vom
katholischen Klerus nach wie vor als ketzerisch verdammt wurde, sich aber
langsam durchzusetzen begann. Darüber hinaus befasste er sich mit den Schriften
des Philosophen René Descartes (s.o.) sowie religionskritischer
freidenkerischer Autoren. Auch die Alchemie beschäftigte ihn.
Nebenher nahm er Tanz- und Fechtstunden
und bewegte sich in Kreisen junger Adeliger, wo man eine gewisse Freigeisterei
kultivierte. Zunehmend fand er auch Anschluss an Literaten, darunter die
relativ bekannten Autoren Paul Scarron (s.o.) und Tristan l’Hermite (s.o.)
sowie den weniger bekannten Charles d’Assoucy, mit dem er vermutlich durch ein
homosexuelles Verhältnis verbunden war.
Seine finanzielle Lage war prekär in
diesen Jahren, denn sein Vater konnte oder wollte ihn nicht unterstützen. Auch
gesundheitlich ging es ihm offenbar nicht gut, vermutlich aufgrund einer
Syphilis-Infektion. Das kleine Erbe, das ihm 1648 beim Tod des Vaters zufiel,
gab er rasch aus.
Während der politisch wirren Zeit der
Fronde (1648-52) war Cyrano zunächst auf Seiten des aufständischen Volkes von
Paris und des Pariser Parlements, d. h. der Gegner der regierenden
Königinmutter Anne d’Autriche und ihres unbeliebten Ministers, Kardinal
Mazarin. Gegen diesen verfasste er das satirische Gedicht Le Ministre d’État
flambé, sowie wohl auch anonym einige sog. Mazarinaden, d.h.
Anti-Mazarin-Pamphlete (die sich, nach dem Muster der Mazarinade von
Scarron, zu einer eigenen Gattung entwickelt hatten).
1651 jedoch, nachdem sich die Fronde zu
einer Revolte des Hochadels entwickelt hatte, wechselte Cyrano die Seite, brach
mit seinen bisherigen Freunden, insbes. Scarron und d’Assoucy, und verfasste
eine Lettre contre les Frondeurs, worin er Mazarins absolutische Politik
verteidigt.
Spätestens 1650 begann er den
zweiteiligen Roman, der sein Hauptwerk werden sollte, L’autre monde.
Hierin berichtet ein Ich-Erzähler von seiner angeblichen Fahrt zum Mond und zur
Sonne und von seinen Gesprächen und Erlebnissen mit deren Bewohnern (z. B. den
humoristisch verfremdeten biblischen Figuren des Propheten Elias und des
Patriarchen Enoch, die er auf dem Mond antrifft). Hierbei legt Cyrano den Mond-
und Sonnenbewohnerrn philosophische, naturkundliche, religiöse und
gesellschaftspolitische Gedanken in den Mund, die man in Frankreich zu dieser
Zeit nicht äußern durfte.
1652 trat er als eine Art Edeldomestik
in den Dienst des Herzogs (duc) und hohen Militärs d’Arpajon. Ihm widmete er
seine 1654 gedruckte Tragödie La Mort d’Agrippine (Der Tod des
Agrippina), ein historisches Stück im Stile Corneilles (s.o.), in das er
religionskritische Tiraden einbaute, die bei der Aufführung Ende 1653 großen
Anstoß erregten.
1654 ließ er eine Sammelausgabe bis
dahin verfasster kleinerer Werke erscheinen, insbes. die in Prosa geschriebene
Komödie Le Pédant joué (=der übertölpelte Pedant), aus dem Molière
(s.u.) für sein vorletztes Stück, Les fourberies de Scapin, geschöpft
hat, und die Lettres sur divers sujets, literarische, überwiegend
satirische Briefe zu verschiedenen Themen, in denen er sich u.a. eine
erstaunlich offene Bibel- und Kirchenkritik erlaubt.
Im selben Jahr 1654 – sein Roman von
der Mondfahrt war fertiggestellt, der der Sonnenfahrt noch in Arbeit – ereilte
ihn ein tragischer Unfall, der allerdings von manchen auch als Mordanschlag
gedeutet wurde: unter ungeklärten Umständen fiel ihm im Stadtpalast seines
Protektors ein Balken auf den Kopf. Er wurde zunächst in Paris von seiner
Schwester Catherine, einer Nonne, gepflegt und später von einem Cousin in
Sannois aufgenommen. Dort starb er ein gutes Jahr nach dem Unfall (ob an dessen
Folgen oder an einer Krankheit, ist nicht bekannt) im Alter von erst 36 Jahren.
Er erhielt ein kirchliches Begräbnis, hatte sich also vor seinem Tod mit der
Kirche arrangiert.
Sein letztes Werk (dessen Zuschreibung
allerdings nicht völlig sicher ist), ein Traité de physique, kam über
das Anfangsstadium nicht hinaus.
Die beiden utopischen Romane wurden
1657 bzw. 1662 postum unter dem Titel Les États et Empires de la Lune
und Les États et Empires du Soleil von Henri Lebret, einem Jugendfreund,
publiziert. Dieser tilgte hierbei diverse anstößige Passagen, die sich aus den
erhaltenen Manuskripten jedoch restituieren lassen. Dem Vorwort Lebrets
entstammen die meisten der Informationen, die zur Person von Cyrano bekannt
sind.
(Stand: Juli 09)
Molière (=Jean-Baptiste
Poquelin, *14.(?) 1.1622
Paris; †17.2.1673 ebd.).
Dieser Schauspieler, Theaterdirektor
und Dramatiker gilt den Franzosen als einer ihrer großen Klassiker und vielen
sogar als ihr größter Autor überhaupt. Seine bahnbrechende Leistung bestand
darin, die Komödie zu einer der Tragödie potenziell gleichwertigen Gattung zu
erheben und das Theater zumindestens für einige Jahre zum Diskussionsforum für
„richtiges“ und „falsches“ Verhalten in der Gesellschaft seiner Zeit zu machen,
d.h. vorzugsweise ihrer oberen Schichten.
Poquelin alias Molière war ältester
Sohn eines wohlhabenden Pariser Händlers für Heimtextilien (tapissier), der
1631 das Amt eines Tapissier du Roi
kaufte, d.h. eines königlichen Raumausstatters und Dekorateurs. Mit 10 verlor
er seine Mutter, mit knapp 15 auch seine Stiefmutter, beide gestorben im
Kindbett, was ihn sicher traumatisierte. Seine Schulzeit absolvierte er auf dem
von Jesuiten geführten Collège de Clermont, wo er eine solide klassische
Bildung erhielt und einige später für ihn wichtige Mitschüler hatte. Von seinem
Großvater mütterlicherseits, einem Theaternarren, wurde er häufig zu
Aufführungen mitgenommen, sowohl in das seriöse Hôtel de Bourgogne, als auch
zum volkstümlichen Jahrmarkttheater (théâtre de la foire), und erhielt so erste
Einblicke in diese ihn offenbar früh faszinierende Welt.
Mit knapp 16 legte er jedoch brav den
Amtseid als künftiger Amtsnachfolger seines Vaters ab und studierte wenig
später Jura in Orléans. Ob er sich, 1641 zurück in Paris, als Anwalt versucht
hat, ist unbekannt. Sicher ist, dass er um diese Zeit Vorlesungen des
Naturforschers und Philosophen Pierre Gassendi frequentierte, was ihm eine
gewisse Distanz zu der offiziellen aristotelischen Philosophie und den Dogmen
der Kirche vermittelte. Eine Vers-Übertragung des Werkes De natura rerum
des römischen Naturphilosophen Lukrez, die er damals offenbar begann, ist nicht
erhalten.
1641 oder 42, also mit etwa 20, lernte
er die Schauspielerfamilie Béjart und insbes. die zwei Jahre ältere Madeleine
Béjart kennen, die ihn faszinierte und in seinem Drang zum Theater bestärkte –
zweifellos gegen den Willen seines Vaters, von dem er 1642 beauftragt wurde, in
Ausübung seines tapissier-Amtes König
Louis XIII auf einer längeren Reise als Einrichter von dessen wechselnden
Nachtquartieren zu begleiten.
1643 übertrug er das ungeliebte Amt auf
einen jüngeren Bruder, ließ sich einen Vorschuss auf das Erbe seiner Mutter
auszahlen und gründete zusammen mit Madeleine Béjart und ihren Geschwistern
Joseph und Geneviève sowie sechs weiteren Schauspielern ein Theater: L'Illustre Théâtre. Spielort war ein
umfunktionierter Ballspielsaal (jeu de paume).
Das Illustre Théâtre kam
offenbar nie recht in Fahrt und ging 1645 pleite, wobei Molière, wie er sich
wohl ab 1643, spätestens aber im Juni 44 nannte, als Chef der Truppe schon
vorher vorübergehend in Schuldhaft genommen worden war.Danach schlossen er und
die Béjarts sich einer Wandertruppe an, die hauptsächlich in West- und
Südfrankreich umherzog und vom Duc (Herzog) d'Épernon protegiert wurde.
Relativ schnell arbeitete Molière sich
in der Truppe hoch zum Direktor und gewann 1653 für einige Jahre (bis 1657) als
Sponsor den Gouverneur der Provinz Languedoc, den ihm aus der Schulzeit
bekannten Prince (Fürst) de Conti. Spezialität der Truppe waren, neben einem
Repertoire aus Tragödien, Tragikomödien und Komödien zeitgenössischer Autoren,
vor allem Farcen und lustige Sketche im Stil der Commedia dell'arte. Gegen 1655
begann Molière auch eigene Stücke zu verfassen und ins Programm aufzunehmen,
z.B. die Verskomödie L'Étourdi (Der
Tolpatsch), die um einen gewitzten und pfiffigen Diener und seinen nicht eben
lebenstüchtigen jungen Herrn spielt.
1658, nach 13 Wanderjahren, in denen er
Menschen aus allen Schichten begegnet war und von Grund auf sein Handwerk als
Schauspieler, Theaterdirektor und schließlich auch Autor gelernt hatte,
gastierte Molière in Rouen (wo er dem schon berühmten Dramatiker Pierre Corneille
begegnete) und bekam Kontakt zu „Monsieur“, dem jüngeren Bruder Philippe von
Louis XIV. Er wurde von ihm nach Paris eingeladen und spielte vor dem Hof,
zuerst mit mäßigem Echo die Tragödie Nicomède
von Corneille (s.o.) und im Anschluss
daran die eigene Farce Le Docteur volant (Der fliegende Doktor). Diese gefiel dem
eben 20-jährigen König Louis so sehr, dass er der Truppe erlaubte, im Saal des
an den Louvre grenzenden, zum Abriss bestimmten Petit-Bourbon zu spielen, wo
allerdings die „jours ordinaires“ Sonntag, Dienstag und Freitag schon von einer
italienischen Truppe um den berühmten Komödianten Scaramouche belegt waren.
Den Durchbruch erzielte Molière im
November 1659 mit seiner Prosa-Komödie Les
précieuses ridicules (Die
lächerlichen Preziösen). In diesem Stück, seinem ersten, das für ein
vorwiegend Pariser Publikum konzipiert war, persifliert er am Beispiel der
beiden Protagonistinnen, zwei naiver, etwas exaltierter Bürgermädchen, die
manirierte Sprache und schönfärberische Denkweise der „Preziösen“, einer Art
Emanzen-Bewegung adeliger und später auch bürgerlicher Pariserinnen. Das Stück
verschaffte ihm erste Neider und auch Feinde, darunter den Chef der Verwaltung
der königlichen Schlösser, der quasi über Nacht und just zu Beginn der
Spielzeit 60/61 den Abriss des Petit-Bourbon verfügte. Molière blieb drei
Monate ohne Spielstätte, bis er vom König den Saal des Palais-Royal zugewiesen
bekam.
Ein weiterer Schlag war Anfang 61 der
komplette Misserfolg der Tragikomödie Dom Garcie de Navarre, mit der Molière
sich als Autor offenbar dem gehobenen Genus der Tragödie anzunähern gedachte.
Zugleich scheint er mit dem Thema des Stücks, der Gefahr exzessiver Eifersucht,
ein persönliches Problem zu bearbeiten, denn sichtlich ging er auf Freiersfüßen
und warb um die offenbar kokette 18-jährige Armande Béjart, die jüngste
Schwester Madeleines (oder vielleicht auch eine Tochter von ihr).
Spätestens Ende 1662 wurde Molière für
den Misserfolg des Dom Garcie entschädigt durch den großen Erfolg von L'École des femmes (Die Schule der
Frauen), einer Vers-Komödie, in der er, der soeben das Jawort Armandes
erlangt hatte, für eine gemäßigte Emanzipation der jungen Frauen und ihr Recht
auf eine Liebesheirat wirbt. Das Stück löste eine heftige Kontroverse aus, die
er mit den Prosa-Stücken La Critique de
l'École des femmes und L'Impromptu [das Stegreifstück] de Versailles weiter anheizte (beide
1663). Dem König scheint dies gefallen zu haben, denn er setzte Molière eine
Pension von 1000 Livres jährlich aus. Im Januar 64 wurde er sogar Taufpate
seines ersten (allerdings bald danach verstorbenen) Kindes Louis, was er wohl
auch deshalb tat, um das Gerücht Lügen zu strafen, Armande sei ein Kind
Madeleine Béjarts von Molière und dieser habe demnach seine eigene Tochter
geheiratet.
Im Mai 1664 – inzwischen war er zum
„maître de plaisir“ von Louis XIV avanciert – organisierte Molière ein
dreitägiges Hoffest im neuangelegten Park von Versailles. Dort spielte er
zunächst, mit Balletteinlagen, die sein jüngerer Freund Jean-Baptiste Lully (1632-87)
komponiert und choreographiert hatte, seine unverfänglichen Stücke La Princesse d'Élide (Die Fürstin von Elis), Le Mariage forcé (Die Zwangsheirat) und Les fâcheux (Die Lästigen). Am dritten
Tag inszenierte er seine neue Vers-Komödie Le
Tartuffe, die rasch zum Politikum wurde.
Schon im Vorfeld der Aufführung hatten
etliche Fromme am Hof gegen dieses Stück um einen scheinbar frommen, in
Wahrheit aber herrschsüchtigen, raffgierigen und lüsternen Heuchler polemisiert
und ein Verbot zu bewirken versucht. Nach der Aufführung brach Empörung bei der
gesamten „vieille cour“ (=alter Hof) aus, einer Gruppierung meist älterer
Höflinge, die sich um die fromme Königinmutter Anne d’Autriche scharten und der
Zeit vor 1661 nachtrauerten, wo man unter ihr und ihrem Minister Kardinal
Mazarin die Macht gehabt hatte. Der König, dem Molières Attacke auf die
Frömmler und damit durchaus auch auf die ihm lästige „vieille cour“ zunächst
sehr recht gewesen war, hielt es nun, unter dem Druck dieser Leute (die z.T. in
einem bigotten Geheimbund, der Compagnie
du Saint-Sacrement, organisiert waren), für opportun das Stück zu
verbieten.
Die nächsten Jahre Molières waren
bestimmt von seinem Kampf für den Tartuffe
und gegen die Intrigen der „cabale des dévots“ (=Klüngel der Frommen), in der
z.B. auch sein ehemaliger Gönner mitwirkte, der nach einer Syphilisinfektion
fromm gewordene Conti. Immerhin sah sich Molière vom König insofern
unterstützt, als er im Sommer 1665 seine Jahrespension von 1000 auf stolze 6000
Livres erhöht bekam und mit seiner Truppe den Namen Troupe du roi annehmen durfte, beides übrigens kurz nach der Geburt
seiner Tochter Esprit-Madeleine, die als einziges Kind überlebte († 1723).
1664 und 65 brachte Molière, der mit
seiner Truppe stets auch andere Autoren spielte, die ersten Stücke von Jean
Racine (s.u.) heraus, die Tragödie La Thébaïde und die
Tragikomödie Alexandre le Grand. Er verlor ihn jedoch hiernach an das
konkurrierende Theater des Hôtel de Bourgogne, das auf Tragödien spezialisiert
war. Auch büßte er dabei eine seiner beliebtesten Schauspielerinnen ein, Mlle
du Parc, die Racine zur Konkurrenz folgte und zudem dessen Geliebte wurde.
Molière rächte sich, indem er in der Folgezeit häufig Stücke von Racines
älteren Rivalen Corneille (s.o) wieder aufnahm oder neu inszenierte.
Im Sommer 1667 versuchte er, eine
überarbeitete, um zwei auf fünf Akte verlängerte und in L’Imposteur
(=der Schwindler) umbetitelte Version des Tartuffe in sein Programm
aufzunehmen, wobei er den Protagonisten in „Panulphe“ umbenannte und nicht mehr
priesterähnlich, sondern als Adeligen kostümierte. Doch der Premier Président
des Pariser Parlements, der für den bei der Armee in Flandern weilenden König
die Polizeigewalt ausübte, reagierte sofort mit einem Verbot. Der Erzbischof
von Paris bedrohte Molière sogar mit Exkommunikation. Als dieser zwei
Schauspieler mit einer Bittschrift zum König schickte, versprach der zwar eine
wohlwollende Prüfung der Sache, tat zunächst aber nichts. Immerhin duldete er,
dass sein Bruder Philippe und danach der Prince de Condé (der ältere Bruder Contis) 1668 das
Stück privat in ihren Schlössern aufführen ließen.
Erst am 5. Februar 1669, nachdem die
„vieille cour“ sich nach Anne d'Autriches Tod 1666 aufgelöst hatte und die
Compagnie du Saint-Sacrement im selben Jahr sogar verboten worden war und vor
allem Louis nach innen- und außenpolitischen Erfolgen fest im Sattel saß und
keine Rücksicht mehr auf die frommen Gegner Molières nehmen musste, konnte
dieser das Stück, nochmals überarbeitet und in Tartuffe, ou l’Imposteur umbenannt,
frei aufführen. Der Erfolg war triumphal, die Aufführung gilt als eines
der großen Ereignisse der französischen Theatergeschichte.
In der Zwischenzeit hatte Molière
übrigens das Thema Heuchelei weiterverfolgt: Ende 1664, also bald nach dem ersten
Verbot des Tartuffe, hatte er Dom Juan verfasst, ein Prosa-Stück um
einen hochadeligen Heiratsschwindler und Freigeist, der, um sich den
Nachstellungen empörter Geschädigter zu entziehen, eine Bekehrung zu
christlicher Moral und Frömmigkeit vortäuscht, aber schließlich zur Hölle
fährt. Auch dieses Stück wurde, vermutlich wegen der nicht eindeutig negativen
Darstellung von Dom Juans Freidenkertum, nach wenigen Aufführungen verboten.
Im Juni 66 hatte Molière die
Vers-Komödie Le Misanthrope (Der Menschenfeind) herausgebracht, eine Satire auf die
geheuchelte Nettigkeit und unehrliche Schmeichelei in den Pariser Salons und am
Hof. Im Hintergrund stehen aber noch zwei andere Motive, die dieses Stück zum
wohl autobiografischsten des Autors machen: So spiegelt die Weigerung des (von
ihm selbst gespielten) „Misanthropen“ Alceste, sich opportunistisch und
diplomatisch zu verhalten, zweifellos die Unlust, aber auch das Unvermögen des
letztlich bürgerlich gebliebenen königlichen Protégés Molière, sich in adeligen
Kreisen, insbes. der Hofgesellschaft, geschmeidig und angepasst zu bewegen. Die
Enttäuschung und die Eifersucht des älteren liebenden Alceste gegenüber der
koketten jungen Célimène ähnelt sichtlich dem Groll von Molière selbst
gegenüber seiner 21 Jahre jüngeren Frau Armande, die sich gerade
(vorübergehend) von ihm getrennt hatte.
1668 (also nach dem Verbot auch der
zweiten Tartuffe-Version) hatte
Molière in der Vers-Komödie Amphitryon
erstmals leise Kritik geübt an seinem wenig zuverlässigen Gönner Louis XIV, den
er verschlüsselt darstellt in Gestalt des ganz ungeniert seinem sexuellen
Lustgewinn nachgehenden Titelhelden Amphitryon alias Jupiter. In Georges Dandin (Prosa, ebenfalls 1668) hatte er bitter die Arroganz
gebrandmarkt, mit der Adelige, selbst wenn sie verarmt waren, die
gesellschaftlich nützliche Bourgeoisie verachten und ausbeuten zu dürfen
meinten.
Insgesamt aber hatte er sich nach 1667
mehr und mehr auf nicht-kontroverse Themen zu verlegen begonnen und versuchte,
mit gefälligen Stücken sein Theater zu füllen und den König bei Laune zu
halten. So schrieb er neben anderen, heute weniger bekannten Stücken:
1668 L'Avare (Prosa), wo er den Typ des reich gewordenen, aber zwanghaft
geizig gebliebenen Bürgers karikiert, der seine lebensfroheren und konsumfreudigeren
Kinder fast erstickt;
1669 (nach dem endlichen Erfolg des Tartuffe) Monsieur de Pourceaugnac (Prosa), eine farcenartige Komödie, in der
er einen dümmlichen Provinzler die quasi schon eingekaufte Braut an einen
klügeren Rivalen verlieren läßt;
1670 Le Bourgeois gentilhomme (Der Bürger als Edelmann, Prosa, mit
Gesang- und Balletteinlagen), wo er die naive Sucht der Bourgeoisie nach
Adelstiteln verspottet;
1671 Les fourberies [Schelmenstreiche]
de Scapin (Prosa), wo er in
einer turbulenten Handlung um den pfiffigen Diener Scapin alle Register der
Farce zieht;
1672 Les femmes savantes (Die gelehrten Frauen, Verse), wo er an drei
Bürgerinnen, die er als nur pseudogebildet und pseudogelehrt darstellt, eine in
seinen Augen unweibliche Sucht nach schöngeistiger Bildung und nach
Gelehrsamkeit karikiert und ihnen eine junge Frau gegenüberstellt, die ihre
Rolle als bürgerliche Haus- und Ehefrau bejaht;
1673 Le Malade imaginaire (Der eingebildete Kranke, Prosa), wo er ein
altes und mehrfach auch schon von ihm selbst bearbeitetes Thema gestaltet,
nämlich die naive Medizingläubigkeit reicher Kranker und vor allem die
Inkompetenz der von keinerlei Selbstzweifeln geplagten Ärzte – eine
Inkompetenz, die dem selbst häufig kranken Molière (Tuberkulose?) nur allzu
geläufig war.
Insgesamt verdüsterte sich in diesen
Jahren rasch sein Horizont: Die langen Querelen um den Tartuffe und vor allem der ständige berufliche Stress hatten seine
Gesundheit ruiniert. Häufige Eheprobleme setzten ihm zu. 1671 kam es bei der
Einstudierung der theatertechnisch sehr aufwendigen „Ballett-Tragödie“ Psyché
(deren letzte zwei Drittel er von Corneille hatte verfassen lassen) zum Bruch
mit Partner Lully. Ein drittes Kind starb bald nach der Geburt. Anfang 1772
erkrankte und verstarb auch seine langjährige Weggefährtin Madeleine Béjart.
Molière musste erleben, wie der König den zum Rivalen gewordenen Lully zu
favorisieren begann.
Le
Malade imaginaire sollte
sein letztes Stück bleiben und der Kranke seine letzte Rolle. Bei der vierten
Aufführung am 17. Februar 1673 erlitt er einen Schwächeanfall und starb kurz
danach in seiner nahen Wohnung. Nur mühsam gelang es seiner Frau Armande, den
Widerstand des zuständigen Gemeindepfarrers zu brechen und über den König beim
Erzbischof von Paris die Genehmigung für eine halbwegs ehrbare Bestattung auf
dem Friedhof zu erwirken.
Die Truppe Molières blieb unter
Armandes Leitung zunächst bestehen. Sie schloss sich aber, als Lully den Saal
des Palais-Royal zugesprochen bekam, der Truppe des Théâtre du Marais an, wobei
sich Armande mit einem von deren Schauspielern verheiratete. 1680 fusionierte
die neue Truppe auf Anweisung von Louis XIV mit der des Hôtel de Bourgogne: die
noch heute bestehende Comédie Française war geboren.
(Stand: Aug. 09)
Jean de La Fontaine (* 8.7.1621 in
Château-Thierry/Champagne ; † 12.4.1695 in Paris).
La Fontaine wird von den Franzosen in
die vorderste Reihe ihrer Klassiker gestellt und ist noch heute mit ein oder
zwei Fabeln jedem Schulkind bekannt.
Er war Sohn eines bürgerlichen, aber
mit seinen Chargen zum niederen Amtsadel zählenden Königlichen Rats (Conseiller du Roi) sowie Jagd- und
Fischereiaufsehers (Maître des Eaux et
Forêts) – ein Amt, das er später (1658) erbte, aber nie ordnungsgemäß
ausübte und schließlich (1670) verkaufte.
1636 ging er nach Paris, um dort seine
Schulausbildung abzuschließen. 1641 begann er als Novize im Predigerorden der
Oratorianer ein Theologiestudium, brach es aber ab und verließ den Orden am Ende
der Probezeit 1643. Nach zwei offenbar mehr zweckfrei, wenn auch wohl mit viel
Lektüre, zu Hause verbrachten Jahren studierte er 1645–47 Jura in Paris. 1647
ließ er sich in Château-Thierry mit einer 14-Jährigen aus ebenfalls
bürgerlich-amtsadeliger Familie verheiraten, mit der er 1653 zwar einen Sohn
bekam, aber offenbar nie eine engere Beziehung pflegte. Wohnen tat das Paar
zunächst meist in Paris, im Haus eines Onkels der Frau. Von einer juristischen
Berufstätigkeit La Fontaines in dieser Zeit ist nichts bekannt, außer dass er
1659 als am Parlement zugelassener Anwalt erwähnt wird.
Doch auch als Autor scheint er nicht
sehr aktiv gewesen zu sein, obwohl er in Literatenkreisen verkehrte. (Oder ist
außer der 1654 verfassten Übertragung einer Komödie von Terenz nur nichts
erhalten?) Erst von 1658 datiert ein erstes fertiges eigenes Werk, das
Kleinepos Adonis, das er dem
mächtigen Finanzminister und reichen Mäzen Nicolas Fouquet widmete, an den er
1657 über den Onkel seiner Frau Anschluss erhalten hatte. In den nächsten
Jahren schrieb er Gelegenheitsgedichte im Auftrag Fouquets für dessen kleinen
Hof, an dem er weitere Literaten kennen lernte, z.B. Mme de Sévigné (s.u.).
Daneben arbeitete er an einem idyllischen Gedicht, Le Songe de Vaux, das Fouquets prächtiges neuerbautes Schloss in
Vaux-le-Viconte verherrlichen sollte. Vermutlich datieren aus dieser Zeit auch
schon die ersten der Fabeln, die ihn berühmt machen sollten.
1662 wurde La Fontaine in den Strudel
hineingezogen, der um Fouquet entstand, als dieser plötzlich bei Louis XIV in
Ungnade fiel und wegen angeblicher Bereicherung im Amt inhaftiert wurde.
Nachdem er vergeblich eine Bitt-Ode für Fouquet an den König gerichtet hatte,
verreiste er 1663 vorsichtshalber für ein paar Monate nach Limoges, zusammen mit
dem sich ebenfalls gefährdet fühlenden Onkel seiner Frau. Dort vollendete er
die Nouvelles tirées de Boccace et d'Arioste: heiter-galante,
manchmal gewagt erotische Vers-Erzählungen nach Novellen von Boccaccio und
Ariosto, die er 1664 in Druck gab (und die 1665 und 1666, mehrfach erweitert,
als Contes et nouvelles en vers neu
aufgelegt wurden).
Nach seiner Rückkehr aus Limoges machte
er die Bekanntschaft Boileaus (s.u.) und Molières (s.o.). Den jungen Racine
(s.u.), einen entfernten Verwandten seiner Frau, kannte er schon länger.
1664 fand er Anschluss an Herzogin
Marguerite de Lorraine, Witwe des jüngeren Bruders von Louis XIII, Gaston
d'Orléans. Er wurde von ihr zu einem ihrer gentilshommes
ordinaires ernannt (womit er als geadelt galt) und wohnte bis zu ihrem Tod
1672 im Palais de Luxembourg – ohne seine Frau, die mitsamt dem Sohn nach
Château-Thierry zurückgekehrt war.
In den vom Wirtschaftsaufschwung unter
Minister Colbert und von der Offenheit des jungen Louis XIV geprägten
optimistischen Jahren um 1665, die durch die 1667 beginnende, anfangs
erfolgreiche Serie von Expansions-Kriegen gegen Spanien, Holland und das
Deutsche Reich zunächst noch nicht verdüstert wurden, verfasste La Fontaine in der Hauptsache Fabeln. Die
Stoffe für sie, die zu seinem Hauptwerk werden sollten, bezog er aus den
verschiedensten antiken und zeitgenössischen Quellen. Eine erste Ausgabe in
zwei Bänden erschien 1668 als Fables choisies, mises en vers par M. de La Fontaine. Sie enthielt die meisten der
heute aus Anthologien bekannten heiter-ironischen Stücke. 1669 brachte er den
rokkokohaften kleinen Roman Les amours de
Psyché et de Cupidon heraus.
1672 wurde er Dauergast im Haus der
Bankierswitwe Mme de La Sablière, die einen der führenden schöngeistigen Salons
von Paris unterhielt. 1674 schrieb er das Libretto zu der Oper Daphné, die Lulli vertonte. 1675 bekam
er direkt zu spüren, dass der Wind in Frankreich sich zu drehen begann: eine
gerade erschienene (die gewagten Stücke bevorzugende) Auswahl der Contes et nouvelles wurde verboten. Die
1677 und 1679 gedruckten Bände III und IV der Fabeln zeigen denn auch eine
erheblich skeptischere Sicht La Fontaines von der Welt, insbesondere des
Verhältnisses von oben und unten, Mächtigen und Subalternen.
1683 inszenierte die junge Comédie Française sein Stück Le Rendez-vous, das aber nur viermal
aufgeführt wurde und nicht erhalten ist. Ebenfalls 1683 wurde La Fontaine in
die Académie française gewählt, allerdings von Louis XIV, der inzwischen unter
dem Einfluss der fromm gewordenen Mme de Maintenon stand, erst nach längerem
Zögern als Mitglied bestätigt. Bei der 1687 in der Académie ausgelösten
„Querelle des Anciens et des Modernes“ stand er auf der Seite der Anciens, d.h.
der Anhänger der Vorstellung, dass die Kultur der griechisch-römischen Antike
unübertrefflich sei und bleibe.
1691 versuchte er sich nochmals als
Librettist für das Singspiel Astrée,
das aber ein Misserfolg wurde. Ende 1692, bald nachdem er eine durchgesehene
Gesamtausgabe der Fabeln herausgebracht hatte, erkrankte er schwer und wurde
danach fromm. Als Mme de La Sablière, die schon vor ihm fromm geworden war,
1693 starb, zog La Fontaine in das Haus eines letzten Gönners, des Bankiers
d’Hervarth. Hier starb er 1695, nicht ohne sich vorher öffentlich von seinen
ganz unzeitgemäß gewordenen Contes
distanziert zu haben.
(Stand: Dez. 08)
Blaise Pascal (* 19.6.1623 Clermont-Ferrand; † 19.8.1662 Paris).
Obwohl er vor allem Mathematiker und
Naturwissenschaftler und eher nur nebenher Literat war, wird er in seiner
Eigenschaft als exzellenter Stilist, Pamphletist und Satiriker doch zu den
großen Autoren der franz. Klassik gerechnet. In Deutschland läuft er eher unter
der Kategorie ‚Philosoph’.
Pascal stammte aus einer alten
auvergnatischen, in zweiter Generation amtsadeligen Familie. Sein Vater hatte
in Paris Jura studiert, dann in Clermont das Amt eines Steuereinnehmers („élu“)
und etwas später das des zweiten Vorsitzenden Richters am Obersten
Steuergerichtshof der Auvergne gekauft. Die Mutter, Antoinette Begon, kam aus
einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die ebenfalls in den Amtsadel strebte.
Pascal hatte zwei Schwestern, die drei Jahre ältere Gilberte (die später seine
Nachlassverwalterin und erste Biographin wurde) sowie die zwei Jahre jüngere
Jacqueline, von deren Geburt sich die Mutter nicht erholte, so dass Pascal mit
drei Jahren Halbwaise wurde. Als er acht war, zog die Familie samt Gouvernante
nach Paris, weil der Vater den Kindern, zumal dem offensichtlich hochbegabten
Jungen, bessere Entfaltungsmöglichkeiten schaffen wollte. Sein Richteramt
verkaufte er an einen Bruder und legte sein Vermögen in Staatsanleihen an.
Pascal war als Kind sehr kränklich (und
blieb dies auch sein Leben lang), deshalb wurde er von seinem sehr gebildeten
und naturkundlich interessierten Vater sowie von Hauslehrern privat
unterrichtet. Spätestens mit zwölf erwies er sein hervorragendes mathematisches
Talent und fand über seinen Vater, der in Pariser Gelehrten- und
Literatenzirkeln verkehrte, Anschluss an den Kreis von Mathematikern und
Naturforschern um den Père Mersenne. Hier beeindruckte er als 16-Jähriger mit
einer Arbeit über die Berechnung von Kegelschnitten.
1638 wurde der Vater verdächtigt,
Mitorganisator eines Protest von Betroffenen gegen Zinsmanipulationen des
Staates zu sein. Er zog es vor, unterzutauchen und aus Paris zu flüchten. Ende
1639 wurde er jedoch dank der Fürsprache hochstehender Personen von Richelieu
begnadigt und durfte diesem sogar seinen Sohn vorstellen. 1640 wurde er zum
königlichen Kommissar und obersten Steuereinnehmer für die Normandie in Rouen
ernannt. Hier erfand Pascal 1642 für ihn die „roue [=Rad] Pascale“ oder
„Pascaline“, die erste bekannte Rechenmaschine. Sie ermöglichte zunächst nur
Additionen, wurde im Lauf der nächsten zehn Jahre aber ständig verbessert, und
konnte schließlich auch subtrahieren. Pascal erhielt ein Patent auf sie, doch
der Reichtum, den er sich von der Erfindung und einer eigens gegründeten
kleinen Firma erhofft hatte, blieb aus. Die einzeln handgefertigten Maschinen
(mehrere von insgesamt wohl 50 sind erhalten) waren zu teuer, um größeren
Absatz zu finden.
In Rouen, einer Stadt mit Universität,
hohem Gericht (Parlement) und reicher Kaufmannschaft, zählte die Familie Pascal
zur guten Gesellschaft, auch wenn der Vater sich durch eine harte Amtsführung
unbeliebt gemacht hatte. Pascal sowie seine literarisch begabte jüngere
Schwester Jacqueline, deren dichterische Versuche von dem Dramatiker Pierre
Corneille (s.o.) gefördert wurden, bewegten sich elegant in diesem Milieu.
Schwester Gilberte heiratete 1641 einen jungen Verwandten, Florin Périer, den
sich Vater Pascal als Assistenten aus Clermont-Ferrand geholt hatte.
1646, während der Rekonvaleszenz des
Vaters nach einem Unfall, kam die bis dahin nur lax religiöse Familie durch
zwei Krankenpfleger in Kontakt mit den Lehren des holländischen Reformbischofs
Jansenius, der einen dem Calvinismus ähnlichen katholischen Fundamentalismus
vertrat. Vater und Kinder wurden fromm, Jacqueline beschloss sogar Nonne zu
werden, und Pascal, der unter Lähmungserscheinungen an den Beinen und starken
Schmerzen litt, interpretierte seine Krankheit als ein Zeichen Gottes und
begann ein asketisches Leben zu führen.
Anfang 1647 demonstrierte er seinen
neuen Glaubenseifer, als er den Erzbischof von Rouen eher gegen dessen Willen
dazu nötigte, einen Priesterkandidaten zu maßregeln, der ihm und Freunden
gegenüber eine Sicht der Religion vertreten hatte, die ihnen zu rationalistisch
erschien.
Allerdings ließ er sich von seiner
Frömmigkeit nicht hindern, weiterhin naturwissenschaftlich-mathematische
Studien zu treiben. So wiederholte er noch 1646 erfolgreich die schon 1643 von
Evangelista Torricelli angestellten Versuche zum Nachweis der Existenz des
Vakuums, die er 1647 in einer Abhandlung beschrieb.
Ab Mai 1647 lebte er mit Jacqueline und
wenig später auch dem Vater überwiegend wieder in Paris, wo er mit führenden
Jansenisten in Kontakt trat, aber auch seine Forschungen weiterführte.
Angesichts des Widerstandes vieler Theologen und Naturforscher, u.a. von René
Descartes (s.o.), den er Ende Sept. 47 zweimal in Paris traf, diskutierte
Pascal die Frage des Vakuums jedoch nur noch indirekt, insbes. in einer
Abhandlung über den Luftdruck, dessen Abhängkeit von der Höhe des jeweiligen
Ortes er 1648 durch entsprechende Versuche seines Schwagers Périer am Puy de
Dôme nachgewiesen hatte. 1648 begründete er in einer weiteren Abhandlung das
Gesetz der kommunizierenden Röhren.
Als im Frühling 1649 die im Vorjahr
ausgebrochenen bürgerkriegsartigen Wirren des „Fronde“-Aufstands das Leben in
Paris erschwerten, wichen die Pascals zu den Périers in die Auvergne aus und
blieben dort bis Herbst 1650.
Im Herbst 51 starb Pascals Vater. Kurz
danach ging Tochter Jacqueline gegen seinen und auch Pascals Wunsch ins
Kloster, und zwar in das streng jansenistische Port-Royal in Paris.
Pascal war nun, mit 28, zum ersten Mal
auf sich allein gestellt. Da er, wenn auch nicht reich, so doch wohlhabend und
zudem adelig war, begann er als junger Mann von Welt in der guten Pariser
Gesellschaft zu verkehren. Er befreundete sich mit einem philosophisch
interessierten jungen Hochadeligen, dem Duc (Herzog) de Roannez. Von ihm wurde
er 1652 zusammen mit einigen von dessen freidenkerischen Freunden, insbes. dem
Chevalier de Méré, auf eine längere Reise mitgenommen, während der er in die
neuere Philosophie eingeführt wurde, aber auch in die Kunst geselliger
Konversation. Dank seines Verkehrs im schöngeistigen Salon von Mme de Sablé kam
er auch mit der belletristischen Literatur der Zeit in nähere Berührung. Er
dachte kurz sogar an den Kauf eines Amtes und ans Heiraten. Ein ihm lange
zugeschriebener, weil gewissermaßen in diese mondäne Lebensphase passender
anonymer Discours sur les passions de l'amour (Rede über die
Leidenschaften der Liebe) stammt offensichtlich aber nicht von ihm.
Die Diskussionen, die er mit den neuen
Bekannten, insbes. Méré, über die Gewinnchancen im Glückspiel führte, einem
typisch adeligen Zeitvertreib, brachten Pascal 1653 dazu, sich der
Wahrscheinlichkeitsrechnung zuzuwenden, die er 1654 im brieflichen Austausch mit
dem Toulouser Richter und großen Mathematiker Pierre de Fermat vorantrieb.
Ebenfalls 1654 schrieb er je eine Abhandlung über das sog. Pascalsche Dreieck (Traité
du triangle arithmétique), über Zahlenordnungen (Traité des ordres
numériques) und über Zahlenkombinationen (Combinaisons).
Im Herbst 1654 wurde Pascal offenbar
von einer depressiven Verstimmung erfasst. Er näherte sich Jacqueline wieder
an, die er häufig im Kloster besuchte, und er zog in ein anderes Stadtviertel,
um sich seinem mondänen Freundeskreis zu entziehen. Am 23. Nov. (möglicherweise
nach einem Unfall mit seiner Kutsche, der aber nicht verlässlich bezeugt ist)
hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis, das er noch nachts auf einem
erhaltenen Blatt Papier, dem sog. Mémorial, aufzuzeichnen versuchte. Er
zog sich aus der Pariser Gesellschaft zurück, um völlig seiner Frömmigkeit zu
leben. Sein einziger Verkehr waren nunmehr die jansenistischen „Einsiedler“
(solitaires), d.h. Gelehrte und Theologen, die sich im Umkreis des
Hauptklosters von Port-Royal, Port-Royal des Champs bei Versailles,
niedergelassen hatten und die er häufig dort für kürzer oder länger besuchte.
Wohl 1655 führte er hier das legendäre Gespräch mit seinem neuen Beichtvater A.
Le Maître de Sacy (Conversation avec M. de Saci sur Épictète et Montaigne'),
worin er zwischen den beiden Polen der montaigneschen Skepsis und der stoischen
Ethik Epiktets schon eine Skizze der Anthropologie entwirft, die er später in
den Pensées entwickelte.
Zugleich begann er, im gelehrten Dialog
mit den „solitaires“, insbes. Antoine Arnauld oder Pierre Nicole, religiös und
theologisch motivierte Schriften zu verfassen. Nebenher beschäftigte er sich,
wie immer, auch mit praktischen Fragen, so 1655 mit der Didaktik des Erstlesens
für die Schule, die die „solitaires“ betrieben.
Bei seiner Bekehrung war er in eine
Situation eingetreten, in der die orthodox frommen und rigoros moralischen
Jansenisten den laxeren und konzilianteren, aber auch machtbewussten Jesuiten
ein Ärgernis geworden waren. Als es 1655 zum offenen Streit kam, weil Arnauld
als Jansenist aus der Pariser theologischen Fakultät, der Sorbonne,
ausgeschlossen wurde, mischte Pascal sich 1656 ein, und zwar mit einer Serie
anonymer satirisch-polemischer Broschüren, die wie eine Bombe einschlugen und
1657 in Holland als Buch gedruckt wurden unter dem Titel Provinciales, ou
Lettres de Louis de Montalte à un provincial de ses amis et aux R.R. PP.
Jésuites sur la morale et la politique de ces pères („Provinzler[briefe],
oder Briefe von L. de M. an einen befreundeten Provinzler sowie an die Jesuiten
über die Moral und die Politik dieser Patres“). Es sind 18 Briefe eines
fiktiven Paris-Reisenden namens Montalte, von denen die ersten zehn an einen
fiktiven Freund in der heimatlichen Provinz gerichtet sind, die nächsten sechs
an die Pariser Jesuitenpatres insgesamt und die letzten beiden speziell an den
jesuitischen Beichtvater des Königs. In diesen Briefen beschreibt Montalte
zunächst in der Rolle eines theologisch unbeschlagenen und naiven jungen Adeligen,
wie Jesuiten ihm altklug und herablassend ihre Theologie erklären. Später,
nachdem er quasi seine Lektion gelernt hat, beginnt er mit ihnen zu diskutieren
und so scharfsinnig wie witzig ihre Lehren zu zerpflücken. Pascal persiflierte
und attackierte so die zwar gewissermaßen verbraucherfreundliche, aber
tendenziell opportunistische und oft spitzfindige Theologie – die berühmte
Kasuistik – der Jesuiten und entlarvte ihren sehr weltlichen Machthunger. Die Lettres
provinciales hatten, obwohl sie nach der Nr. 5 verboten, bei Erscheinen der
Buchausgabe auf den Index gesetzt und 1660 sogar vom Henker verbrannt wurden,
großen und langandauernden Erfolg und bedeuteten längerfristig den Anfang vom
Ende der Allmacht der Jesuiten, zumindest in Frankreich. Wegen ihrer Klarheit
und Präzision gelten sie als ein Meisterwerk der franz. Prosa, das ihrem Autor
einen Platz unter den Klassikern der franz. Literatur verschaffte.
Weniger bekannt wurden die vier
bissigen Streitschriften, mit denen sich Pascal 1658 (neben Arnauld und Nicole)
in eine Fehde zwischen jansenistisch orientierten Pariser Pfarrern und den
Jesuiten einschaltete.
Kurzfristig behielten allerdings die
Jesuiten mit Hilfe von König und Papst die Oberhand, was die nächsten Jahre
Pascals verdüsterte. Denn während viele seiner Gesinnungsfreunde unter dem
Druck der obrigkeitlichen Schikanen einknickten oder taktierten, blieb er
unbeugsam.
In dieser Situation begann er 1658,
systematischer an einer großen Apologie der christlichen Religion aus
jansenistischer Sicht zu arbeiten, für die er sich 1656 erste Notizen gemacht
hatte und deren Grundlinien in den 1657 verfassten, aber unvollendeten Écrits
sur la grâce („Schriften über die Gnade“) zu finden sind, wo er die von den
Jansenisten vertretene Form der augustinischen Gnadenlehre als Mitte zwischen
der fast fatalistischen calvinistischen Prädestinationslehre und der
optimistischen jesuitischen Gnadenlehre darstellt und dem freien Willen des
Menschen die Entscheidung über sein Heil zugesteht. Ziel des neuen Werkes sollte
es sein, atheistischen Freidenkern und Skeptikern aller Art die Prekarität der
menschlichen Existenz zu Bewusstsein zu bringen und sie von der Richtigkeit und
den Vorzügen der christlichen Religion zu überzeugen.
Mit der ohnehin schlechten Gesundheit Pascals
ging es in diesen Jahren immer rascher bergab, sicher auch aufgrund seiner
äußerst asketischen, ihn zusätzlich schwächenden Lebensweise. 1659 war er lange
Wochen arbeitsunfähig; 1660 verbrachte er mehrere Monate als Rekonvaleszent auf
einem Schlösschen seiner älteren Schwester und seines Schwagers bei Clermont.
Neben seiner Arbeit an den Pensées betrieb
er immer wieder auch praktische Dinge. So beschäftigte er sich 1658 mit der
Berechnung von Zykloiden (wie sie z.B. eine Roulettekugel beschreibt) und
veranstaltete für die Lösung dieser Aufgabe, nachdem er selbst sie gefunden
hatte, ein Preisausschreiben, was ihm viele (unzureichende) Vorschläge und eine
heftige Polemik mit einem Unzufriedenen eintrug. 1659 war er Mitglied eines
Komittees, das eine neue Bibelübersetzung zu initiieren versuchte. Anfang 1662
gründete er zusammen mit seinem Freund Roannez ein Droschkenunternehmen („les
carosses à cinq sous – Groschenkutschen“), das den Beginn des öffentlichen
Nahverkehrs in Paris markierte.
Im Juni erkrankte er schwer, ließ
seinen immer noch recht ansehnlichen Hausstand zugunsten mildtätiger Zwecke
verkaufen und zog sich in das Pariser Haus der Périers zurück. Hier verbrachte
er seine letzten Wochen in absoluter Frömmigkeit. Er starb mit eben 39, nachdem
Schwester Jacqueline schon ein Jahr zuvor verstorben war.
Die Pensées
Bekanntlich konnte Pascal aufgrund seines frühen Todes die
geplante große Apologie nicht fertigstellen. Er hinterließ nur Notizen und
Fragmente, rd. 1000 Zettel in rd. 60 Bündeln, auf deren Grundlage 1670 von
jansenistischen Freunden eine Ausgabe unter dem Titel Pensées de M. Pascal
sur la religion et sur quelques autres sujets („Gedanken [...] über die
Religion und einige andere Themen“) besorgt wurde. Diese Erstausgabe ist
verdienstvoll, weil sie - ungewöhnlich für die Epoche - ein unfertiges Werk
gleichwohl zu publizieren und zugänglich zu machen versuchte. Sie ist aber
problematisch insofern, als sie sich nicht am Originaltext orientierte, obwohl
er als Autograph, wenn auch nur in Zettelform, erhalten war, sondern eine der
beiden Abschriften benutzte, die die Périers kurz nach Pascals Tod von den
Zettelbündeln hatten anfertigen lassen. Sie ist noch problematischer dadurch,
dass sie das erhaltene Textmaterial nach unterschiedlichen Kriterien kürzte
und, anders als die benutzte Abschrift, die die Anordnung der Zettel und Bündel
weitgehend beibehalten hatte, eine eigene, plausibler erscheinende Ordnung der
Fragmente einführte. Die Herausgeber des 18. und frühen 19. Jh., z.B. Condorcet
(1776) oder Voltaire (1778), folgten dieser Praxis, meist unter nochmaligen
Kürzungen und/oder weiteren Umstellungen.
Die Geschichte der modernen Ausgaben beginnt 1842 damit,
dass der Philosoph Victor Cousin in einem Bericht an die Académie française auf
die Notwendigkeit einer neuen Edition der Pensées gemäß den inzwischen
entwickelten philologischen Prinzipien hinwies. Tatsächlich versuchte schon
1844 Prosper Faugère eine komplette Edition nach den originalen Zetteln
Pascals, die jedoch auch er weitgehend frei nach inhaltlichen Kriterien zu
Abschnitten und Unterabschnitten neu ordnete. Dieses Prinzip wurde fortgesetzt
und vermeintlich jeweils perfektioniert von weiteren Herausgebern, deren
bekanntester Léon Brunschvicg mit seiner Ausgabe von 1897 (2. Aufl. 1904)
wurde.
Nach 1930 trennte sich die Forschung von dem etablierten
Vorurteil, dass Pascals Zettel letztlich nicht geordnet gewesen seien. Vielmehr
erkannte man, dass zumindest 27 Bündel (d.h. rd. 40% der Zettel) ebensovielen
von Pascal intendierten Kapiteln entsprachen und durchaus eine interne Ordnung
aufwiesen. Auch andere Bündel stellten sich als homogener und geordneter heraus
als bis dahin gedacht, so dass man (insbes. Z. Tourneur und L. Lafuma) zu
Editionen überging, die im Text den Autographen entsprechen und in der
Anordnung weitgehend den beiden Abschriften, bzw. der besseren von ihnen,
folgen (denn 1710/11 hatte Pascals Neffe Louis Périer in bester Absicht alle
Zettel umsortiert und auf große Bögen geklebt). Gleichwohl sind auch die
neueren Editionen nur hypothetische Annäherungen. Die Frage, wie das Werk
aussähe, wenn Pascal es hätte vollenden können (und ob er es je hätte
fertigstellen können), bleibt notwendig offen.
Die Pensées sind ein für die franz., aber auch die
gesamte europäische Geistesgeschichte zentraler Text geworden. Fast alle
Philosophen und Theologen von Rang, aber auch viele bedeutende Literaten haben
sich sowohl zustimmend als auch ablehnend mit ihm beschäftigt.
(Stand: Mai 06)
Paul
Pellisson (* 30.10.1624 in Béziers; † 7.2.1693 in Paris)
Obwohl
selbst als Autor nicht allzu bedeutend, war Pellisson in den 1650er Jahren eine
wichtige Figur im Pariser Literaturbetrieb.
Er
stammte aus einer wohlhabenden protestantischen Familie und wuchs auf in
Castres, wo sein Vater Richter war. Nach Schulbesuch in Castres und Montauban,
einem Zentrum des südfranzösischen Protestantismus, studierte er Recht in
Toulouse. 1645 erhielt er die Zulassung als Anwalt und ging nach Paris, wo er
Anschluss fand an den ebenfalls protestantischen Literaten Valentin Conrart
(s.o.), Gründungsmitglied der jungen Académie Française und ihr Sekretär auf
Lebenszeit. Über ihn erlangte er Zutritt zum schöngeistigen „preziösen“ Salon
der Marquise de Rambouillet, wo er u.a. die Autoren Gilles Ménage (s.o) und
Madeleine de Scudéry (s.o.) kennen lernte. Die turbulentesten Phasen der 1648
beginnenden Fronde-Unruhen verbrachte er im heimatlichen Castres.
Zurück
in Paris, kaufte er 1652 das adelnde, aber nicht sehr absorbierende Amt eines
Königlichen Sekretärs (secrétaire du roi) und hatte die Idee, sich zum
Historiografen der Académie zu machen. So publizierte er 1653 die Histoire
de l’Académie française depuis son établissement jusqu’en 1652, eine dank
seinem engen Kontakt zu Conrart wohlinformierte und -dokumentierte Geschichte
der Gründungsphase der Institution. Die dankbaren Académiciens reservierten ihm
den nächsten frei werdenden Sessel (den er im Folgejahr bekam) und erteilten
ihm das nie zuvor und niemals danach vergebene Recht, bis dahin schon an ihren
Sitzungen teilzunehmen.
Auch
seine mondänen Aktivitäten nahm Pellisson nach 1652 wieder auf. So zählte er zu
den Getreuen des schöngeistigen Salons der Scudéry, der die Nachfolge des Hôtel
de Rambouillet angetreten hatte. Zweifellos nur platonisch, umschwärmte er die
fleißige Romanautorin, die ihn ihrerseits verschlüsselt auftreten ließ in
Gestalt des „Acante“ in Artamène, ou le grand Cyrus (1649-1653) und des
„Herminius“ in Clélie, histoire romaine (1654-1660).
Aus
dieser Zeit, d.h. den 1650er Jahren, stammen eine Reihe verstreut gedruckter
Gedichte Pellissons im galanten Stil der Salons und andere kleinere Schriften.
Von besonderem Interesse ist heute sein längeres Nachwort zu einer Ausgabe der
Gedichte des früh verstorbenen Jean-François Sarrasin von 1656, wo er eine
Theorie der galanten Poesie entwirft als einer Dichtung in einem zugleich
kultivierten und natürlichen „mittleren“ Stil, wie er den „honnêtes gens“ in
den Salons gemäß sei.
1657
stieß Pellisson zum Literaten- und Künstlerkreis um den mächtigen
Finanzminister und großen Mäzen Nicolas Fouquet und wurde dessen Vertrauter,
als der er z.B. die Sponsorengelder verwaltete und u.a. das Talent von Jean de
La Fontaine (s.u.) erkannte und förderte.
Nachdem
er 1659 nicht hatte verhindern können, dass der Satiriker Gilles Boileau (ein
ältererer Bruder von Nicolas Boileau, s.u.), der seine Freunde Ménage und
Scudéry verhöhnt hatte, in die Académie gewählt wurde, blieb Pellisson deren
Sitzungen fern und erschien erst wieder nach dem frühen Tod Boileaus 1669.
Ebenfalls
1659 (nach Verkauf des Sekretärsamtes und mit Hilfe Fouquets?) erwarb er ein
höheres Amt in der Finanzverwaltung in Montpellier und 1660 das Amt eines
„Staatsrates“ (Conseiller d’État).
Das
Jahr 1661 brachte einen tiefen Einschnitt. Zusammen mit anderen Getreuen geriet
auch Pellisson in den Strudel, der um Fouquet entstand, als dieser unter dem
Vorwurf der Bereicherung im Amt verhaftet und eingekerkert wurde. Denn als er
mutig versuchte, seinen Gönner zu rechtfertigen mittels der Schriften Discours
au roi, par un de ses fidèles sujets sur le procès de M. de Fouquet und Seconde
défense de M. Fouquet, landete er selbst in der Bastille, aus der er erst
1666 freikam.
Hiernach
fand er sichtlich Personen, die sich unter Hinweis auf seine Fähigkeiten als Geschichtsschreiber
für ihn einsetzten, denn 1668 wurde er zum Königlichen Chronisten
(historiographe du Roi) ernannt.
Hiernach
hielt er es 1670 für geraten, zum Katholizismus zu konvertieren und sich wenig
später sogar die (niederen?) Weihen erteilen zu lassen, wonach ihm Louis XIV
einige einträgliche kirchliche Pfründen ohne Präsenzpflicht zuweisen ließ.
Pellisson
bedankte sich mit einem Lobgedicht auf den König (1671), das angeblich in
mehrere Sprachen übertragen wurde. 1676 hielt er im Namen der Académie eine
Lobrede auf ihn, der gerade einige Erfolge im Krieg gegen die Niederlande
erzielt hatte.
Im
selben Jahr übergab er sein Chronistenamt an Jean Racine (s.u.) und Nicolas
Boileau.
In
seinen letzten Lebensjahren beteiligte er sich mit mehreren Schriften an den
religiösen bzw. konfessionellen Kontroversen seiner Zeit.
Von
Voltaire stammt das Diktum, Pellisson sei ein « poète médiocre à la vérité,
mais homme très savant et éloquent » gewesen (ein eigentlich mittelmäßiger
Dichter, aber ein sehr gelehrter und beredter Mann).
(Stand: Jan. 09)
Mme de Sévigné (*5.2.1626 Paris;
†16.4.1696 Grignan/Dép. Drôme).
Sie gilt den Franzosen als ihre
Briefschreiberin par excellence und ist auch den weniger gebildeten als
historische Figur ein Begriff. Als Autorin zählt sie zum Kreis der Klassiker.
Sie wurde geboren als Marie de
Rabutin-Chantal und war einziges überlebendes von drei Kindern eines Offiziers
aus altem, aber etwas verarmtem burgundischen Adel und einer Mutter, die der
reichen neuadeligen Bankiersfamilie de Coulanges entstammte. Mit anderthalb
Jahren verlor sie ihren Vater in einem der religiös bedingten Bürgerkriege der
Zeit und mit sieben auch die Mutter. Sie blieb zunächst im weltoffenen Pariser
Haus der Großeltern Coulanges, wo sie seit ihrer Geburt gelebt hatte. Nachdem
sie aber mit acht ihre Großmutter und mit zehn auch den Großvater verloren
hatte, versuchten ihr Onkel und ihre Tante väterlicherseits sie, die reiche
Erbin, in die Bourgogne zu holen und für ein Leben als Nonne oder als Gattin
eines der Söhne der Tante zu bestimmen. Ihre andere Großmutter, Jeanne
Françoise de Chantal (die später heilig gesprochene Mitgründerin des
Nonnenordens der Visitation), setzte jedoch durch, dass sie in Paris blieb als
Ziehkind in der Familie des ältesten Onkels mütterlicherseits, Philippe de
Coulanges, und seiner Gattin Marie d’Ormesson, die aus dem hohen Pariser
Amtsadel kam. Hier erhielt sie die übliche adelige Mädchenausbildung in
Konversation, Singen, Tanzen und Reiten, lernte aber auch Italienisch, etwas
Latein und Spanisch und konnte sich vor allem eine gute literarische Bildung
aneignen. Früh auch wurde sie eingeführt in den Kreis von Literaten und geistig
interessierten Adeligen um die Marquise de Rambouillet, das Zentrum der
„Preziösen“. Zu ihren eifrigsten Förderern zählte ein weiterer, jüngerer,
Onkel, der Abbé Christophe de Coulanges, der ihr eng verbunden blieb.
Nach einer trotz der Todesfälle um
sie herum eher glücklichen Kindheit und Jugend im Kreis der vielköpfigen
Coulanges-Sippe, ließ sie sich 1644, 18jährig und versehen mit der stattlichen
Mitgift von 300.000 Francs, verheiraten, und zwar mit dem 21jährigen, aus altem
bretonischen Adel stammenden Marquis Henri de Sévigné, einem Gefolgsmann des
mächtigen Familien-Clans der Gondis. Diese stellten denn auch mit dem
Erzbischof von Paris sowie dessen Koadjutor und designierten Nachfolger Paul de
Gondi alias de Retz (s.o.) zwei der Zeugen des Ehevertrags.
Das junge Paar blieb zunächst in
Paris und lebte dort auf großem Fuß. 1646 bekam es sein erstes Kind, Françoise
Marguerite. Wenig später ging es in die Bretagne, wo Henri dank der Mitgift
seiner Frau das Amt eines Gouverneurs gekauft hatte. Auf dem Familienschloss
der Sévignés, Les Rochers bei Vitré, kam 1648 Sohn Charles zur Welt.
Nach
der Geburt des Stammhalters erklärte Mme de Sévigné ihre ehelichen Pflichten
für erfüllt und überließ ihren Mann seinen wechselnden Geliebten. Sie selbst
ließ sich, sicher nur platonisch, von diversen Provinzadeligen und
Schöngeistern anhimmeln und verfasste in diesem Rahmen Briefe und offenbar auch
Verse.
1651
wurde ihr Mann in Paris bei einem Duell (es ging um die Ehre einer Geliebten)
tödlich verletzt. Bei ihrem nachfolgenden längeren Aufenthalt in der Hauptstadt
fand die junge Witwe Aufnahme bei Retz, der, soeben zum Kardinal erhoben, zu
den Chefs des kurzzeitig erfolgreichen Adelsaufstandes der „Fronde“ (1648-52)
gegen den Minister Kardinal Mazarin gehörte. Ihre Nähe zu Retz wurde jedoch
schon bald zur Belastung, denn als dieser nach dem Sieg Mazarins 1652 zum
Rädelsführer erklärt und festgenommen wurde, zählte sie zur Partei der
Verlierer, ähnlich wie eine junge neue Freundin, die spätere Madame de La
Fayette (s.u.), die darunter zu leiden hatte, dass ihr Stiefvater René de
Sévigné (ein Onkel Henris) mit Verbannung bestraft word war.
Sie
verzog sich in die Bretagne,
kehrte aber schon 1653 zurück nach Paris, nunmehr für
ständig. An eine neue Ehe dachte sie nicht, vielmehr genoss sie ihre relative
Freiheit als vermögende Witwe. Ansehnlich und geistreich, wie sie war, scharte
sie rasch einen Kreis z.T. hochgestellter Verehrer um sich, hielt sie aber klug
auf Distanz. Vor allem erlangte sie als anregende Konversationspartnerin
Wertschätzung in Salons und geistig interessierten Kreisen, z.B. dem um den
Finanzminister und großen Mäzen Nicolas Fouquet, der sie umwarb und bei dem sie
u.a. den Fabel-Dichter La Fontaine (s.o.) kennenlernte. Auch andere Literaten
schwärmten sie an, z.B. der hochgeachtete Gilles Ménage (s.o.), den sie schon
vom Hôtel de Rambouillet her kannte, oder Madeleine de Scudéry (s.o), in deren
Salon sie verkehrte und die sie in ihrem Erfolgsroman Clélie (1657) sehr
schmeichelhaft porträtierte. Eine wichtige Bezugsperson in diesen Jahren war
ein etwas älterer Cousin, der Militär, Höfling und Literat Roger Bussy-Rabutin
(1618-1693). Er wäre gern wohl auch ihr Geliebter geworden, brach jedoch 1658
für einige Zeit mit ihr, als sie sich weigerte, ihm eine größere Geldsumme zu
leihen. Unbekannt ist, ob sie gelegentlich auch am Hof auftrat, was aufgrund
ihres gesellschaftlichen Ranges und ihrer hochgestellten Freunde ohne Weiteres
möglich gewesen wäre. Ihre Mutterpflichten scheint sie eher nebenher erfüllt zu
haben. Die Verwaltung ihrer Finanzen überließ sie ihrem Onkel Christophe de
Coulanges, der inzwischen zum Abt des Klosters Livry bei Paris avanciert war,
wo sie ihn häufig mit ihren Kindern besuchte.
Schon in diesen Jahren
korrespondierte sie mit zahlreichen Personen, und früh genoß sie einen gewissen
Ruf als Verfasserin interessanter und unterhaltsamer Briefe, die oft herumgezeigt,
ganz oder auszugsweise vorgelesen sowie häufig abgeschrieben wurden.
Ein ihrer Briefpartner war auch
Fouquet, weshalb sie kurz neue Schwierigkeiten befürchtete, als er im Herbst
1661 wegen Bereicherung im Amt verhaftet und angeklagt wurde. In der Tat wurden
ihre Briefe an ihn dem jungen König Louis XIV vorgelegt. Doch der war angetan
von ihnen, und statt die Schreiberin als eine von Fouquets Getreuen zu ächten,
öffnete er ihr 1662 den Hof. Ihre Tochter Françoise durfte sogar mehrfach in
Ballettaufführungen mit ihm tanzen, und beide Damen gehörten im Mai 1664 zu den
Gästen des prächtigen Festes, mit dem der Park von Versailles eingeweiht wurde.
In der Folgezeit jedoch lockerte sich die Verbindung Mme de Sévignés zu Louis,
zunächst vielleicht, weil sie dessen Annäherungsversuche an Françoise blockiert
hatte. Später bewirkten sicher auch ihre Kontakte mit ehemaligen Frondeuren
(wie dem Duc de la Rochefoucauld, s.o.) und anderen regimekritischen, z.B.
jansenistisch orientierten Adelskreisen eine gewisse Distanz zu dem zunehmend
autoritären Monarchen. Dies hieß nicht, dass sie sich ihm und dem Hof gänzlich
entfremdete, und 1689 war sie geschmeichelt, als Louis sie, wie sie in einem
Brief stolz berichtet, nach einer Theateraufführung ansprach und um ihre Meinung
fragte.
Die Briefe von Mme de Sévigné aus
den 40er bis 60er Jahren sind überwiegend verloren. Eine Ausnahme bildet
insbes. eine Briefserie von Ende 1664, worin sie einen in die Provinz
verbannten anderen Getreuen Fouquets über dessen Prozess auf dem Laufenden
hielt mittels der Informationen, die sie von einem der Richter bekam, Olivier
d’Ormesson, einem Bruder ihrer Ziehmutter, den sie vielleicht sogar im Sinne
einer Abmilderung des zunächst anvisierten Todesurteils beeinflussen konnte.
Eine tiefgreifende Wende in ihrer
Rolle als Briefschreiberin brachte schließlich der Umstand, dass Tochter
Françoise, die 1669 den schon zweimal verwitweten Comte François de Grignan
geheiratet hatte, Anfang 1671 mit ihm in die Provence entschwand, wo er die
Amtsgeschäfte des Gouverneurs übernahm. Hiernach nämlich begann Mme de Sévigné,
neben ihren gelegentlichen Schreiben an sonstige Adressaten, regelmäßig zwei
oder drei Briefe pro Woche an Françoise zu verfassen (ausgenommen natürlich die
Zeiten, in denen man sich gegenseitig besuchte, entweder in Aix oder auf
Schloss Grignan bei Montélimar bzw. umgekehrt in Paris, wo Mme de Sévigné, um
ein einladendes Ambiente bieten zu können, 1677 das Hôtel de Carnavalet
gemietet hatte, das heutige Paris-Museum).
Es
ist das Korpus dieser Briefe an die Tochter, das mit 764 Stück wohl fast
komplett erhalten ist, das das Bild der Autorin letztlich bestimmt hat, nämlich
als Prototyp der liebenden Mutter und treusorgenden Großmutter. In diesen als
ganz private Mitteilungen gedachten Texten versichert sie die Tochter immer
wieder ihrer fast abgöttischen Liebe und wirbt um die Gegenliebe der ihrerseits
etwas Spröden. Eher als Zutat, um nicht gar zu sehr in sie zu dringen und sie
bei Laune zu halten, schildert sie effektvoll und lebendig, ungeschminkt und
manchmal auch drastisch, oft mit einem Körnchen Selbstironie sowie Witz und
Humor sowohl ihre wechselnden Befindlichkeiten und Erlebnisse, aber auch das,
was sich in Paris oder anderswo, z.B. auf Schloss Les Rochers, auf Reisen und
bei Kuraufenthalten, um sie herum tat und was als Reflex der großen Politik
oder auch als Klatsch aus dem gemeinsamen adeligen Bekanntenkreis und vom Hof
an ihre Ohren gelangte.
Im
Laufe der Jahre entwickelte Mme de Sévigné ihre Briefkunst zu einer
literarischen Gattung sui generis, deren Stil sie im Sinne des Anscheins
größtmöglicher Leichtigkeit, Natürlichkeit und Spontaneität kunstvoll variierte
und, zumal beim Schreiben an andere Adressaten, gelegentlich auch reflektierte.
Trotz des keineswegs unbeträchtlichen Aufwandes an Zeit und Überlegung, den sie
in die Briefe investierte, dachte sie selbst anscheinend nie daran, eine von
ihr besorgte oder auch nur lizensierte Sammlung drucken zu lassen, was sich
auch daran zeigt, dass sie keine Kopien anfertigte.
Der erste Abdruck von Briefen von ihr
erfolgte denn auch erst nach ihrem Tod, und zwar im Rahmen von ebenfalls postum
publizierten Werken von Cousin Bussy-Rabutin, nämlich seinen Memoiren (1696)
sowie seiner Korrespondenz mit ihr (1697). Hierbei hielten Bussy selbst bzw.
die Herausgeber, sein Sohn und seine Tochter, es für angebracht, die insgesamt
115 Briefe Mme de Sévignés zu kürzen und im Sinne eines konventionelleren,
literarischer wirkenden Stils zu bearbeiten.
Dieselbe Kürzung, Glättung und Dämpfung
meinten auch die Herausgeber der ersten Einzelausgaben vornehmen zu müssen, die
übrigens auf der Basis von Abschriften erschienen. Es waren 1725 ein nicht sehr
umfangreiches Bändchen mit historisch interessanten Briefen bzw. Briefauszügen
und 1726 ein zweibändiger Raubdruck mit 137 Briefen an die Tochter, die von
einer Enkelin aus dem Nachlass ihrer Mutter ausgewählt und zwecks Publikation
an Bussy junior geschickt worden, jedoch in fremde Hände gefallen waren, als
jener plötzlich starb.
1734 gab deshalb dieselbe Enkelin eine
quasi offizielle Publikation aller ihr vorliegenden Briefe ihrer Großmutter in
Auftrag. Hierbei stimmte sie mit dem Herausgeber, Denis-Marius Perrin, darin
überein, dass allzu privat erscheinende Passagen getilgt werden sollten (womit
wohl ungefähr ein Drittel der Textmenge fortfiel) und dass die Texte moralisch
zu reinigen und stilistisch zu glätten seien. Die Originale sowie auch die bis
dahin noch erhaltenen Antwortbriefe ihrer Mutter vernichtete sie. Die sechsbändige
Sammlung, deren letzte beiden Bände 1737 kurz nach ihrem Tod erschienen,
umfasste 614 Briefe. 1754 brachte Perrin eine vermehrte Neuauflage mit 722
Briefen heraus.
Spätere Editionen wurden, wie schon die
von 1754, dadurch erweitert, dass man, nachdem Mme de Sévigné berühmt geworden
war, systematisch in adeligen Nachlässen und Familienarchiven recherchierte.
Hierbei fand man nicht nur an die 250 bis dahin unbekannte Briefe (darunter die
o.g. Serie von Ende 1664), sondern man stieß immer wieder auch auf Abschriften
oder Teilabschriften, deren Text dem jeweiligen Originaltext offenkundig näher
war als schon im Druck erschienene Versionen derselben Briefe. Insgesamt
beläuft sich die Zahl der erhaltenen Briefe auf rd. 1120, wobei nur ca. 5% als
Autographen vorliegen. Der allergrößte Teil der an andere Adressaten als die
Tochter gerichteten Briefe muss als verloren gelten, darunter ca. 600 Briefe,
von denen man durch indirekte Informationen weiß.
Insgesamt sind von 1725 bis heute
mehrere hundert Ausgaben Sévignéscher Briefe erschienen. Neben den als kritisch
intendierten Gesamtausgaben von 1862-67 und 1972-78 handelt es sich um
Auswahl-Editionen, deren Texte nach unterschiedlichen Kriterien in dieser oder
jener Hinsicht bearbeitet, d.h. für ein bestimmtes Publikum, z.B. Jugendliche,
aufbereitet sind.
Für
historisch interessierte Leser sind die Briefe eine unschätzbare
Informationsquelle über Personen aus dem Umfeld der Autorin sowie über den
Alltag und die Vorstellungswelt des franz. Hochadels unter Louis XIV.
(Stand: Febr. 09)
Jacques Bénigne Bossuet (*27.9.1627
Dijon; †12.4.1704 Paris).
In Deutschland auch als Name kaum
bekannt, gilt er in Frankreich als der Größte unter den franz. Kanzelrednern
und zählt in der Literaturgeschichte zum Kernbestand der Klassiker.
Bossuet wuchs auf in einer bürgerlichen
Richter-Familie, ließ sich aber früh für die Priesterlaufbahn bestimmen und
erhielt mit neun die Tonsur. Seine Schulbildung erwarb er zunächst im
Jesuiten-Kolleg von Dijon, dann im Collège de Navarre in Paris. Als Theologiestudent
in Paris verkehrte er in einigen mondänen Salons und glänzte dort mit seiner
Beredsamkeit (z.B. in einer zu vorgerückter Stunde improvisierten Predigt).
Nach der Priesterweihe und dem Doktorat 1652 erhielt er eine Pfründe als
Domherr im 1633 von Frankreich annektierten Metz, wo sein Vater ein Richteramt
am neu gegründeten Parlement erhalten hatte. Hier tat er sich als
Protestanten-Bekehrer hervor und publizierte 1655 seine erste Schrift: die
gegen einen protestantischen Pfarrer, P. Ferri, gerichtete Réfutation
[Widerlegung] du catéchisme de Paul Ferri. Daneben hielt er sich häufig in
Paris auf und war dort Schüler des großen Predigers Saint Vincent de Paul
(1576-1660).
Ab 1660 lebte er ganz in Paris und
machte sich rasch einen Namen als Kanzelredner und Panegyriker (=Lobredner).
1662 durfte er im Louvre die Fastenpredigt halten vor Louis XIV und dem Hof.
Hiernach war er in Mode, obwohl er sich nicht scheute, gelegentlich den jungen
König zu mehr Sittenstrenge zu ermahnen oder die Reichen an ihre
Fürsorgepflicht gegenüber den Armen zu erinnern. Immer öfter wurde er auch
gebeten, bei der Totenmesse für hochstehende Verstorbene eine
Trauerrede zu halten, z.B. 1667 für Anne d'Autriche, die fromme
Königin-Mutter, oder 1670 für Henriette d'Angleterre, die jung verstorbene
Schwägerin von Louis XIV.
1669 wurde er zum Bischof der kleinen
Diözese Condom in SW-Frankreich ernannt, die er aber von einem Stellvertreter
verwalten lassen konnte. 1671 wurde er Mitglied der Académie Française, vor
allem in seiner Eigenschaft als brillanter Redner.
Kurz zuvor (1670) war er zum Hauslehrer
(précepteur) des Kronprinzen (Dauphin) Louis berufen worden (der aber 1711 vor
seinem Vater Louis XIV starb, d.h. nicht auf den Thron kam). Für seinen
königlichen Zögling, der als nicht eben bildungshungrig galt, verfasste er im
Lauf seiner insgesamt 10 Präzeptor-Jahre eine Reihe von Traktaten: eine Exposition de la doctrine catholique,
dann La Politique tirée des propres
paroles de l'Écriture Sainte, d.h. ein Lehrbuch der Praxis des Königseins
gemäß den Hinweisen, die Bossuet aus der Bibel entnehmen zu sollen glaubte;
weiter den philosophisch-theologischen Traité
de la connaissance de Dieu et de
soi-même und vor allem den Discours
sur l'histoire universelle (1681),
eine kurzgefasste Geschichte der Welt, in der er als lenkende Kraft nicht so
sehr materielle Ursachen und Wirkungen erkennt, als vielmehr den Willen Gottes
zur Ausbreitung des Christentums. Der Discours ist einer der letzten
Versuche, die Geschichte im christlichen Sinne teleologisch, d.h. auf ein
höheres Ziel hin ausgerichtet, zu erklären.
1681, nach der Heirat seines Zöglings,
wurde Bossuet zum Bischof von Meaux nahe Paris befördert. Obwohl er sein Amt
vor Ort sehr ernst nahm, war er weiterhin oft in Paris und Versailles, beschäftigt
u.a. mit Predigten und Trauerreden, z.B. 1687 beim Tod des zum Königshaus
gehörenden Prince de Condé. 1689, nachdem er seine Rolle als Redner (vielleicht
auch aus stimmlichen Gründen) für beendet erklärt hatte, erschien erstmals eine
Auswahl seiner Reden im Druck. Sie prägte sein Bild in der Literaturgeschichte.
Bossuet war aber auch, dank seiner
langen Nähe zum König und seiner intimen Kenntnis der Machtverhältnisse am Hof,
sehr aktiv in der Politik im engeren und weiteren Sinne, wobei er direkt
handelnd sowie mittels zahlreicher Schriften indirekt einzuwirken versuchte.
Als Mitglied des Grand conseil de l'Église de France wuchs er zunehmend in die
Rolle eines Primus der franz. Bischöfe hinein und wurde bekannt als streitbarer
„aigle de Meaux“. Als dieser half er 1682 die Rechte Roms in Frankreich im
Sinne nationaler Interessen einzuschränken, weshalb er auch den
Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes ablehnte. Zugleich bekämpfte er an allen
Fronten den Protestantismus, z.B. mit einer Histoire des variations des
Églises protestantes (1688), worin er die notorisch divergenten und
wechselnden Lehrmeinungen der protestantischen Kirchen und Sekten zu entkräften
und gegen einander auszuspielen versucht, um die Einheitlichkeit der
katholischen Lehre herauszustellen. 1685 war er nicht unbeteiligt daran, dass
Louis XIV das Toleranzedikt von Nantes aufhob, mit dem sein Großvater Henri IV
1598 den Protestanten Religionsfreiheit und Bürgerrechte zugestanden hatte.
1687 stellte Bossuet sich in der Querelle des Anciens et des Modernes, einem
von Charles Perrault (s.u.) ausgelösten, auch kulturpolitisch motivierten
Literatenstreit auf die Seite der Traditionalisten unter Boileau (s.u.).
Daneben zog er gegen den Jansenismus zu Felde und bekämpfte vor allem den mystisch
frommen Quietismus, der um 1690 von Mme Guyon in Mode gebracht wurde und der im
kriegsgeschüttelten, verarmenden und entsprechend evasionsbedürftigen
Frankreich rasch Verbreitung und aktive Sympathisanten fand. Unter dem Vorwurf,
er stütze den Quietismus, attackierte er auch einen anderen Bischof,
Kronprinzen-Präzeptor und Autor, den er sichtlich als Rivalen empfand: Fénelon
(s.u.).
1694 rügte er mit seinen Maximes et réflexions sur la comédie das
angeblich die Sitten und die Seelen korrumpierende Theater und trug damit sein
Teil bei zur relativen Erstarrung des geistigen Lebens in Frankreich unter dem
alternden Louis XIV.
In seinen letzten Jahren musste er
allerdings erleben, dass zahlreiche der von ihm bekämpften Strömungen stärker
waren als er und weiterbestanden oder gar sich durchzusetzen begannen.
(Stand: Okt. 09)
Charles Perrault (* 21.1.1628 Paris; † 16.5.1703 ebd.).
Dieser sehr vielseitige und fruchtbare
Autor ist heute praktisch nur dank seiner Märchen bekannt.
Perrault wuchs auf als jüngster von vier
Brüdern in einer wohlhabenden Pariser Familie von Juristen und hohen Beamten,
wo man, wie so häufig in diesem Milieu, dem frommen und rigiden Jansenismus
nahestand. Er trieb Jurastudien und wurde 1651 als Anwalt zugelassen. Schon
vorher hatte er begonnen zu schreiben, und zwar im gerade modischen Genre der
Burleske. So hatte er 1648 eine Parodie von Vergils Æneis (L'Énéide burlesque)
verfasst und 1649 die ebenfalls parodistische Vers-Satire Les murs de Troie ou L'Origine du burlesque, in der er sich über
das aufständische Pariser Volk mokiert, mit dessen Revolte der Fronde-Aufstand
1648 begann, aber auch den Kardinal-Minister Mazarin nicht schont, der zunächst
unterlag und abtreten musste. Schon in diesen Texten zeigt sich eine gewisse
Respektlosigkeit gegenüber der Antike.
1653, der Aufstand war beendet und
Mazarin war wieder an der Macht, trat Perrault in die Dienste seines ältesten
Bruders, der einen hohen Posten in der Finanzverwaltung der Krone bekleidete.
Von ihm wurde er am Hof eingeführt. Dort und vor allem in Pariser Salons
brillierte er als guter Unterhalter und vielseitiger Literat.
Hierbei fiel er dem älteren
Literatenkollegen Jean Chapelain (s.o.) positiv auf und wurde von ihm dem neuen
Minister Colbert empfohlen, der seit dem Tod Mazarins (1657) und dem Sturz des
Finanzministers Fouquet (1661) als rechte Hand des jungen Louis XIV fungierte.
Dank Colbert wurde Perault 1662 zum Sekretär der sog. Petite Académie ernannt,
einer Art Prüfinstanz für alle Kunst- und Literaturwerke, die dem König zum
Kauf angeboten wurden oder ihm gewidmet werden sollten. Wenig später wurde er
so etwas wie ein oberster Kulturbeamter. Als solcher wachte er z.B. über die
künstlerische Qualität der königlichen Bauvorhaben und war damit maßgeblich an
Umbauten des Louvre sowie an der Planung und Erbauung des Versailler Schlosses
beteiligt. Gegen 1670 übernahm er von Chapelain die Führung der Liste von
Literaten, die Colbert und König Louis genehm waren und einer „Pension“ (jährl.
Gratifikation) aus der königlichen Schatulle würdig schienen. 1671 wurde er mit
Nachhilfe Colberts in die Académie Française gewählt und kurz darauf zu deren
Sekretär bestellt.
Wenig später (1672) heiratete er, wurde
rasch vierfacher Vater, aber bald auch (1678) Witwer.
Mit dem Tod Colberts 1683 verlor er
seine Funktionen im Staatsdienst und wendete sich wieder mehr der
Schriftstellerei zu. So verfasste er ein christliches Vers-Epos (Saint Paulin, évêque de Nole, 1686).
1687 verlas er in
der Académie seinen Vers-Traktat Le
Siècle de Louis le Grand. Hierin
postulierte er, nicht ohne auf den Beifall des Königs zu schielen, die
Überlegenheit der eigenen Epoche über die klassische Antike, die bis dahin
rundherum als vorbildhaft und als kaum zu übertreffen galt. Er löste hiermit
unerwartet die heftige „Querelle des Anciens et des Modernes“ aus, den wohl
berühmtesten Literatenstreit der an querelles
so reichen franz. Literaturgeschichte. Interessanterweise waren fast alle
großen Autoren seiner Generation (z.B. La Fontaine, Bossuet, Racine und vor
allem Boileau) zunächst vehement gegen die These, dass die Neuzeit sich in den
Künsten und der Wissenschaft mit der Antike nicht nur messen könne, sondern
diese inzwischen überflügelt habe.
Perrault warb deshalb weiter für seine
Position mittels der Dialogserie Parallèles
des Anciens et des Modernes (4 Bde., 1688-97) sowie mit einer Serie von
Porträts bedeutender Zeitgenossen (Les
hommes illustres qui ont paru en France pendant ce siècle, 4 Bde.
1696-1700). Allerdings arbeitete auch die Zeit in seinem Sinne: gegen 1700 war
die Vorstellung von der Gleichwertigkeit, wenn nicht Überlegenheit der Moderne
praktisch Allgemeingut geworden. Schon 1694 war sie vorsichtig auch von Boileau
akzeptiert worden, der sich demonstrativ mit Perrault versöhnte.
1694 veröffentlichte dieser die drei
märchenartigen Vers-Erzählungen La
Patience de Grisélidis, Peau d'Âne
und Les souhaits ridicules, die gut
einschlugen und die er 1695 mit einem längeren Vorwort neu auflegte. Nach
diesem Erfolg publizierte er 1697 anonym, bzw. unter dem Namen seines
19jährigen dritten Sohnes Pierre, den er die vorangestellte Widmung an eine
hochstehende Dame zeichnen ließ, die Märchensammlung Histoires ou contes du temps passé. Contes de ma mère l'oie (=Geschichten oder Erzählungen der Vergangenheit.
Erzählungen meiner Mutter Gans). Es sind 8 Märchen teils volkstümlichen, teils
literarischen Ursprungs, die Perrault in kunstvoll-schlichter, leicht
archiisierender Prosa erzählt und jeweils am Schluss mit einer ironischen Moral
(manchmal auch zwei divergierenden) in Versen witzig kommentiert. Seine immer
wieder nachgedruckte Sammlung bedeutete den Durchbruch einer anschließend sehr
erfolgreichen Gattung, der contes de fées,
d.h. Märchen.
Vielleicht hatte Perrault die Märchen deshalb
nicht mit eigenem Namen zeichnen wollen, weil er im selben Jahr 97 erneut ein
religiöses Epos publizierte, Adam ou La
Création de l'homme.
1701 begann er mit der Abfassung von
Memoiren, die aber erst postum (1755) gedruckt wurden.
Sechs seiner Märchen figurieren
übrigens (ohne ironisch-witzige Moral natürlich und auch sonst leicht oder
stärker verändert) in den vermeintlich so typisch deutschen Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder
Grimm. Es sind La Belle au bois dormant
als Dornröschen, Le petit Chaperon
rouge als Rotkäppchen, Le Chat
botté als Der Gestiefelte Kater, Les
fées als Frau Holle, Cendrillon
als Aschenputtel und Le petit
poucet als Der Kleine Däumling. Ein siebtes, La Barbe bleue, ist dank Ludwig Bechstein als König Blaubart in
Deutschland bekannt; das achte, Riquet à
la houppe (= R. mit dem Wuschelhaar), ist bei uns nicht heimisch geworden –
vielleicht bezeichnenderweise, denn die Vorstellung, dass ein hässlicher junger
Mann und eine unscheinbare junge Frau dennoch, dank ihrer Fähigkeit zum
geistreichen Parlieren, Anerkennung finden können, wirkt hierzulande eher
fremd.
(Stand: Nov. 09)
Marie-Madeleine, comtesse de La Fayette (* 18.3.1634 in
Paris; † 26.5.1693 ebd.).
Diese in den Literaturgeschichten
schlicht „Mme de La Fayette“ genannte Autorin ist Verfasserin des wohl besten
franz. Romans des 17. Jh.
Ihr Vater, der aus dem Amtsadel
stammende Marc Pioche, Seigneur de La Vergne, war Offizier und Ingenieur für
Festungsbau gewesen, 1622 aber aufgrund seiner Bildung und seiner vielseitigen
Interessen Erzieher eines Neffen von Père Joseph geworden, der rechten Hand von
Kardinal Richelieu. 1630 war er von diesem selbst als Erzieher eines Neffen
eingestellt worden. Er war schon kinderlos verwitwet, als er im Palais des
Kardinals seine zweite Frau kennenlernte, die aus ähnlichen Verhältnissen wie
er stammende Isabelle Péna, mit der er rasch drei Töchter bekam.
ObwohI ihr Vater in den 1640er Jahren
erfolgreich seine Offizierskarriere weiterführte und häufig abwesend war,
lernte Marie-Madeleine, die älteste, in seinem neuerbauten Pariser Haus früh
zahlreiche Intellektuelle kennen. Über ihn auch gelangte sie schon als junges
Mädchen in die schöngeistigen „preziösen“ Salons der Marquise de Rambouillet
und, etwas später, der Romanautorin Mlle de Scudéry (s.o.). Hierbei blieb ihr
wacher Intellekt und ihr Talent, Beziehungen zu knüpfen, nicht unbemerkt.
Inbes. fiel sie dem älteren Literaten Gilles Ménage auf (s.o.), der sie
umschwärmte und bedichtete, ihr Latein und ihr Italienisch verbesserte und sie
mit den neuesten Büchern versorgte.
1649 starb ihr Vater. Ihre Mutter
heiratete schon 1650 wieder, und zwar einen aus altem Adel stammenden Chevalier
de Sévigné, den die sechzehnjährige Marie-Madeleine zunächst für ihren eigenen
Zukünftigen gehalten hatte. Über ihn lernte sie seine 25jährige angeheiratete
Nichte näher kennen, die Marquise de Sévigné (s.o.) - eine Freundschaft, die stets von einer gewissen Rivalität geprägt
blieb.
Während sie selbst dank ihrer
hochadeligen Taufpatin, einer Nichte Richelieus, zur Ehrenjungfer (demoiselle
d'honneur) der Königin befördert wurde und so gelegentlich am Hof auftrat,
machte ihr Stiefvater, ein Parteigänger des Kardinals de Retz (s.o.) ihr
elterliches Haus zu einem Treffpunkt der oppositionellen „Frondeure“, die seit
1648 einen z.T. bewaffneten Widerstand betrieben gegen die Versuche von
Kardinal-Minister Mazarin, Frankreich weiter zu zentralisieren und den Adel
weiter zu entmachten.
1652, nach der Niederlage der Fronde,
wurde Sévigné ins Anjou verbannt. Dies war ein Schicksalsschlag für die
18jährige Marie-Madeleine, für die als Stieftochter eines Verbannten nun kaum
eine gute Partie zu finden war. Drei Jahre später (1655) ließ sie sich deshalb
von einer aus altem Adel stammenden Pariser Nonne, von der sie geschätzt wurde,
an deren Bruder vermitteln, den 18 Jahre älteren, verwitweten und
hochverschuldeten Comte de La Fayette. Ihre Heirat - immerhin in den
Grafenstand – war nicht billig: die erforderliche Mitgift war nur dadurch
aufzubringen, dass ihre energische Mutter die beiden jüngeren Schwestern für
den kostengünstigeren Eintritt ins Kloster bestimmte.
Nach der Hochzeit folgte sie ihrem Mann
auf seine Güter in der Provinz. Da dort eine erste Schwangerschaft mit einer
Fehlgeburt geendet hatte, reiste sie gegen Ende der nächsten nach Paris. Hier
brachte sie 1658 ihr erstes Kind zur Welt, einen Sohn. Ihm folgte 1659 ein
weiterer, ebenfalls in Paris, wo sie nun überwiegend wieder lebte, und zwar im
elterlichen Haus, das sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter (1656) geerbt hatte.
Während ihr Mann die Güter der Familie
profitabel zu bewirtschaften versuchte, hatte Mme de La Fayette gleich nach der
Heirat den juristischen Kampf gegen seine Gläubiger übernommen, den sie mit
Energie und zunehmender Kompetenz führte. Hierbei hatte sie zunächst ihren
alten Verehrer Ménage als ihren Beauftragten eingesetzt, den sie brieflich
instruierte. Ab 1658/59 kämpfte sie selber vor Ort in Paris, wo sie geschickt
die ihr von früher verbliebenen Beziehungen reaktivierte und neue knüpfte.
Insbes. pflegte sie ihre Bekanntschaft mit Henriette d'Angleterre, der im
Kloster ihrer Schwägerin aufgewachsenen Tochter des 1649 geköpften englischen
Königs Charles I, die den Bruder von Louis XIV heiratete. Über Mme de Sévigné
versuchte sie auch den mächtigen Finanzminister Fouquet für ihre Sache zu
interessieren.
Mehr nebenbei debütierte sie 1659 als
Autorin mit einem Porträt Mme de Sévignés für einen Sammelband, den zwei etwas
ältere Literaten, Pierre Daniel Huet und Jean Regnault de Segrais
vorbereiteten. Vielleicht angeregt von ihnen, sicher aber mit der Unterstützung
von Ménage schrieb sie 1661 eine historische Novelle, La Princesse de Montpensier,
die sie 1662 anonym erscheinen ließ, denn eigentlich hielt sie das
Schriftstellern für unter der Würde der Gräfin, die sie ja war. Wohl aus
derselben Zeit stammt eine zweite historische Novelle, La Comtesse de Tende, die aber erst postum 1724 erschien. Beide
behandeln das Thema der großen, aber problematischen und letztlich
unglücklichen außerehelichen Liebe einer Frau, die in einer Konventionalehe
verheiratetet ist – ein Thema, das Mme de La Fayette auch weiter interessieren
sollte.
Hiernach ließ sie die Feder ruhen,
schloss mit Erfolg ihre juristischen Demarchen ab (wonach sie, auf den
Geschmack gekommen, gelegentlich Freunde bei deren Prozessen beriet) und genoss
das prickelnde gesellschaftliche und geistige Leben, das Paris in den 1660er
Jahren bot. Denn es war eine Zeit des Aufbruchs unter dem jungen Louis XIV und
seinem neuen Minister Colbert, der Theatererfolge z.B. Molières und des jungen
Racine, aber auch der heftigen ideologischen Querelen zwischen „Molinisten“
(Parteigängern der Jesuiten) und Jansenisten.
Von Henriette 1661 zu ihrer Ehrendame
(dame d'honneur) ernannt und wohlgelitten auch beim König selbst, hatte Mme de
La Fayette ab 1661 Zutritt zum Hof. Zugleich verkehrte jedoch sie in Kreisen
der fundamental-oppositionellen, streng-religiösen Jansenisten. Hier lernte sie
1662 den 21 Jahre älteren schriftstellernden Duc de La Rochefoucauld kennen
(s.o.), der ihre spontane Sympathie nur zögernd erwiderte, dann aber ihr
engster Freund wurde – zweifellos ohne ihr Liebhaber zu sein.
1668/69 verfasste sie, unterstützt von
Segrais, Huet und La Rochefoucauld, einen erneut um die Probleme der Liebe
kreisenden, im Spanien des 9. Jh. angesiedelten Roman, Zaïde, dessen 2 Bde 1670/71 unter dem Namen von Segrais erschienen.
Literarhistorisch bedeutsam wurde Zaïde auch dank eines Traité de
l'origine des romans, den Huet als Vorspann beisteuerte und der als eine
der ersten Theorien des Romans gilt.
1669 begann sie im Auftrag Henriettes
eine Histoire de Madame, die
allerdings, da Henriette 1670 mit 26 starb, unvollendet blieb und erst postum
1720 als Histoire d'Henriette
d'Angleterre gedruckt wurde.
Ab 1672 schrieb Mme de Lafayette, wie
gewohnt mit Unterstützung, diesmal von Segrais und La Rochefoucauld, an ihrem
rückblickend wichtigsten Werk, dem eher kurzen historischen Roman La Princesse de Clèves (=die Fürstin von
Kleve), der anonym 1678 erschien. Die Handlung spielt gegen 1560 am Hof von
Henri II (dessen Beschreibung sich am Hof von Louis XIV orientiert) und sie
dreht sich um die große Liebe der jungverheirateten Princesse zu dem Duc de
Nemours, der sie ebenfalls liebt, den sie aber aus Sittenstrenge und aus Treue
zu ihrem Gatten (der trotzdem eifersüchtig und todkrank wird, als sie ihm ihre
Liebe beichtet) nicht erhört und den sie auch dann nicht heiratet, als sie dies
nach ihrer Verwitwung eigentlich könnte, wobei sie ihm als Grund nennt, dass
sie ihn liebe und nicht durch seine mutmaßliche spätere Untreue enttäuscht
werden möchte, dass sie vor allem aber ihren inzwischen gefundenen
Seelenfrieden nicht gefährden wolle.
Der psychologisch einfühlsame und (bis
auf Anfang und Ende) spannende Roman war sofort ein großer Erfolg und löste
heftige Diskussionen aus, vor allem darüber, ob eine Frau gut tut, dem Ehemann
eine Liebschaft zu beichten. Heute gilt er als einer der besten franz. Romane
überhaupt, auch wenn der jansenistisch kompromisslose Schluss, wonach der
Mensch eher auf irdisches Glück als auf sein Seelenheil verzichten soll,
modernen Lesern wenig akzeptabel erscheint.
Der Tod des schon länger stark
gichtkranken La Rochefoucauld 1680 bedeutete einen tiefen Einschnitt für Mme de
La Fayette, zumal sie selbst seit langem kränkelte. Sie führte jedoch, da sie
1656 durch das Erbe ihrer Mutter, 1676 das ihres Stiefvaters und 1683 auch das
ihres Mannes wohlhabend geworden war, ein für Standesgenossen und
Intellektuelle offenes Haus. Auch verkehrte sie weiterhin am Hof, wo sie immer
noch die Gunst des Königs besaß. Daneben kümmerte sie sich um die Zukunft ihrer
Söhne, indem sie dem älteren, der Mönch geworden war, mehrere Abt-Posten (die
man kumulieren konnte) verschaffte und dem jüngeren, der Offizier geworden war,
zu einem Regiment verhalf sowie zu einer vorzüglichen Partie.
Gegen 1680 aktivierte sie als Vertraute
des Ministers Louvois ihre Korrespondenz mit der Mutter des jugendlichen
Herzogs von Savoyen-Piemont, die sie einst im Kloster ihrer Schwägerin kennen
gelernt hatte und die seit 1675 als Regentin die Regierungsgeschäfte in Turin
führte. Hierbei diente sie einerseits privaten Belangen der Herzogin in Paris,
vor allem aber den außenpolitischen Interessen Frankreichs, das das damals
politisch selbständige Savoyen-Piemont zu einem Satellitenstaat zu machen, wenn
nicht gar zu annektieren hoffte.
Das letzte Werk Mme de La Fayettes
wurden die nur fragmentarisch erhaltenen, 1720 postum gedruckten Mémoires de la cour de France pour les
années 1688 et 1689, in denen sie nicht nur das Hofleben beschreibt,
sondern auch mit scharfem Blick politische und militärische Probleme
analysiert. Hiernach zog sie sich vom Hof zurück, zumal sie 1690 auch ihre
diplomatische Mission als gescheitert betrachten musste, weil der in Turin nun
selbst regierende junge Herzog dem Bündnis gegen Frankreich beitrat.
Zunehmend kränklich erlebte sie noch,
dass sie Großmutter wurde, aber nicht mehr, dass ihr jüngerer Sohn mit 35 in
der von den Franzosen gehaltenen Festung Landau/Pfalz einer Krankheit erlag.
(Stand: Nov. 09)
Nicolas Boileau alias Despréaux oder Boileau-Despréaux (*1.11.1636 ; †13.5.1711).
Nachdem er lange uneingeschränkt zu den
großen Klassikern gerechnet wurde, gilt Boileau (wie er in den
Literaturgeschichten meistens heißt) heute eher nur als wichtige Figur in der
Entwicklung der franz. Literatur. Hierzulande war und ist er in seiner
Eigenschaft als sehr spezifisch französischer, wenn nicht Pariser Autor wenig
bekannt.
Er wurde geboren als insgesamt
fünfzehntes Kind (aus der zweiten Ehe) seines Vaters, eines bürgerlichen, wenn
auch stolz auf adelige Vorfahren verweisenden Pariser Juristen. Mit anderthalb
verlor er seine Mutter. Er war ein kränklicher Junge, den eine ungeschickte
Entfernung von Steinen aus der Blase zudem der „Gaben der Natur“ beraubte. So
ließ er sich noch vor Ende seiner Schulzeit im Collège de Beauvais (das, wie auch das vorher von ihm besuchte Collège d'Harcourt, dem Jansenismus nahestand) die
niederen Weihen erteilen. Nach kurzen Theologiestudien, sattelte er 1652 jedoch
um auf Jura und erhielt 1656 die Zulassung als Anwalt.
1657 starb sein Vater; Boileau erbte
und war auf keinen Broterwerb mehr angewiesen. Da er schon seit längerem Verse
machte, verlegte er sich nun ganz auf die Literatur und ließ sich von seinem
fünf Jahre älteren Bruder Gilles, der ebenfalls schriftstellerte (und 1659, mit
28, in die Académie Française aufgenommen wurde, aber schon mit 38 starb), in
literarisch interessierte Zirkel einführen. Hier lernte er so gut wie alle
Pariser Autoren der Zeit kennen, d.h. der Jahre auf die man später den Beginn
der Klassik datieren wird. Er mischte mit in ihren Querelen und befreundete
sich u.a. mit drei angehenden Erfolgsautoren, den rd. 15 Jahre älteren La
Fontaine (s.o.) und Molière (s.o.) und vor allem dem wenig jüngeren Racine
(s.u.).
Er selbst debütierte 1661, unter dem
ihn von Bruder Gilles unterscheidenden Namen Despréaux, mit einer so witzigen
wie spöttischen Verssatire, der er in den nächsten sieben Jahren acht weitere
folgen ließ. Gegenstand dieser Texte, in denen er sich an antike (Horaz und
Juvenal) und zeitgenössische Vorbilder (u.a. Bruder Gilles) anlehnte, war vor
allem die Welt der Pariser Salons und der sie frequentierenden Schöngeister und
Literaten, deren Manien und Eitelkeiten er, bei literarischen Gegnern durchaus
unter Namensnennung, sezierte und karikierte. Nur in Satire VI (Les embarras
de Paris, 1664), die drastisch und humorvoll die Misshelligkeiten des
Alltags im lärmerfüllten, dreckigen und übervölkerten Paris der Zeit darstellt,
gestaltet er ein realeres Sujet. Angesichts seiner Erfolge als
Vortragskünstler, der in Abendgesellschaften seine Texte effektvoll und ständig
aktualisiert darzubieten verstand, unterließ Boileau es lange Zeit, sie drucken
zu lassen. Als 1666 ein Raubdruck mit sechs Satiren erschien, erklärte er ihn
empört für nicht authentisch.
1668, nach Satire IX (der erst 1692,
1698 und 1705 noch drei weitere folgten), versuchte er, sein Image als Enfant
terrible des Pariser Literaturbetriebs abzustreifen, und wechselte von der
agressiven Satire zu moralisierenden und philosophierenden Versepisteln (épîtres). In der ersten verherrlichte er
Louis XIV, der gerade im sog. Devolutionskrieg gegen die spanische Krone die
Franche Comté besetzen und Teile Flanderns erobern lassen hatte. 1669 durfte er
dem König die Epistel vortragen. Er erhielt die hübsche Pension von 2000 Livres
jährlich zugewiesen und reihte sich ein in den Kreis der quasi staatstragenden
Literaten, die sich um Minister Colbert scharten.
Seine kritische Beschäftigung mit
Autoren der Zeit hatte ihn immer wieder auch zu grundsätzlicheren Überlegungen
geführt, bei denen die Poetik des klassisch-lateinischen Dichters Horaz (1. Jh.
v. Chr.) ein wichtiger Bezugspunkt für ihn war. Darüber hinaus hatte er im
Nachlass seines 1669 verstorbenen Bruders Gilles eine von diesem begonnene
Übertragung einer anderen antiken Poetik, des sog. Pseudo-Longinus (1. Jh. n.
Chr.), gefunden und sie als Traité sur le sublime fertiggestellt
(publiziert 1674). Aus diesen literartheoretischen Interessen ging 1669-1674
eine als Versepistel in vier „Gesängen“ verfasste Poetik hervor: L'Art poétique. Hierin definiert Boileau
die Rolle und Aufgabe des Autors, fordert die Einhaltung allgemeiner Vorgaben
wie „vraisemblance“ (Realitätsadäquatheit) oder „bienséance“ (moralische
Akzeptierbarkeit) und kodifiziert die diversen lyrischen und dramatischen
Genera sowie das Epos. Den Roman berücksichtigt er nicht, ihn hatte er schon
1668 in seinem Dialogue des héros de roman
als unseriös verworfen.
Boileau hatte Glück mit seinem Art
poétique: Dank des langandauernden Erfolgs der Autoren, gemäß deren
Dichtungspraxis er seine Theorien formulierte (u.a. der befreundeten La
Fontaine, Molière und vor allem Racine), wurde sein Werk auch selbst zu einem
maßgeblichen, „klassischen“ Text.
1674 ließ er unter dem Titel Œuvres diverses du sieur D*** eine Werkgabe drucken. Sie enthielt
neben dem kürzlich vollendeten Art
poétique die neun fertigen (nachträglich wohl etwas abgemilderten) Satiren,
vier Episteln sowie die „Gesänge“ I-IV eines noch nicht abgeschlossenen
„heroisch-komischen“ Epos, Le Lutrin (=das Notenpult), worin er in
Gestalt einer burlesken Epenparodie die ihm wohlbekannte Welt der Pariser
Stiftsherren karikiert.
Hinfort verwaltete er, nicht mehr viel
schreibend, geschickt seine Position als anerkannter Sachwalter des guten
literarischen Geschmacks und verkehrte, den angeblichen Adel seiner Familie
herauskehrend, in besten Pariser Kreisen sowie auch am Hof. 1676 wurde er
zusammen mit Racine sogar zum Historiographe
du roi ernannt, d.h. zum offiziellen Chronisten vor allem der inzwischen
zahlreichen Feldzüge von König Louis, auf denen sie ihn, der anfangs selbst
gern mitzog, unbequem begleiten mussten. Seine und Racines Aufzeichnungen
gingen später allerdings bei einem Brand verloren.
1683 publizierte Boileau eine um vier
Episteln und die letzten zwei Gesänge des Lutrin vermehrte zweite
Werkausgabe. 1684 wurde er, nicht ohne etwas Nachhilfe von Louis (denn
natürlich hatte er viele Literatenkollegen mit seinen Satiren verärgert), in
die Académie Française gewählt. Der Erwerb eines Landhauses bei Auteuil
konsekrierte seine erfreuliche Situation.
Als 1687 Charles Perrault (s.o.) in der
Académie seinen Vers-Traktat Le Siècle de
Louis le Grand vorlas, worin er, die Überlegenheit seiner eigenen Epoche
über die bis dahin in Allem als vorbildhaft geltende klassische Antike
postulierte, war Boileau Wortführer der Traditionalisten, die Perrault
attackierten und damit den berühmten Literatenstreit „La Querelle des Anciens
et des Modernes“ auslösten. Allerdings schwenkte er wenig später, da die Zeit
ganz offensichtlich für Perrault und dessen These arbeitete, langsam um und
versöhnte sich 1794 öffentlich mit ihm.
Zu einem kleineren Schlagabtausch unter
seinen Gesinnungsgenossen und Gegnern führte 1692 seine frauenfeindliche Satire
XI, in der er, der mit Impotenz
Geschlagene, wohl auch persönliche Ressentiments verarbeitet hatte.
Nachdem er sich, ähnlich wie Racine, in
den späten 80er und den 90er Jahren erst heimlich und dann offen dem
rigoristisch-frommen Jansenismus seiner Jugend wieder angenähert hatte, zog er
sich mehr und mehr in seine kleine Wohnung im Stift von Notre-Dame zurück, wo
er schon seit vielen Jahren lebte. Die Veröffentlichung seiner letzten
Verssatire, in der er indirekt die Jesuiten, jene Intimfeinde der Jansenisten,
angriff, wurde ihm 1705 vom König untersagt. Boileau starb, schon seit längerem
krank und eher verbittert, einige Jahre vor seinem Ex-Protektor und ungefähren
Altersgenossen Louis XIV (1638-1715).
(Stand: Juni 08)
Jean Racine (*21.12.1639
Ferté-Milon/Champagne; †21.4.1699 Paris).
Er gilt den Franzosen als einer ihrer
großen Klassiker und speziell als ihr – neben oder sogar vor Corneille – größter
Tragödienautor. Zusammen mit dem Letzteren und Molière wird er traditionell als
ein Dreigestirn großer Dramatiker gesehen.
Er wurde geboren als erstes Kind eines
dem niederen Amtsadel angehörenden königlichen Salzsteuer-Beamten. Auch seine
Mutter stammte aus diesen Kreisen, doch verlor Racine sie als Zweijähriger bei
bei der Geburt einer Schwester. Mit gut drei verlor er auch seinen Vater (der
sich kurz zuvor wiederverheiratet hatte) und wurde von den Großeltern
mütterlicherseits in Pflege genommen, wogegen die Schwester zu den anderen
Großeltern kam. Als der Großvater 1649 starb, zog sich die Großmutter in das
jansenistisch orientierte Kloster Port-Royal des Champs (ca. 10 km südwestlich
von Versailles) zurück und gab ihren Enkel in die kleine, aber vorzügliche
Schule, die von namhaften jansenistischen Theologen und Gelehrten betrieben
wurde, die sich als asketische „solitaires“ (=Einsiedler) um das Kloster herum
angesiedelt hatten.
Sicherlich traumatisiert durch den
sukzessiven Verlust fast aller Bezugspersonen, fand Racine in der Schule ein
gewisses Zuhause und erwarb solide Latein- sowie (was damals eher die Ausnahme
war) Griechischkenntnisse. 1653/54 absolvierte er das „rhétorique“ heißende
Schuljahr als Internatsschüler im jansenistisch ausgerichteten Pariser Collège
de Beauvais. 1655, mit 15, kam er zurück nach Port-Royal, wo er wieder bei
den Jansenisten lernte. Zwar wurde er tief von ihrer fundamentalistischen
Frömmigkeit geprägt, doch las er zugleich klassische lateinische und
griechische Theaterstücke, und zwar
sowohl im Original als auch in moralisch und religiös „gereinigten“
französischen Übertragungen, die einer seiner Lehrer verfasste, Isaac Lemaistre
de Sacy. Daneben begann er zu schreiben: Oden auf die Natur um
Port-Royal, aber auch fromme Verse, z.T. auf Latein.
Ab 1656 wurde er Zeuge der
Schikanierung der Jansenisten durch die Staatsgewalt und ihre Verbündeten, die
Jesuiten, und wurde 1658 von der Schließung der Schule von Port-Royal
betroffen. Er wechselte nach Paris auf das jansenistische Collège d'Harcourt, wo er seine Schulzeit mit der
„philosophie“-Klasse abschloss (1659).
Hiernach fand er, knapp 20jährig,
Aufnahme bei einem Verwandten, der im Stadtpalast einer Herzogsfamilie lebte
und als „intendant“ deren Haus, Liegenschaften und Geld verwaltete. Von ihm
wurde er in einige schöngeistige Zirkel eingeführt, wo er u.a. den späteren
Fabeldichter Jean de La Fontaine (s.o.) kennenlernte, einen entfernten
Verwandten. Zum Vortrag in diesem Ambiente und im allgemeinen Stimmungshoch
nach dem Ende des langen Krieges mit Spanien (1659) verfasste Racine allerlei
Gelegenheitsgedichte, darunter diverse galante. Auch die Welt des Theaters, das nach dem Friedensschluss einen starken
Aufschwung nahm, erfuhr er nun als Realität und versuchte sich an einem
ersten Stück, der Tragödie oder Tragikomödie Amasie (oder Amasis?), die jedoch nicht angenommen wurde und
verloren ist. Hiernach scheint er ein
Stück um die Figur des römischen Dichters Ovid begonnen zu haben, stellte es
aber, vielleicht wegen einer längeren Krankheit, nicht fertig.
1660 fiel er dem einflussreichen Autor
Jean Chapelain (s.o.) positiv auf mit der Ode La Nymphe de la Seine à la Reine, wo er in der Rolle einer fiktiven
Seine-Nymphe die Ankunft der spanischen Prinzessin Maria-Teresa und ihre
Hochzeit mit Louis XIV besingt. Auf Vorschlag Chapelains erhielt er die
beachtliche Gratifikation von 100 Goldstücken (2400 Francs) aus der Schatulle
des Königs.
Insgesamt war er angetan von seiner
mondänen Existenz in Paris und schien dem strengen Jansenismus den Rücken zu
kehren. Seine Verwandten und seine Lehrer waren allerdings entsetzt über über
diese unfromme Entwicklung. 1661 drängten sie ihn, nach Uzès in Südfrankreich
zu einem Bruder seiner Mutter zu gehen, der Stellvertreter des dortigen Bischofs
war. Hier sollte er sich auf den Empfang zumindest der niederen Weihen
vorbereiten, damit man ihm anschließend eine kirchliche Pfründe verschaffen
konnte, die ihn, die mittellose Waise, für den Rest seines Lebens versorgte.
In Uzès jedoch, wo er sich pflichtgemäß mit Theologie befasste, aber wie im Exil
fühlte, wurde Racine sich endgültig seiner dramaturgischen Ambitionen bewusst.
Er ließ sich brieflich durch Pariser Bekannte auf dem Laufenden halten und
begann offenbar ein Stück nach dem Liebes- und Abenteuer-Roman Äthiopica
von Heliodor (3. Jh. n. Chr.), d.h. der Geschichte von Theagenes und der
schönen Chariklea, die in Frankreich in der vielgelesenen Übertragung von
Jacques Amyot (s.o.) bekannt war. Doch scheint er über das Anfangsstadium nicht
hinaus gekommen zu sein.
1663 brach er
seinen Aufenthalt in Uzès ab, kehrte zurück nach Paris und versuchte, seine Kontakte
wiederzubeleben und neue zu knüpfen. Hierbei schloss er Freundschaft mit dem
wenig älteren Nicolas Boileau (s.o) und lernte u.a. Molière (s.o.) kennen.
Seine panegyrische Ode sur la
convalescence [=die Genesung] du Roi brachte ihm erneut den Beifall
Chapelains, der ihm eine königliche Pension von jährlich 600 Francs
verschaffte, etwa der Hälfte dessen, was eine sparsam wirtschaftende Person
benötigte. Über Chapelain auch erlangte er die Protektion des hochadeligen Duc
[=Herzog] d’Aignan, der ihn dem König vorstellte. Vor allem jedoch verfasste er
für die Truppe Molières, vielleicht sogar in seinem Auftrag und mit seiner
Hilfe, die Tragödie La Thébaïde ou les
frères ennemis, die von dem
blutigen Streit der Zwillingssöhne des Ödipus um die Herrschaft im antiken
Theben handelt. Das Anfang 1664 aufgeführte Stück hatte aber nur geringen
Erfolg.
Sein nächstes Stück, die Tragikomödie Alexandre le Grand (1665), war eher
romanesk. Racine übte sich darin erstmals in der nüancierten Darstellung der
Liebe und der ihr inhärenten Konflikte, eine Thematik, die von nun an eine
Schlüsselrolle bei ihm spielte. Aufgeführt wurde das Stück wiederum von der
Truppe Molières, doch war Racine mit der Inszenierung nicht zufrieden. Er
reichte es deshalb hinter dem Rücken Molières weiter an die auf Tragödien und
Tragikomödien spezialisierte Truppe des Hôtel de Bourgogne. Den jungen König
Louis, der beide Truppen sponsorte, hatte er vor seinem Wechsel offenbar
eingeweiht und für sich gewonnen, denn er durfte ihm 1666 die Druckfassung des Alexandre
widmen, was sicher auch deshalb gelang, weil Louis es liebte, mit Alexander
verglichen zu werden. Das Verhältnis Racines zu Molière dagegen ging in die
Brüche, zumal er eine von dessen beliebtesten Schauspielerinnen mitgenommen
hatte, Thérèse alias „Marquise“ Du Parc, die bis zu ihrem frühen Tod Ende 1668
auch seine Geliebte war.
Nach dem zwar nicht rauschenden, aber
achtbaren Erfolg des Alexandre und seinem Aufstieg zum Günstling des
herrschenden Regimes hatte Racine offenbar das Bedürfnis, sich demonstrativ von
den Jansenisten und ihrer lustfeindlichen Religiosität zu lösen und sich von
ihrer latenten politischen Opposition zu distanzieren: 1666 attackierte er mit
einem ironischen offenen Brief einen seiner Ex-Lehrer, den Moral-Theologen
Pierre Nicole, der Romanciers und Dramatiker als „öffentliche Seelenvergifter“
gebrandmarkt hatte.
1667 intensivierte sich Racines Kontakt
zum Hof, denn er fand Anschluss an Henriette d’Angleterre, die junge Schwägerin
von König Louis, die ihn (nach einer Fehlgeburt und dem Verlust eines Kindes
durch Krankheit) als Unterhalter schätzte und ihn aus dem neuen Stück vorlesen
ließ, an dem er schrieb. Seine Pension wurde erhöht auf 800 Francs.
Ende 1667 erzielte Racine mit diesem
Stück, der Tragödie Andromaque,
seinen Durchbruch. Zugleich hatte er sein Thema gefunden: die schicksalhafte,
leidenschaftliche, aber unerfüllte Liebe, die die Liebenden in ihrer Eifersucht
und/oder Enttäuschung bis zum Äußersten - Mord und Selbstmord eingeschlossen –
und damit in den Untergang treibt. In Andromaque,
schreibt treffend Henry Bidou, „Racine,
tout adolescent, est déjà maître de son système dramatique; et ce premier état
de son théâtre ne diffère pas beaucoup de ce qu’il sera par la suite. Le
principe qu’il a découvert, c’est de placer le point de départ de sa pièce tout
près du point d’arrivée. C’est peut-être là le trait le plus racinien. Au
moment où le rideau se lève, la machine qui doit faire éclater la catastrophe
est toute montée, toute chargée, toute armée. Le poète emploie cinq actes à la
retenir; au dénouement, il n’a qu’à retirer sa main.“ (in: Joseph Bédier/Paul
Hasard, Histoire de la littérature française
illustrée, 2 Bde, Paris 1924; II, p.
16).
Nach dem Triumph von Andromaque, zu dem die Du Parc in der
Titelrolle sehr viel beigetragen hatte, wurde Racine von seinen Bewunderern auf
eine Stufe gestellt mit dem eine Generation älteren „großen Corneille“ (s.o.),
der seinerseits so deprimiert war, dass er sich für zwei Jahre vom Theater
zurückzog. Racine verkehrte weiterhin am Hof und erhielt ab 1668 hübsche 1200
Livres Pension. Ebenfalls 1668 bekam er ein Priorat im Anjou als Pfründe
zugewiesen, wobei er, denn er war ja nicht geweiht, einen Teil der Einkünfte
dem Priester abtreten musste, der als offizieller Inhaber figurierte und ihn
vor Ort vertrat.
Beflügelt durch den schmeichelhaften
Vergleich mit Corneille, versuchte Racine auch mit Molière gleichzuziehen (der
gerade eines seiner besten Stücke, Le Misanthrope, herausgebracht
hatte). In diesem Sinne verfasste er Les
plaideurs (1668). Die etwas
konstruiert wirkende Komödie um einen monomanischen Richter, zwei Prozesshansel
(plaideurs), ein Liebespaar und zwei pfiffige Diener kam beim Pariser Publikum
jedoch erst an, nachdem Louis es ostentativ beklatscht hatte. Es blieb die
einzige Komödie Racines.
Hiernach trat er wieder in Konkurrenz
zu Corneille und begab sich mit der Tragödie Britannicus (1669) auf dessen Spezialgebiet, die Verarbeitung von
Stoffen aus der römischen Geschichte. Auch das nächste, „römische“, Stück, die
Tragikomödie Bérénice (1670), war
eine Herausforderung an Corneille, der zur gleichen Zeit ein thematisch
ähnliches Stück, Tite [=Kaiser Titus] et
Bérénice, von Molière herausbringen ließ. Nachdem Racine tatsächlich
Corneille in der Gunst des Publikums geschlagen hatte (und inzwischen auch bei
dem allmächtigen Minister Colbert aus und ein ging), wechselte er mit dem
Intrigenstück Bajazet (1672), das am
Hof von Istanbul spielt, in die jüngere türkische Geschichte. Frankreich war
nämlich gerade mit dem Sultan gegen den deutschen Kaiser im Bunde, und
„turqueries“ waren in Mode.
Nach dem Erfolg von Bajazet beherrschte Racine das Pariser
Theater. 1673 wurde er in die Académie française gewählt. Mit Mithridate (1673) schrieb er nochmals
ein „römisches“, Corneille Konkurrenz machendes Stück. Hiernach kehrte er in
die Welt der griechischen Antike zurück mit Iphigénie
en Aulide (1674), die auf einem Fest uraufgeführt wurde, mit dem der König
mitten im Niederländischen Krieg die formelle Annexion der Franche-Comté
feierte.
Im selben Jahr erhielt Racine das nicht
unbedeutende, ihn aber kaum belastende Amt eines trésorier [Schatzmeister] de France für den Bezirk Moulins
übertragen. 1776 ließ er eine Sammelausgabe seiner Stücke erscheinen, die er
hierbei gründlich überarbeitet hatte
Anfang 77 wurde Phèdre aufgeführt, sein neben Andromaque
wohl bestes und quasi tragischstes Stück. Der Erfolg war jedoch nur mäßig. Als
dagegen ein gleichnamiges mittelmäßiges Stück von Jacques Pradon allgemein
gelobt und beklatscht wurde, zog sich Racine frustriert zugunsten seiner
anderen Aktivitäten vom Theater zurück. Auch heiratete er: die fromme und
reiche, entfernt verwandte Catherine de Romanet, mit der er bis 1792 einen
Sohn, fünf Töchter und nochmals einen Sohn bekam.
Schon 1676 war er, zusammen mit seinem
Freund Boileau, zum Historiographe du Roi
ernannt worden und musste hinfort an Feldzügen von Louis XIV teilnehmen, um
sie zu protokollieren (u.a. 1678 Belagerung von Gent im Niederländischen Krieg,
1692 Belagerung von Namur im Pfälzischen Krieg). Seine und Boileaus
Aufzeichnungen wurden jedoch bei einem Brand vernichtet.
1685 wurde Racine Vorleser bei Louis
und seiner morganatisch („linker Hand“) angetrauten frommen Gattin Mme de
Maintenon. Von dieser ließ er sich 1688 und 1690 nochmals zum Stückeschreiben
bewegen und verfasste die biblische Stoffe behandelnden Esther und Athalie. Sie
waren zur Aufführung in dem adeligen Kloster und Mädchenpensionat Saint-Cyr
bestimmt und wurden dort von Schülerinnen inszeniert.
Theologen bekrittelten sie allerdings als weltliche Profanierung geistlicher
Gegenstände.
1690 erreichte Racine den Höhepunkt
seiner Höflingskarriere mit der Ernennung zum Königlichen Kammerherrn (gentilhomme ordinaire de la chambre du roi).
Gegen Ende der 70er Jahre war er wieder
fromm geworden, was zu der allgemein gedrückten Stimmung passte, die Louis’
pausenlose, zunehmend ruinöse Krieg in Frankreich bewirkten. Allmählich,
zunächst aber nur heimlich, kehrte er auch zu dem strenggläubigen Jansenismus
seiner Jugendzeit zurück und versöhnte sich unter der Hand
mit einigen seiner alten Lehrer. Sicher auch als Reflex dieser Stimmung verfasste er
geistliche Lyrik, die gesammelt 1694 als Chants
spirituels erschien.
Nachdem er sich unter der Hand mit
einigen seiner alten Lehrer versöhnt hatte, erregte er 1694 den Unwillen des
Königs, als er beim Pariser Erzbischof für das Kloster Port-Royal einzutreten
versucht hatte, das nach wie vor als geistiges Zentrum der Jansenisten
fungierte. Als er 1698 mit einem Abrégé
[=Abriss] de l'histoire de Port-Royal seine Sympathien auch öffentlich
zeigte, ließ Louis ihn in Ungnade fallen. Abseits vom Hof verlebte Racine die
letzten Monate seines Lebens in Verbitterung, wenn auch als reicher Mann und
als Patriarch im Kreise seiner großen Familie.
Seinem Wunsch gemäß wurde er in
Port-Royal begraben, nahe bei seinem Lieblingslehrer Hamon.
Sein jüngster Sohn Louis (1692-1763),
ein schrifstellernder Jurist, wurde sein erster Biograf mit dem Mémoire sur
la vie de Jean Racine (1747).
Racine
hat die französischen Dramatiker neben ihm und nach ihm bis ins 19. Jahrhundert
hinein stark beeinflusst. Die Eleganz und Musikalität seiner Verse galt und gilt
als beispielhaft, die Intensität seiner Darstellung der Gefühle als kaum zu
übertreffen. Als meisterhaft erscheint auch seine Kunst, Spannung nicht aus
einer bewegten Handlung, sondern aus den inneren Konflikten der Figuren und
ihrer Entwicklung zu erzeugen.
Im
deutschen Sprachraum scheint er nie heimisch geworden zu sein, auch wenn nie
heimisch geworden geworden zu sein, auch wenn Goethe die Iphigénie kannte
und Schiller kurz vor seinem Tod die Phèdre übertrug.
(Stand: Juli 10)
Jean de La Bruyère (*16.8.1645
Paris; †1696 Versailles).
Er wird als „Moralist“ (eine im
deutschen Sprachraum praktisch inexistenten Autoren-Spezies) zu den großen
franz. Klassikern gerechnet.
La Bruyère stammte aus einer
bürgerlichen, wohl erst kürzlich aus der Provinz nach Paris gekommenen Familie
und erhielt nach einem Jurastudium in Orléans 1665 die Zulassung als Anwalt am
höchsten Pariser Gericht, dem Parlement. 1671, 26jährig, beerbte er mit seinen
drei Geschwistern einen reichen Onkel und kaufte 1673 in Caen ein Amt in der
Finanzverwaltung, das ihn pro forma adelte, ihm aber keine Präsenz vor Ort
abverlangte. Er lebte vielmehr weiter als Rentier in Paris und dilettierte als
Privatgelehrter.
Hierbei stieß er auf die
Charakterstudien des antiken Polygraphen und Aristoteles-Schülers Theophrastos
(4. Jh. v. Chr.), die er aus dem Griechischen zu übertragen begann.
1684
empfahl ihn der Bischof, Prinzenerzieher und große Prediger Bossuet (s.o.), dem
Prince de Condé, Chef einer Seitenlinie des Königshauses, als Hauslehrer (précepteur)
für dessen Enkel, des duc de Bourbon. Nachdem dieser 1687 verheiratet worden
war, blieb La Bruyère als Edeldomestik (gentilhomme ordinaire) und Sekretär in
seinen Diensten und lebte als Mitglied seines Gefolges überwiegend in Paris,
Chantilly und Versailles.
Als Randfigur im hocharistokratischen
Milieu wurde er zu einem scharfen Beobachter und bereicherte in der Folge die
Theoprastschen „Charaktere“ um die Darstellung sozialer Typen der eigenen Zeit,
wobei er mit Vorliebe bestimmte adelige und pseudoadelige Verhaltensweisen,
aber auch allgemeine menschlich-allzumenschliche Schwächen, Manien und Ticks
aufs Korn nahm.
1688 ließ er ein
Bändchen mit dem Titel Les Caractères de
Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce
siècle erscheinen. Das
Werk war dank seiner Thematik, seiner Einteilung in kurze, gut lesbare
Abschnitte sowie seiner pointierten, oft ironischen Formulierungen sofort ein
Erfolg, und La Bruyère erweiterte es von einer zur nächsten der neun Auflagen,
die rasch nacheinander erschienen, die letzte kurz nach seinem Tod. In Paris
zirkulierten bald auch Schlüssel, die einzelne Porträts bekannten Zeitgenossen
zuzuordnen versuchten.
Nach einem ersten vergeblichen Anlauf
1691 erfüllte sich 1693 der Traum La Bruyères: Er wurde in die Académie
française gewählt – mit Nachhilfe des Königs und als Kandidat der
traditionalistischen „Anciens“, gegen den Widerstand der progressiven
„Modernes“, die dort inzwischen tonangebend waren und die er mit seiner
Antrittsrede bewusst provozierte.
Kurz vor seinem plötzlichen Tod durch
einen Schlaganfall verfasste er noch die Schrift Dialogues sur le quiétisme, mit denen er seinen einstigen Förderer
Bossuet in dessen Kampf gegen Mme de Guyon (s.u.) und Fénelon (s.u.)
unterstützte.
(Stand: Nov. 09)
Fénelon (=François de
Salignac de la Mothe-Fénelon, *6.8.1651 auf Schloss Fénelon/Perigord; †7.1.1715
Cambrai).
Heute langsam in Vergessenheit
geratend, hat er bis ca. 1900 mit seinem vielgelesenen Abenteuer- und
Bildungsroman Les Aventures de Télémaque
in ganz Europa eine Wirkung ausgeübt, die kaum zu überschätzen ist. Das 1694-96
entstandene Werk gilt als einer der Marksteine der Frühaufklärung.
Fénelon (wie er bei Historikern und
Literaturhistorikern schlicht heißt) stammte aus einer alten, aber verarmten
Adelsfamilie des Périgord. Da er jüngerer Sohn war (zweitjüngstes von insgesamt
14 Kindern seines Vaters aus zwei Ehen), und die Familie schon mehrere Bischöfe
hervorgebracht hatte, wurde auch er früh für die kirchliche Laufbahn bestimmt.
Er ging erst in Cahors, später in Paris bei den Jesuiten zur Schule und
studierte dann im elitären, ebenfalls den Jesuiten nahestehenden Pariser
Priesterseminar Saint-Sulpice.
Nachdem er als junger Priester durch
schöne Predigten auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde er 1678 zum Direktor
des Institut des Nouvelles Catholiques ernannt, einer Pariser Internatschule
zur Umerziehung junger Mädchen aus guter Familie, deren Eltern angesichts des
brutaler werdenden Drucks der Staatsmacht konvertiert, d.h. vom Protestantismus
zum Katholizismus übergetreten waren. 1681 reflektierte er seine pädagogische
Praxis im Traité de l'éducation des
filles (=Traktat über die Mädchenerziehung, publiziert erst 1687).
Ende 1685, nachdem Louis XIV das 1598
von seinem Großvater Henri IV erlassene Toleranzedikt aufgehoben hatte,
unternahm Fénelon eine erste von mehreren Missionsreisen in damals
protestantische Regionen Südwestfrankreichs, war offenbar aber nur mäßig
erfolgreich.
Kurz zuvor, 1685, war er mit einer
ersten theologischen Schrift hervorgetreten, dem Traité de l'existence de Dieu et de la réfutation du système de
Malebranche sur la nature et sur la Grâce (=Traktat über die Existenz
Gottes und über die Widerlegung von M.s System der Natur und der Gnade), worin
er sich im Sinne der katholischen Amtskirche und der Staatsmacht an der
Bekämpfung der Jansenisten beteiligte, die eine rigoristische Gnadenlehre
ähnlich der des kalvinistischen Protestantismus vertraten. Im selben Jahr
äußerte sich Fénelon zur Rhetorik in seinen Dialogues
sur l'éloquence (=Dialoge über die Beredsamkeit, 1685).
Er zählte in diesen Jahren zum Kreis um
Bossuet (s.o.), den streitbaren Primus der franz. Bischöfe. 1688 wurde er Mme
de Maintenon vorgestellt, der „linker Hand“ angetrauten zweiten Gattin von
Louis XIV. Diese sympathisierte zu jener Zeit noch mit der mystisch-frommen Mme
Guyon, deren „Quietismus“ offenbar vielen Franzosen, zumal auch adeligen, als
eine Art Evasionsmöglichkeit erschien angesichts des permanenten
Kriegszustandes, der aufgrund der Expansionskriege Louis’ herrschte. Auch
Fénelon war fasziniert von Mme Guyon, als er sie im Winter 88/89 kennenlernte,
und stand danach bis zu ihrem Tod unter ihrem Einfluss.
Im Sommer 1689 wurde er auf Vorschlag
von Mme de Maintenon, die er inzwischen in Fragen des Seelenheils beriet, von
Louis zum Hauslehrer (précepteur)
seines 7-jährigen Enkels und eventuellen Thronfolgers, des Duc de Bourgogne,
berufen – ein Posten, der ihm Einfluss am Hof verschaffte und sicherlich
ausschlaggebend war für seine Wahl in die Académie Française (1693) sowie für
seine Ernennung zum Erzbischof von Cambrai (1695).
Für seinen fürstlichen Zögling (der
jedoch 1712 sterben und ebensowenig König werden sollte wie sein 1711 kurz vor
ihm gestorbener Vater) schrieb Fénelon mehrere unterhaltende und zugleich
belehrende Werke: eine Sammlung von Fabeln, die Aventures d'Astinoüs, die Dialogues
de morts (=Totendialoge) und vor allem einen umfänglichen Roman: Les Aventures de Télémaque, fils d'Ulysse (fertiggestellt
1698, gedruckt 1699, 1733 auf deutsch erschienen als Die seltsamen Begebenheiten des Telemach, Sohn des Odysseus).
In diesem pseudo-historischen und
zugleich utopischen Roman führt Fénelon den jungen Télémaque und dessen Lehrer
Mentor (in dem sich Minerva alias Athene verbirgt und der sichtlich Sprachrohr
Fénelons ist) durch diverse antike Staaten, die meist durch Schuld ihrer von
Schmeichlern und falschen Ratgebern umgebenen Herrscher ähnliche Probleme haben
wie das in pausenlose Kriege verstrickte und verarmende Frankreich der 1690er Jahre,
wobei er jedoch einen Herrscher zeigt, der dank der Ratschläge Mentors seine
Probleme zu lösen vermag durch friedlichen Ausgleich mit den Nachbarn und durch
ökonomische Reformen im Inneren, und zwar insbesondere durch die Entwicklung
der Landwirtschaft und die Zurückdrängung der Luxusgüterproduktion.
Der Télémaque,
der ab 1698 in handschriftlichen Kopien am Hof zirkulierte, wurde sofort als
kaum verschlüsselte Kritik am autoritären Regierungsstil von Louis XIV sowie an
seiner kriegerischen Außenpolitik und seiner exportorientierten
merkantilistischen Wirtschaftslenkung interpretiert. Fénelons größter Gegner am
Hof, sein einstiger Förderer Bossuet, gewann nun die Oberhand, nachdem er ihn
schon ab 1694 in scheinbar theologisch motivierte Querelen über den Quietismus
gezogen hatte und 1697 versucht hatte, eine Verteidigungsschrift Fénelons für
Mme Guyon (die nach und nach zum Quasi-Staatsfeind avanciert und 1698
inhaftiert worden war) vom Papst verurteilen zu lassen. Anfang 1699 verlor
Fénelon seinen Erzieherposten, und als im April sein Télémaque (anonym und ohne seine Zustimmung) im Druck erschien,
wurde er vom Hof verbannt.
Er zog sich zurück in sein Bistum
Cambrai und versuchte dort, nicht ohne weiterhin als theologischer und
politischer Autor tätig zu sein, ein exemplarisches Regiment gemäß den Lehren
seiner Figur Mentor zu führen.
(Stand: Juni 09)
Pierre Bayle (*18.11.1647 in
Le Carla [heute Carla-Bayle]/Dep. Ariège; †28.12.1706 in Rotterdam).
Er gilt zusammen mit dem 10 Jahre jüngeren
Fontenelle (s. u.) als zentrale Figur der sog. Frühaufklärung.
Geboren und aufgewachsen in einem
Pyrenäendorf als Sohn eines hugenottischen Predigers, besuchte er ab 1666 die
protestantische Akademie von Puylaurens (Dép. Tarn). Von religiösen Zweifeln
geplagt, wechselte er 1699 auf das Jesuiten-Kolleg von Toulouse und
konvertierte zum Katholizismus. Ein gutes Jahr später bereute er unter neuen
Zweifeln seine Konversion kehrte zum Protestantismus zurück und flüchtete als
„relaps“ (Renegat) ins kalvinistische Genf. Hier und etwas später in Rouen, das
zu dieser Zeit noch eine große kalvinistische Gemeinde hatte, verdingte er sich
als Hauslehrer (précepteur) und beschäftigte sich mit Philosophie, insbes. der
von Descartes.
1675 wurde er Philosphieprofessor an
der protestantischen Akademie von Sedan in Lothringen, das formell noch Teil
des Deutschen Reiches war. Als die Akademie 1681 im Rahmen der zunehmenden
Einschnürung des franz. Protestantismus und der zunehmenden Vereinnahmung
Lothringens durch Frankreich geschlossen wurde, ging Bayle, wie so viele
kalvinistische franz. Intellektuelle, nach Holland und bekam in Rotterdam an
einer neueröffneten Hochschule eine Professur für Philosophie und Geschichte.
1682 publizierte er sein erstes Buch: Lettre sur la comète de 1680, das er
1683 erweiterte zu Pensées diverses sur la comète und an das er 1704 noch
eine Continuation des Pensées diverses
anfügte. In diesem Buch widerlegt er zunächst die abergläubischen
Vorstellungen, die man mit Kometen verband und die von vielen Theologen zur
Verängstigung und Disziplinierung der Gläubigen ausgenutzt wurden, und er
propagiert die Idee, dass alles Wissen, aber auch alle Glaubenssätze ständig
kritisch überprüft werden müssen. In einem zweiten Arbeitsgang entwirft er die
Grundlagen einer nicht religiös bestimmten Moral bzw. Ethik, wobei er die
seinerzeit unerhörte These entwickelt, dass ein Atheist nicht zwangsläufig
sittenlos sein und unmoralisch handeln müsse.
Wenig später denunzierte er in seiner
Schrift Critique générale de l’Histoire du Calvinisme du P[ère] Maimbourg (1684)
die prokatholische Parteilichkeit des Autors und propagierte religiöse
Toleranz.
Von 1684-87 war er Herausgeber und
wichtigster Beiträger der Zeitschrift Nouvelles
de la République des Lettres, die den Beginn eines literaturkritischen und
populärwissenschaftlichen Journalismus bedeutete und sich an jenes über ganz
Europa verstreute geistig interessierte Publikum richtete, das das Französische
als die Sprache von Bildung und Wissen beherrschte. In Frankreich selbst
allerdings wurde die Zeitschrift verboten.
Als 1685 Louis XIV das von Henri IV
erlassene Toleranz-Edikt aufhob (das berühmte Édit de Nantes) und damit die
Flucht von über 200.000 Protestanten bewirkte, die nicht eingekerkert werden
wollten wie ein Bruder von Bayle, reagierte dieser mit zwei kritischen
Schriften: Ce que c'est que la France
toute catholique sous le règne de Louis le Grand (1686) und Commentaire philosophique sur ces paroles de
Jésus-Christ "Contrains-les d'entrer" (1687). Hierin brandmarkt
er die religiöse Intoleranz des franz. Staates und die unheilige Allianz von
Thron und Altar und fordert einmal mehr
Toleranz und Gewissensfreiheit, auch für Andersgläubige und Atheisten, und zwar
nicht nur als moralisches Prinzip, sondern als ein Gebot der Vernunft.
Schon seit den Pensées war Bayle nicht nur den Katholiken suspekt, sondern auch
vielen Protestanten, die seine demonstrativ unkritische Haltung in Konfessions-
und Glaubensfragen (später „Fideismus“ genannt) als verkappten Deismus, wenn
nicht Atheismus betrachteten. Von ihnen, zumal von seinem ebenfalls nach
Holland gegangenen Sedaner Ex-Kollegen Pierre Jurieu, der sich zu seinem
Spezialfeind entwickelte, wurde er deshalb heftig attackiert, als man ihm die
volle oder teilweise Autorschaft des Avis
important aux réfugiés (1690) zuschrieb, einer anonymen Schrift, in der vor
den Umtrieben der Scharfmacher unter den emigrierten Hugenotten gewarnt wird,
die Holland und England in einen Rachekrieg gegen Louis XIV zu treiben
versuchten.
1693 wurde Bayle seiner Professur
enthoben und widmete sich nun ganz der Arbeit an dem Dictionnaire historique et critique (2 Bde 1695/96, 4 Bde 1702),
das ein holländischer Verleger quasi bestellt und vorfinanziert hatte. Dieses
war ursprünglich als verbesserte Version des Grand Dictionnaire historique (1674 u.ö.) geplant, eines Namens-
und Personenlexikons des Jesuiten Louis Moreri, wuchs sich aber aus zu einen
Nachschlagewerk neuen Typs. Bayle nämlich beschränkte sich nicht auf eine
Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Wissens über historische Personen und
Figuren (insbes. auch solche der Bibel), sondern er versuchte darüber hinaus
und vor allem eine kritische Sichtung dieses Wissens. Hierzu führte er als
bahnbrechende Neuerung ein, dass er die eigentlichen Artikel auf das Faktische
beschränkte, ihnen aber sehr ausführliche Fußnoten beigab, in denen er Quellen
und Autoritäten zitiert, und zwar nicht zuletzt solche, die sich widersprechen,
womit er den Leser unvermerkt zum Hinterfragen scheinbar verbriefter
Tatbestände und dadurch zum eigenen Denken und Entscheiden zwingt.
Das Lexikon erzielte bis 1760 mehr als
10 Auflagen und wurde ein Brevier der Aufklärer. Eine dt. Übersetzung, verfasst
von einem Autoren-Team um den bekannten Literaten Johann Christoph Gottsched,
erschien 1741-44 als Peter Baylens
historisches und kritisches Wörterbuch. Auch die 1746 von Diderot (s.u.)
und D’Alembert initiierte Encyclopédie nahm sich das Werk zum Vorbild.
Bayle selbst erlebte seine Anerkennung
jedoch nicht mehr. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er mit
Verteidigungsschriften gegen die Anwürfe, die ihm sein Lexikon eintrug, und in
Polemiken mit seinem Feind Jurieu sowie anderen dogmatischen reformierten
Theologen.
(Stand: Dez. 09)
Madame Guyon (eigentlich Jeanne Marie Guyon
du Chesnoy, geb. Bouvier de la Motte, * 13.4.1648 in Montargis ; † 9.6.1717 in Blois)
Mme Guyon (wie sie bei Historikern schlicht heißt)
war eine in den 1680er und 90er Jahren sehr erfolg- und einflussreiche Autorin
religiös motivierter, mystisch orientierter Schriften. Ihre Nachwirkung war,
politisch bedingt, in katholischen Ländern wie Frankreich selbst eher gering,
in deutschen sowie englischen protestantischen Kreisen dagegen bedeutend.
Laut ihrer Autobiografie La Vie de Mme J.-M.
Bouvier de La Motte Guyon, écrite par elle-même (postum Köln 1720) war sie
Tochter eines wohlhabenden, vom Bürgertum in den Adel strebenden Juristen,
Claude Bouvier. Von ihrer Mutter ungeliebt, verbrachte sie ihre Kindheit und
Jugend z.T. im Klosterpensionat und spielte selbst mit dem Gedanken, Nonne zu
werden. Mit 16 ließ sie sich jedoch verheiraten mit den 22 Jahre älteren,
ebenfalls aus Montargis stammenden und wohlhabenden Jacques Guyon, seigneur du
Chesnoy. Ihre Ehe erlebte sie als unglücklich, nicht zuletzt wegen ihrer sehr
dominanten Schwiegermutter und deren sie bespitzelnder Dienstmagd. Als sie in
einer Blatternepidemie zwei ihrer drei Kinder, darunter ihren Lieblingssohn,
verlor und sich selber entstellt sah, geriet sie in eine Glaubenskrise. In
dieser Situation ließ sie sich von ihrem Beichtvater, dem Barnabitermönch
Lacombe, zu dessen mystischer Frömmigkeit bekehren.
1676 starb ihr schon länger kränkelnder Mann,
nachdem er nochmals zwei Kinder mit ihr gezeugt hatte. Einige Jahre später ließ
die rd. 30jährige Witwe ihre Kinder (zweifellos von Domestiken wohlversorgt) zu
Hause zurück und begann ein Wanderleben. Dieses führte sie zunächst nach Genf
und an verschiedene Orte Savoyens, wobei sie 1681 in Thonon Lacombe wiedertraf.
Zugleich fing sie an, ihre neue Frömmigkeit zu verbreiten und entsprechende
Schriften zu verfassen. Hierbei geriet sie bald in Konflikte mit der
Amtskirche. So wurde sie z.B. vom Genfer Bischof gebeten, seine Diözese zu
verlassen. Sie folgte deshalb dem ebenfalls ausgewiesenen Lacombe nach Turin und
ging später nach Grenoble, wo sie 1685 ihr erstes gedrucktes Werk publizierte,
eine „kurzgefasste und leichtverständliche Anleitung zum Beten“: Moyen court
et très facile pour l’oraison que tous peuvent pratiquer aisément. Das
populärtheologische Buch hatte enormen Erfolg, erregte aber auch die Kritik
vieler Geistlicher, so dass der Grenobler Bischof Mme Guyon aufforderte, seine
Diözese zu verlassen. (Wird fortgesetzt.)
Jean-François
Regnard (* 7.2.1655
Paris ; † 4.9.1709)
Regnard gilt als der beste franz.
Komödienautor zwischen Molière und Marivaux, die jeweils etwa eine Generation
älter bzw. jünger sind.
Er war Sohn eines reichen Pariser
Kaufmanns, der jedoch zwei Jahre nach seiner Geburt starb, so dass er unter der
Obhut seiner Mutter und seiner älteren Schwester aufwuchs. Ab 12 verfasste er
Verse. Mit 16 (1671) ließ er sich einen Teil seines ansehnlichen Erbes (120.000
Frs.) auszahlen und begab sich (zweifellos mit einem Leibdiener) auf eine
zweijährige Reise, die ihn über Italien bis nach Istanbul und von dort über
Italien wieder zurück führte. In Venedig will er sich mit Glück als Spieler
betätigt haben, so dass er mit 10.000 Talern in der Tasche heimgekehrt sei.
1676
trat er zusammen mit Leibdiener und einem adeligen Freund eine neuerliche lange
Italienreise an, auf der sie u.a. in Bologna das franz. Ehepaar de Prade
kennenlernten. Bei der gemeinsamen Rückreise 1678 (Regnard hatte sich
inzwischen in Mme de Prade verliebt) nahmen sie ein Schiff von Genua nach
Marseille. Dieses wurde jedoch von nordafrikanischen Seeräubern gekapert, und
die fünf Franzosen wurden in Algier als Sklaven verkauft, wobei Mme de Prade
von den Freunden, aber auch von ihrem Mann getrennt wurde.
Nach
acht Monaten gelang es 1679 einem auf solche Fälle spezialisierten Mönch des
Lazaristen-Ordens, den Freikauf Regnards, des Freundes, des Dieners und Mme de
Prades zu vermitteln. Zu der ins Auge gefassten Heirat Regnards mit ihr kam es
aber nicht, weil auch ihr verschollener und tot geglaubter Gatte wieder
auftauchte.
1681
begab sich Regnard mit zwei Freunden auf eine Nordeuropa-Reise, die über
Flandern, Dänemark und Schweden bis nach Lappland und zurück über Polen,
Ungarn, Österreich und Deutschland ging. Die Schilderung der Lappland-Etappe
gilt als interessantester Teil des Reiseberichts, den er später verfasste.
Nach
seiner Rückkehr 1682 kaufte Regnard das hochrangige, aber nicht sehr belastende
Amt eines Trésorier (Schatzmeister) de France und lebte in der Folgezeit teils
in Paris und teils auf dem Schlösschen Grillon, das er in der Normandie
erworben hatte. Sein Haus in der Pariser Rue de Richelieu, aber auch Grillon
wurden rasch zum Treffpunkt lebenslustiger und geistreicher Personen
unterschiedlichster Herkunft.
Zugleich
begann Regnard, seine Muße mit Schriftstellerei auszfüllen. Zunächst versuchte
er sich in Tragödien, von denen jedoch nur eine zur Aufführung kam. Danach
erkannte er seine Gabe der Beobachtung und Darstellung allgemeinmenschlicher
Schwächen, aber auch spezifisch zeitgenössischer Untugenden und verlegte sich
ab 1687 auf komische Stücke, die er für das Pariser Theater der Comédiens
italiens verfasste, an deren Aufführungsstil und personelle Gegebenheiten er
sich anpasste. Es waren: Le Divorce (=die Scheidung/Trennung, 1688); La
Descente de Mezzetin aux Enfers (=die Reise M.s in die Hölle, 1689); Arlequin,
homme à bonnes fortunes (=A., der Mann mit Glück bei den Frauen, 1690).
Durch
das letztere Stück wurde Regnard bekannt, erregte aber auch Anstoß, was er
ausnutzte und sofort (ähnlich wie Molière in einer vergleichbaren Situation)
ein zweites Stück hinterherschob, La Critique de l’Homme aux bonnes fortunes.
Noch
1690 folgte Les filles errantes (=die herumirrenden Mädchen). 1691 kam La
Coquette ou L’Académie des dames heraus, dessen Titel auf Molière verweist,
an dem Regnard sich insgesamt häufig inspiriert.
1692/93
produzierte er aufgrund der guten Nachfrage drei Stücke mit dem ebenfalls nicht
unbekannten Dufresny als Co-Autor: Le Chinois (=der Chinese); La Baguette de Vulcain (=der Stab
Vulkans) und L’Augmentation [Vermehrung, Verlängerung] de „La
Baguette“.
1694
war La Naissance d’Amadis (=A.s Geburt) das letzte Stück Regnards für
die Italiens. Noch im selben Jahr wechselte er zum renommierteren Théâtre
Français, zunächst mit zwei Einaktern: Attendez-moi sous l’orme
(=erwarten Sie mich unter der Ulme) und La Sérénade.
Ebenfalls
94 unterhielt er die Pariser Literatenwelt mit einer Fehde, in die er den
ältlichen Satiriker Boileau (s.o.) verwickelte, indem er auf dessen Satire
contre les femmes mit einer Satire contre les maris replizierte und
ihn zu einer giftigen Reaktion animierte. Eine ironische Verssatire, mit der
Regnard hierauf antworten wollte, kam nicht mehr zum Druck, weil die Herren
sich versöhnten.
Vor allem aber schrieb er weitere Komödien für das
Théâtre Français: La Foire [Jahrmarkt] Saint-Germain (1695); La
Suite [Fortsetzung] de „la Foire St.-G.“ ou Les Momies [Mumien]d’Égypte
(1696); Le Bal ou Le Bourgeois de Falaise (1696).
Ende
96 wurde Le Joueur (=der Spieler) ein großer Erfolg. Dies veranlasste Regnard,
sein Trésorier-Amt zu verkaufen und sich ganz seiner Rolle als anerkannter
Autor, wohlhabender Lebemann (mit Mätresse) und Schlossherr zu widmen.
Seine
nächsten Stücke kamen jedoch nur mäßig gut an. Es waren: Le Distrait (=der Zerstreute, 1697); Le
Carnaval de Venise (Oper, 1699); Démocrite amoureux und Le Retour
imprévu (=die unverhoffte Heimkehr, beide 1700); Les Folies
[Torheiten] amoureuses (1704); Les Ménechmes (=die Zwillinge,
1705).
Anfang
1708 kam das Stück heraus, das als Regnards bestes gilt und ihm seinen Platz in
der Literaturgeschichte sicherte: die Verskomödie Le Légataire universel
(=der Alleinerbe). Die Handlung kreist um einen reichen alten Geizkragen,
seinen Neffen, der ihn beerben möchte, und dessen pfiffigen Diener Crispin, der
in verschiedenen Verkleidungen seinem jungen Herrn zu dem Testament verhilft,
das er braucht, sich aber auch selbst die Taschen etwas füllt.
Regnard
starb plötzlich ein Jahr später auf Grillon an ungeklärter Todesursache, eher
wohl einem Unfall oder einem Schlaganfall als dem Selbstmord, der auch vermutet
wurde.
Neben
seinen Stücken verfasste Regnard auch immer wieder Texte anderer Gattungen. So
schrieb er zahlreiche Gelegenheitsgedichte, mehrere Épîtres (Versepisteln),
einige Satires (gereimte Satiren, vgl. oben), Reiseberichte und den
kleinen autobiografischen Roman La Provençale, der von seiner Liebe zu
Mme de Prade inspiriert ist.
(Stand: Jan. 08)
Fontenelle (=Bernard Le Bovier de Fontenelle, *11.2.1657 Rouen;
†9.1.1757 Paris =100 Jahre!).
Fontenelle (wie er in der
Literaturgeschichte schlicht heißt) zählt neben dem anderen bedeutenden
„Frühaufklärer“ Pierre Bayle (s. o.) zu den wichtigsten Wegbereitern der
Aufklärung.
Er entstammte einer amtsadeligen
Juristenfamilie und war Neffe der Dramatiker Pierre und Thomas Corneille. Nach
Studien am Jesuiten-Kolleg von Rouen ging er nach Paris, wo er, von Thomas
Corneille eingeführt, als galanter Lyriker, Komödienautor, Opernlibrettist,
Verfasser eines Briefromans und nicht zuletzt als gesuchter Salon-Animateur reüssierte.
1683 erschienen seine Dialogues de morts, fiktive Dialoge
zwischen berühmten Toten aus der Antike und der jüngeren Vergangenheit, z.B.
zwischen Sokrates und Montaigne. Hauptthema sind die nach Fontenelle ganz
unberechtigten Vorurteile seiner Zeitgenossen zugunsten der Antike, Vorurteile,
die er seine antiken Sprecher voller Witz ironisch oder pseudo-naiv ad absurdum
führen lässt.
1686 erschienen
seine Entretiens sur la pluralité des
mondes. Es ist
ein fiktiver Dialog, in dem ein gebildeter Mann von Welt einer interessierten
adeligen Dame samt ihrer Tochter (und mit ihnen einem wohl als überwiegend
weiblich vorgestellten Publikum) bei einem nächtlichen Spaziergang im Park
Vorträge über das astronomische Wissen der Zeit gemäß Kopernikus, Galilei,
Kepler und Descartes hält und dabei die Möglichkeit nicht ausschließt, dass es
auch auf anderen Sternen vernunftbegabte Wesen gibt. Von der Kirche wurde das
Werk deshalb, aber auch, weil es insgesamt dem ptolemäischen Weltbild
widersprach, auf den Index gesetzt, doch tat das seinem Erfolg keinen Abbruch.
Ebenfalls 1686 publizierte Fontenelle
seine Histoire des oracles, worin er
in elegantem Plauderton einen lateinischen Traktat zum gleichen Thema
verarbeitet und verschiedene in antiken Quellen beschriebene Weissagungen und
Wunder kritisch in einer Weise beleuchtet, die von den Jesuiten sehr richtig
als Infragestellung auch biblischer Weissagungen und Wunder verstanden wurde.
Als 1687 in der Académie Française die Querelle des Anciens et des
Modernes ausbrach, wurde Fontenelle im Sinne seiner Dialogues de morts einer der ersten Parteigänger Perraults (s. o.)
und griff 1688 auf Seiten der „Modernen“ in den Streit ein mit seiner Digression sur les Anciens et les Modernes.
In den Folgejahren betätigte er sich
weiterhin fleißig als Lyriker, Tragödienautor, Erzähler und
Literaturtheoretiker, war aber nur noch mäßig erfolgreich. 1691 wurde er in die
Académie Française gewählt. 1697 wurde er Mitglied auch der 1666 gegründeten
Académie des Sciences, 1699 avancierte er zu deren Secrétaire perpétuel. Er gab
die Literatur nun weitgehend auf und schrieb in Wahrnehmung seines Amtes
zahlreiche "éloges" von Naturforschern und Erfindern, deren
Leistungen er mit seiner eleganten Feder einem größeren Publikum vorstellte.
1701 wählte ihn auch die Académie des Inscriptions et des Belles Lettres zum
Mitglied.
Bis etwa 1725 war er eine wichtige
Figur im Pariser geistigen und gesellschaftlichen Leben sowie auch etwas in der
Politik, ehe sein Ruhm zu verblassen begann.
Wie so viele Franzosen der Zeit, nahm
Fontenelle die bahnbrechenden Arbeiten Isaac Newtons lange Zeit nicht zur
Kenntnis, sondern blieb der Physik seines Landmanns Descartes verhaftet.
Er verkörperte als erster den dann für
die Epoche der Aufklärung so charakteristischen Typ des „philosophe“, d.h.
eines allseitig interessierten, sowohl belletristische, als auch philosophische
und naturwissenschaftliche Werke verfassenden Autors (wie es auch z.B. Goethe
noch zu sein versuchte).
(Stand: März 07)
18. Jahrhundert (Zeitalter der
Aufklärung / Le Siècle des Lumières)
Alain René Lesage (*8.5.1668
Sarzeau/Bretagne; †17.11.1747 Boulogne-sur-Mer).
Lesage ist wahrscheinlich der erste
Autor der franz. Literatur, der ganz vom Verkauf seiner Produkte am
Literaturmarkt lebte, der sich um 1700 herauszubilden begann.
Er stammte aus einer gutbürgerlichen
Juristenfamilie, verlor aber mit 14 seinen Vater und büßte in den Folgejahren
auch sein Erbe ein, das ein Vormund veruntreute. Nach seiner Schulzeit bei den
Jesuiten in Vannes (Morbihan/Bretagne) studierte er Jura in Paris, wurde als
Anwalt zugelassen und erhielt einen Posten in der (damals privat organisierten)
Steuereintreibung bzw. Steuerpacht der Bretagne. Nachdem er aus unbekannten
Gründen diesen Posten bald verloren hatte und sich als Anwalt nicht hatte
etablieren können, ging er 1698 nach Paris, um dort als Autor tätig zu sein.
Er begann mühsam mit wenig
erfolgreichen Übertragungen und Bearbeitungen spanischer Theaterstücke. Sein
Durchbruch war 1707 die eigene Komödie Crispin, rival de son maître (=C.
als Rivale seines Herrn), ein Stück um den cleveren Diener C., der seinem Herrn
beim Gewinnen einer reichen Braut behilflich sein soll, jedoch die Gelegenheit
zu nutzen versucht, die Mitgift für sich selbst zu angeln, daran zwar durch
Pech am Ende gehindert wird, aber vom Brautvater als fähiger Bursche erkannt
und zum Steuereinnehmer befördert wird. Auch der auf einer spanischen Vorlage
beruhende Roman Le Diable boiteux (=Der hinkende Teufel), der im
gleichen Jahr erschien, schlug gut ein. 1709 erzielte Lesage einen
Skandalerfolg mit der Komödie Turcaret, die in der Figur des Titelhelden
das von allerlei neureichen Arrivisten durchsetzte Milieu der Pariser Bankiers
und Steuerpächter, der „financiers“, an den Pranger stellt und verspottet. Das
schon während der Einstudierung an der Comédie Française von Betroffenen bekämpfte Stück
kam nur dank einem Machtwort des Dauphins zur Aufführung. Es gilt heute als
eine der besten franz. Komödien des 18. Jh.
Nach seinen schlechten Erfahrungen mit
dem Turcaret und der Comédie Française wandte sich Lesage dem
volkstümlichen Pariser Théâtre de la
Foire zu. Für dieses verfasste er in den nächsten Jahrzehnten, z.T. mit Co-Autoren,
wohl mehr als hundert witzig-satirische, wenn auch weniger aggressive Stücke.
Daneben schrieb er einige heute vergessene Romane. Gegen 1715 begann er das
Buch, das als sein Hauptwerk und als bester französischer Picaro-Roman gilt. Es
ist die aktionsreiche, immer noch gut lesbare Histoire de Gil Blas de Santillane (4 Bde, 1715-1735). Die 100
Jahre zurück und nach Spanien verlegte Handlung spiegelt in Wahrheit
zeitgenössische franz. Verhältnisse, wobei aus der Perspektive des
Ich-Erzählers und Protagonisten die verschiedensten Milieus von ganz unten bis
ganz oben kritisch vorgeführt werden. Zugleich, und das ist neu für das Genre,
ist Lesages Picaro eine relativ gebildete Person, die im Verlauf der Handlung
auch eine charakterliche Reifung erfährt, womit Züge der späteren Gattung
Bildungsroman vorweggenommen sind.
Die Figur des Gil Blas war als Prototyp
des scharfsichtigen, aber abgeklärten Spötters bis ins frühe 20. Jh. hinein
allen gebildeten Franzosen geläufig, nicht zuletzt auch als Namenspatron der
von 1879 bis 1914 existierenden satirischen Zeitschrift Gil Blas (in der z.B. Maupassant viele seiner Novellen
publizierte).
(Stand: Jan. 08)
Jean-Baptiste
Rousseau (* 6.4.1671 in Paris; † 16.3.1741 bei Brüssel)
Er galt Anfang des 18. Jh. als der beste
franz. Lyriker seiner Zeit und wurde als „prince des poètes“ gefeiert. Wegen
der formalen Kunst seiner Verse verglich man ihn mit dem großen Malherbe und
wegen der Treffsicherheit seiner satirischen Texte mit Boileau, der ihn als
einen würdigen Nachfolger betrachtete und anleitete. Mit etwa 40 begann er
jedoch, sich das Leben durch eine wachsende Manie zu erschweren, Kollegen und
auch Gönner mit Spottversen (Epigrammen) nicht nur zu verärgern, sondern zu
verunglimpfen. Immerhin wurde er um 1745 noch als „le grand Rousseau“ von dem
jüngeren Jean-Jacques Rousseau unterschieden, als dieser in den Pariser
Literaturbetrieb eintrat. Von den Romantikern, die ihn immerhin noch als einst
angesehenen Lyriker kannten, wurde er endgültig als gefühlskalter Verseschmied
abgestempelt. Erst in neuerer Zeit wird diese oder jene Ehrenrettung versucht
und vor allem sein Talent als Satiriker anerkannt.
Er wuchs auf als einziges Kind eines
kleinbürgerlichen, aber relativ wohlhabenden Schuhmachers, der ihm den Besuch
eines Jesuitenkollegs ermöglichte. Nach Berichten von Zeitzeugen dankte er dies
seinem Vater später damit, dass er sich seiner schämte und in der
Öffentlichkeit nicht von ihm gekannt zu werden wünschte.
Nachdem er zunächst als Sekretär eines
Anwalts gearbeitet hatte, trat er in die Dienste des Comte de Tallart, den er
1697 auf einer längeren Mission als Botschafter nach London begleiten durfte.
Auch andere Türen der guten Pariser Gesellschaft öffneten sich ihm, z.B. die
des Baron de Breteuil, des Vaters von Émilie du Châtelet, der späteren
Mathematikerin und Naturwissenschaftlerin sowie Partnerin Voltaires.
Die dichterische Produktion Rousseaus
scheint zunächst vor allem vom Ehrgeiz bestimmt. Er begann mit einer
Psalmen-Nachdichtung, die er über einen frommen Höfling am fromm gewordenen Hof
des späten Louis XIV zu lancieren schaffte, was ihm den Auftrag einbrachte,
religiöse Lyrik zur Erbauung des Enkels des Königs zu liefern. Zugleich, denn
er hatte auch Anschluss an Philippe de Vendôme, den Statthalter des Malteserordens
in Frankreich, gefunden, verfasste er für dessen freidenkerischen Kreis
erotisch anzügliche und irreligiöse Gedichte.
Sein größter Ehrgeiz war jedoch ein
Erfolg als Dramatiker. So verfasste er zwischen 1694 und 1702 zwei
Opernlibretti und vier Komödien, von denen aber nur eine, Le Flatteur (=der
Schmeichler, 1698), beim Publikum halbwegs ankam. Vier spätere Komödien blieben
ungedruckt und unaufgeführt.
Seinen Ruhm als „Dichterfürst“
verdiente sich Rousseau schließlich mit sakralen und profanen Kantaten und
Oden. In ihnen verarbeitete er (ähnlich wie die Maler der Zeit) meist Stoffe
und Situationen aus der biblischen und antiken Geschichte und vor allem der
antiken Mythologie, die er in kunstvoll ziselierten Versen und Strophen, einem
hochrhetorischen Stil und einer Sprache und Metaphorik voller literarischer,
besonders klassisch-antiker Reminiszenzen darstellte.
1701 wurde er in die Académie des
Inscriptions et Belles-Lettres aufgenommen. Das Angebot eines hochstehenden
Gönners, ihm ein Amt in der Finanzverwaltung zu verschaffen, lehnte er hiernach
stolz als mit seiner Dichterrolle unvereinbar ab.
In den Folgejahren wurde er mehr und
mehr zum Opfer seines schwierigen Charakters. So vermutete er die Ursache
seines Misserfolgs als Dramatiker in einer Verschwörung von Kollegen, die wie
er im Kaffeehaus der Witwe Laurent verkehrten. Als er seinem Ärger mit anonymen
Epigrammen auf sie Luft machte, die er heimlich dort auslegte, erhielt er
Hausverbot und bekam es schließlich sogar mit der Polizei zu tun, als er die
Kollegen per Post noch weiter drangsalierte.
1710 unterlag er deshalb kläglich bei
seiner Kandidatur für die Académie Française gegen Antoine Houdar de la Motte,
was ihn zu neuen gehässigen Epigrammen auf Literaten-Kollegen, insbes. den
einst befreundeten La Motte, aber auch auf höherstehende Personen animierte.
Nachdem
er wegen einiger besonders boshafter Epigramme Schwierigkeiten bekommen hatte,
versuchte er die Autorschaft zu leugnen und sie einem Kollegen zuzuschreiben.
Als dieser seine Verantwortung bestritt, bot Rousseau eine gekaufte
Zeugenaussage gegen ihn auf und brachte
ihn für geraume
Zeit sogar ins Gefängnis. 1712 wurde er jedoch zur Zahlung von 4000 Francs
Schmerzensgeld verurteilt und wegen Verunglimpfung von Personen, aber auch der
Religion, auf Lebenszeit aus Frankreich verbannt.
Nach Aufenthalten in Solothurn/Schweiz
(als Gast beim dortigen franz. Botschafter!), in Wien (wo er drei Jahre lang
von Prinz Eugen alimentiert wurde) sowie in Holland, ließ er sich 1717 in
Brüssel nieder (wo ihn ein Graf von Aremberg aufnahm). Hier erreichte ihn im
selben Jahr das Angebot einer Begnadigung, die der Baron de Breteuil für ihn
erwirkt hatte. Rousseau verlangte jedoch seine gerichtliche Rehabilitierung,
für die aber niemand einzutreten bereit war.
In Brüssel besuchte ihn 1722 Voltaire,
der ihm 1710 in Paris als hoffnungsvoller junger Dichter vorgestellt worden
war. Die beiden Männer schieden im Zorn. Auch andere zunächst wohlwollende
Personen, die Rousseau dank seines Ruhmes immer wieder als Gönner gewann, stieß
er fast regelmäßig vor den Kopf.
Schon 1712 hatte er in Solothurn eine
Werkausgabe publiziert. 1723 ließ er in London unter dem Titel Odes,
cantates, épigrammes et poésies diverses eine zweibändige Ausgabe seines
lyrischen Schaffens erscheinen, die bis 1734 mehr als zehnmal nachgedruckt
wurde. Gegen die Jahrhundertmitte geriet seine Stellung als großer Autor ins
Wanken. Der literarische Geschmack hatte sich in Richtung Rokoko verändert,
d.h. zu mehr Leichtigkeit und Schlichtheit, so dass seine dem barocken
Klassizismus verpflichteten Texte nun als überladen und schwülstig erschienen.
1737, nach einem Schlaganfall,
versuchte er die Erlaubnis zur Rückkehr nach Paris zu bekommen und hielt sich
1738 mehrere Monate unter falschem Namen dort auf. Die Demarchen einiger
letzter Gönner blieben jedoch erfolglos. Auch die ostentative Frömmigkeit, zu
der er sich bekehrt hatte, nutzte offenbar nichts. Die wenigen Literaten, die
er noch kannte, nahmen ihn nicht mehr ernst. Die der Aufklärung nahestehenden
Autoren betrachteten ihn sogar als Unperson. Aus dieser Zeit stammt die anonym
gedruckte spöttisch-herablassende Rousseau-Biografie aus der Feder Voltaires,
die eine wichtige Informationsquelle zu seiner Person darstellt.
Er musste 1739 zurück nach Brüssel, wo
er seine letzten Jahre verbrachte.
(Stand: März 07)
Antoine
Houdar de La Motte (auch La Motte oder La Motte-Houdar
genannt; *17.1.1672 in Paris; †26.12.1731 ebd.)
La
Motte (wie er in Literaturgeschichten meistens heißt) ist heute nur noch
bekannt als wichtige Figur in der Pariser Literatenszene der Zeit und als ein
Hauptakteur der sog. zweiten „Querelle des Anciens et des Modernes“ (siehe oben
unter Perrault). Er war aber dreißig Jahre hindurch ein geachteter Lyriker,
Dramatiker und Literaturtheoretiker.
Er
war Sohn eines Hutmachers namens Houdar, besuchte ein Jesuitenkolleg und begann
ein Jurastudium. Sein eigentliches Interesse galt jedoch früh dem Theater. Nach
dem Misserfolg seines ersten aufgeführten Stücks, der Komödie Les originaux (1693),
beschloss er, Mönch zu werden, brach sein Noviziat aber ab und wurde wieder
Literat. Er schrieb nun eine ganze Serie von Tragödien, Komödien und vor allem
Ballett- und Opernlibretti, von denen einige, z.B. die Ballettkomödie L’Europe
galante, die „heroische Pastorale“ Issé (beide 1697), das Ballett Le
Triomphe de l’Art (1700) oder die vertonte Tragödie Semelé (1709)
sehr erfolgreich waren, während die meisten anderen gewissermaßen nur
Verbrauchsware darstellten und mit Ende der jeweiligen Spielzeit nicht neu
aufgenommen wurden.
Nach
seinen ersten Erfolgen fand La Motte Zutritt zu den literarischen Salons der
Hauptstadt z.B. dem der Duchesse du Maine oder der Marquise de Lambert, wo er
effektvoll seine Gedichte, meistens Oden, vorzutragen verstand. 1709 gab er sie
gesammelt in dem Band Odes heraus, in dem man, was neu war für Lyrik,
gelegentlich auch die von König Louis XIV und seinen endlosen Kriegen
verfinsterte politische Gegenwart thematisiert findet.
1710
wurde er in die Académie Française gewählt, gegen den einst befreundeten
Kollegen Jean-Baptiste Rousseau (s.o.), der seiner Enttäuschung mit wütenden
Epigrammen auf ihn und andere Literaten Luft machte, Attacken, die ganz Paris unterhielten,
aber auf Rousseau selbst zurückfielen.
1714
setzte La Motte (inzwischen übrigens erblindet) ein größeres Stück aus einer
kürzlich erschienenen Prosaübersetzung der Ilias in Verse um und hängte
einen Discours sur Homère daran an, in dem er den antiken Autor als für
seine eigene Zeit zwar anerkennenswert, jedoch für die moderne Zeit nicht mehr
mustergültig beurteilte. Als ihn hierauf die Übersetzerin, Mme Dacier, eine
Verehrerin der Literatur der Antike, heftig kritisierte, antwortete La Motte mit
der Schrift Réflexions sur la critique und löste damit eine Fortsetzung
der Querelle des Anciens et des Modernes von 1687 aus, bei der er von so
bekannten Autoren wie Fontenelle (s.o.) aber auch dem jungen Marivaux (s.u.)
unterstützt wurde. Im Kontext dieses Streites plädierte er nun paradoxerweise
für den Gebrauch der Prosa anstelle von Versen in allen erzählenden und
dramatischen Gattungen, was z.B. den jungen Voltaire (s.u.) auf der Gegenseite
zu einer ironischen Attacke animierte.
Sein
Plädoyer für die Prosa hinderte La Motte allerdings nicht, 1719 ein Bändchen
mit gereimten Fabeln zu publizieren und, nach dem Misserfolg dreier
Prosa-Komödien, ab 1722 seine letzten Stücke, vier Tragödien, wieder in
Alexandrinern zu verfassen.
1723
kam sein auch längerfristig erfolgreichstes Werk heraus, die am Königshof vom
Portugal des 14. Jh. spielende Tragödie Inès de Castro. Es ist ein für
heutige Begriffe sehr rührseliges, psychologisch flaches Stück um die (wohl
historische) edelmütige Hofdame Ines und ihre (nicht historische) böse Feindin,
die Königin, von der vergiftet sie am Ende stirbt, sehr zum Entsetzen der
anderen, allesamt edelmütigen Personen. La Motte nahm hierbei Elemente des
späteren, ebenfalls meist hochmoralischen Drame bourgeois (Bürgerliches Trauerspiel)
vorweg und wagte es als Erster, in einer Tragödie Kinder auftreten zu lassen,
wenngleich nur flüchtig und stumm.
In
den 1720er Jahren befasste er sich auch mit der Theorie des Theaters und
veröffentlichte 1730 vier Discours sur la tragédie und eine Suite des
réflexions sur la tragédie. Hierin plädiert er für eine Flexibilisierung
des klassischen Prinzips der drei Einheiten, wonach eine Tragödie nur einen
einzigen Schauplatz haben, höchstens 24 Stunden Zeit umfassen und keine
Nebenhandlungen enthalten durfte. Da die Forderung La Mottes offenbar in der
Luft lag, setzte sie sich mehr oder weniger zügig durch.
(Stand: Febr. 08)
Prosper Jolyot de Crébillon (eigentlich Prosper Jolyot, sieur de
Crais-Billon; *13.1.1674 in Dijon; † 17.6.1762 in Paris)
Heute auch gebildeten Franzosen
höchstens noch als historische Figur bekannt, war Crébillon (wie er in den
Literaturgeschichten schlicht heißt) der bedeutendste Tragödienautor der
Generation zwischen Racine und Voltaire.
Er wuchs auf als Sohn eines Melchior
Jolyot, eines höheren Justiz-Amtsträgers, dem das kleine Landgut Crais-Billon
nahe Dijon gehörte, dessen Namen er nach amtsadeliger Manier an den
eigentlichen Familiennamen angehängt hatte.
Crébilon begann seine Schulbildung auf
dem Jesuitenkolleg von Dijon und beendete sie auf dem Pariser Collège Mazarin.
Danach blieb er in der Hauptstadt und absolvierte hier ein Jurastudium. Zwar
erhielt er die Zulassung als Anwalt, wurde aber Sekretär eines Staatsanwaltes.
Daneben genoss er das Leben in der Hauptstadt und im Umkreis der „Basoche“, des
Vereinswesens der Angestellten der hohen Pariser Gerichte.
Erst nachdem sein Chef seine
Theaterleidenschaft bemerkt und ihn zum Schreiben ermuntert hatte, versuchte
sich Crébillon (wie er sich nun nannte) als Tragödienautor. Er begann 1703 mit La
Mort des enfants de Brutus, das jedoch nicht angenommen wurde. 1705 war Idoménée
sein Durchbruch, dem er mit Erfolg eine Serie weiterer historisierender
Tragödien folgen ließ: Atrée et Thyeste (1707), Électre (1708)
und Rhadamiste et Zénobie (1711, sein wohl bestes Sück).
1707 heiratete er unauffällig
Marie-Charlotte Péage, Tochter eines kleinbürgerlichen Pariser Apothekers, die
kurz darauf einen Sohn gebar: den späteren Romancier Claude Crébillon.
Crébillons Spezialität und sicher sein
Erfolgsrezept in seiner besten Zeit waren schaurige Effekte auf der Bühne (ein
Vater trinkt beinahe das Blut seines von seinem Bruder ermordeten Sohnes, ein
anderer bringt erst seinen Sohn um, dann sich selbst). Hiermit ging er bewusst
bis an die Grenzen der „bienséance“ (Sittsamkeit), die sich die klassische
Dramaturgie à la Corneille oder Racine gesetzt hatte, als deren würdiger
Nachfolger er eine Weile galt.
Mit Xerxès (1714) und Sémiramis
(1717) stellte sich jedoch der Misserfolg ein. Crébillon zog sich enttäuscht
vom Theater zurück. Finanzielle Schwierigkeiten (sein Vater hatte statt des
erhofften Erbes Schulden hinterlassen) sowie eine frühe Verwitwung machten ihm
zusätzlich zu schaffen und ließen ihn vereinsamen.
Erst 1726 gelang ihm ein Comeback mit
einem neuen Stück: Pyrrhus. Dessen passabler Erfolg ließ ihn wieder Fuß
fassen im Pariser Literaturbetrieb. 1731 wurde er in die Académie Française
aufgenommen, wo er mit einer gereimten Antrittsrede Aufsehen erregte. 1733
wurde er als Günstling der theaterbegeisterten neuen königlichen Mätresse
Madame Pompadour zum „königlichen Zensor für schöngeistige und historische
Schriften“ ernannt, 1735 darüberhinaus zum „Polizei-Zensor“. 1745 erhielt er
zudem eine „Pension“ (jährliche Gratifikation) von 1000 Frs. aus der Schatulle
des Königs zugesprochen, so dass er nun finanziell gutgestellt war.
1748 wurde sein neues Stück Catalina
auf Kosten des Königs aufgeführt und von den Höflingen demonstrativ
beklatscht und gelobt, um einen anderen Günstling Mme de Pompadours zu
demütigen, der König Louis XV lästig geworden und gerade in Ungnade gefallen
war: Voltaire.
Da er von diesem ohnehin als Feind
betrachtet wurde, nachdem er 1742 dessen Stück Mahomet verboten hatte,
musste Crébillon erleben, dass Voltaire sich an ihm rächte, indem er in den
Folgejahren parallele Versionen zu nicht weniger als fünf seiner Tragödien
verfasste, um deren Mittelmäßigkeit zu erweisen und die eigene Überlegenheit zu
demonstrieren.
Das letzte Stück Crébillons, Le
Triumvirat (1754), blieb ohne Erfolg.
Sein Sohn Claude Crébillon (1707-1777)
wird von Literarhistorikern als relativ bedeutsam für die Entwicklung der
Gattung Roman im 18. Jahrhundert eingeschätzt.
(Stand: Juli 08)
Saint-Simon (=Louis de
Rouvroy, duc de Saint-Simon; *16.1.1675 Versailles; †2.3.1755 Paris).
Saint-Simon (wie er in der
Literaturgeschichte heißt) gilt als ein, wenn nicht sogar als der Klassiker
unter den franz. Memoirenautoren.
Er war einziger Sohn eines schon alten,
reich begüterten Adeligen, der von Louis XIII in den Herzogsrang erhoben worden
war. Seine Taufpaten waren Louis XIV und die Königin. Er wuchs auf in Paris und
Versailles und hatte als Spielkameraden die „enfants de France“, d.h. die
Kinder der königlichen Familie, insbes. den späteren Regenten Philippe
d'Orléans. Er erhielt eine vorzügliche Bildung; unter anderem lernte er, was
damals selten war in Frankreich, deutsch sprechen und schreiben.
Mit 16 wurde er offiziell dem König
vorgestellt und begann seine Ausbildung als Offizier. 17jährig erhielt er die
Feuertaufe im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1686–97), in dem es erstmals einer
Allianz europäischer Staaten gelang, den aggressiven Imperialismus von Louis
XIV zu bremsen. Mit 18 erbte Saint-Simon beim Tod seines Vaters den
Herzogstitel und kam am Hof in Kontakt mit latent oppositionellen Adelskreisen,
wo man von der Beschränkung der absoluten Macht des Königs und der
Wiederherstellung der alten Rechte des Adels träumte.
19jährig las er in einem Feldlager in
der Pfalz einen Memoirenband und hatte die Idee, selber auch so etwas zu
schreiben. Er begann in der Tat mit dem Aufzeichnen von Überlegungen und
Beobachtungen, kam dann aber jahrzehntelang über Fragmente nicht hinaus.
20jährig ließ er sich mit einer wohldotierten 17jährigen Hocharistokratin
verheiraten, in die er sich anschließend verliebte und mit der er drei Kinder
bekam. Mit 22 hatte er eine religiöse Krise und stand hinfort dem
strenggläubigen Jansenismus nahe, was seine latente Opposition gegenüber König
Louis verstärkte, der seinerseits die Jesuiten stützte, die Intimfeinde der
Jansenisten.
Mit 27 – inzwischen hatte Louis den
Spanischen Erbfolgekrieg (1701-13) begonnen – quittierte Saint-Simon ostentativ
den Dienst als Offizier, weil eine erhoffte Beförderung ausgeblieben war.
Hiernach lebte er überwiegend im Schloss
von Versailles als hochrangiger Höfling, der eifersüchtig über seinen Status
wachte. Langsam wuchs seine innere Distanz zu dem alternden, despotischer
werdenden König. Denn er war nicht nur Jansenist, sondern sympathisierte auch
mit den politischen Reformern, die sich in der Hoffnung auf den baldigen Tod
des Königs um den Dauphin (Thronfolger) scharten. Als dieser 1711 plötzlich
starb und 1712 auch sein Sohn, der neue Hoffnungsträger der Reformer, schwankte
Saint-Simon enttäuscht zwischen Rückzug ins Private und Flucht nach vorn.
Er entschied sich für das Letztere und
schrieb z.B. anonym einen fulminanten (seinem Adressaten aber sicher unbekannt
gebliebenen) offenen Brief an den alten Louis XIV, dem er nicht weniger
vorwarf, als dass er Frankreich und die Monarchie mit seinen Kriegen und seinem
Despotismus ruiniert habe. Etwas später stellte er in der Schrift Projets de gouvernement (1714)
Überlegungen an für eine von Ministerräten statt Ministern geführte Regierung.
Zugleich versuchte er Stimmung für seinen Jugendfreund Philippe d'Orléans zu
machen, einen der Anwärter auf den Posten des Regenten, der nach dem für bald
erwarteten Tod des Königs die Herrschaft für dessen noch unmündigen Urenkel
Louis XV würde ausüben müssen.
Nach dem schließlichen Ableben des
77jährigen Louis XIV (1715) und der Einsetzung Philippes als Regent konnte
Saint-Simon endlich eine aktive politische Rolle spielen als einflussreiches
Mitglied des nach seinen Ideen neu geschaffenen Kronrats. Allerdings wurde er
dort von geschickteren Leuten, vor allem dem Ex-Erzieher Philippes, dem
Kardinal Dubois, langsam an den Rand gedrängt und beim plötzlichen Tod des
Regenten 1723 praktisch ausgebootet.
Er zog sich auf seine Ländereien zurück
und überlegte einmal mehr, ob er weiter politisch aktiv zu sein versuchen oder
sich eher schriftstellernd, insbesondere als Historiker, betätigen sollte.
Schließlich tat er das Letztere. 1729 bekam er das Tagebuch geliehen, das ein
Versailler Höfling, der Marquis de Dangeau, von 1684 bis 1720 geführt hatte,
und er begann es aus seiner Sicht zu kommentieren. Daneben schrieb er eine
Reihe historischer Abhandlungen über sehr spezielle Themen, z.B. die
Verheiratungen legitimierter außerehelicher Töchter von franz. Königen mit
Söhnen aus dem franz. Hochadel.
Erst 1739, mit 64 und im geistigen
Ambiente der sich durchsetzenden Aufklärung, kehrte Saint-Simon zu seiner Idee
von 1694 zurück und begann sein bedeutendstes, heute allein noch bekanntes
Werk: die Mémoires. Diese decken die
Zeit von 1691 bis 1723 ab, d.h. vom Beginn bis zum Ende der Höflingskarriere
Saint-Simons in Versailles. Das sehr umfangreiche Werk enthält nicht nur die
persönlichen Erinnerungen des Autors, sondern auch viele dokumentarische
Materialien und Informationen. Es war erst gegen 1750, nach zehn Jahren Arbeit,
abgeschlossen und wurde, von Auszügen abgesehen, sogar erst 1829/30, d.h.
postum, gedruckt. Hiernach erlangte es rasch Anerkennung als ein Meisterwerk
der Gattung Memoiren und fand beachtliche Verbreitung, nicht zuletzt bei
zahlreichen Schriftstellern von Stendhal bis zu Proust, die an Saint-Simon eine
Darstellungsweise schätzten, die trotz häufiger Bandwurmsätze sehr spontan und
im Ton unverwechselbar wirkt.
Für Historiker sind Saint-Simons Mémoires darüber hinaus eine wichtige,
naturgemäß nicht eben neutrale Quelle über das Alltagsleben und über die
Machtkämpfe in Versailles unter dem späten Louis XIV und dem frühen Louis XV.
(Stand: Jan. 07)
Marivaux (=Pierre Carlet,
auch Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux, *4.2.1688 Paris; †12.2.1763 ebd.)
Marivaux, wie er in der
Literaturgeschichte heißt, ist einer der bedeutendsten franz. Romanciers und
Dramatiker der Zeit um 1730. Unklar ist, woher der Name Marivaux stammt, den
er, offenbar erstmals 1716 in der längeren Form „Carlet de Marivaux“ benutzte.
(Der vor allem in Lexika zusätzlich zu findende Name „de Chamblain“ war
eigentlich der eines älteren Cousins, des bekannten Architekten J.-B. Bullet de
Chamblain, und wurde von Marivaux wohl allenfalls gelegentlich benutzt.)
Geboren wurde er in Paris als Pierre
Carlet, Sohn eines nichtadeligen mittleren königlichen Beamten, der wenig
später Kontrolleur an der Münze in Riom wurde, der damaligen Hauptstadt der
Provinz Auvergne. Seine Mutter Marie Anne war Schwester des erfolgreichen
Pariser Architekten Pierre Bullet und blieb zunächst auch mit den Kindern in
Paris. Die Jugendjahre ab 12 verlebte Marivaux dann doch in Riom, wo er seine
Schulbildung auf einem Kolleg der Oratorianer erhielt und vielleicht noch sein
erstes Stück verfasste, Le Père prudent et équitable [=Der kluge und
gerechte Vater], sowie einen Roman begann, Les effets surprenants de la
sympathie [=Die überraschenden Wirkungen der Sympathie].
Spätestens 1710 war er wieder in Paris,
jedenfalls immatrikulierte er sich in diesem Jahr dort für ein Jurastudium.
Doch studierte er offenbar kaum, sondern schriftstellerte. Auch fand er in dem
Zensor, der 1712 die ersten drei Bände der Effets genehmigte, dem
bedeutenden Frühaufklärer Fontenelle (s.o.), einen Protektor, der ihn in
Literatenzirkel einführte. 1713 schrieb er einen weiteren Roman, Pharsamon, Ou les folies [=Verrücktheiten]
romanesques (den er erst 1737 drucken ließ); 1714 verfasste er die längere
Erzählung La Voiture embourbée [=Die festgefahrene Kutsche] und
vollendete mit Band 4 und 5 die Effets. 1715 gab er einen Télémaque travesti in Druck, eine Parodie von Fénelons
vielgelesenem Bildungsroman Les aventures
de Télémaque (1699). 1716 ließ er eine Homer-Parodie folgen, L'Iliade travesti, mit der er sich in
den Literaten-Streit um Homer einmischte, der gerade wogte, wobei er, zusammen
mit Fontenelle, A. Houdar de la Motte (s.o.) gegen die Homer-Übersetzerin Mme
Dacier unterstützte, die die traditionalistische These von der Überlegenheit
der antiken Literatur über die moderne verfocht.
Nach seiner Heirat 1717 investierte
Marivaux 1718 sein eigenes Geld sowie vor allem wohl das seiner wohlhabenden
Frau in Aktien der Compagnie de l’Occident, einer Bank- und
Handelsgesellschaft, die soeben von dem schottischen Bankier John Law gegründet
worden war nach dem Vorbild der großen niederländischen und englischen
Übersee-Handelsgesellschaften. Als 1720 die spekulativ überbewerteten Aktien
der Compagnie in den Keller gingen
und das „Lawsche System“ zusammenbrach, waren auch Marivaux, seine Frau und
seine kleine Tochter (*1719) über Nacht arme Leute.
Er legte nun offenbar noch ein
Jura-Examen ab, betätigte sich dann aber doch nicht als Anwalt oder Ähnliches.
Vielmehr verfasste er Theaterstücke, vor allem Komödien, die er der Truppe der
Comédiens italiens und ihren Stars quasi auf den Leib schrieb. Sein Durchbruch
war gleich 1720 Arlequin poli par l’amour. Seine Spezialität wurde rasch
die Darstellung des unvermerkten und ungewollten Sich-Verliebens zweier
Partner, und zwar insbesondere solcher, die zunächst durch große
Standesunterschiede getrennt zu sein scheinen, sich dann gottlob jedoch als
sozial gleichrangig und damit als passend erweisen (z.B. La Surprise de l'amour, 1722; La
double inconstance, 1723; Le Prince
travesti, 1723; Le Jeu de l'amour et
du hasard, 1730). Daneben behandelte er genuin aufklärerische Themen, so
z.B. in L'Ile des esclaves (1725), wo
er zeigt, wie zufällig und ungerecht in der Kastengesellschaft der Zeit die
Diener- und die Herrenrollen verteilt sind; oder in L'Ile de la Raison (1727),
wo er sehr vernünftige „Wilde“ mit sich als sehr unvernünftig und
vorurteilsvoll erweisenden Europäern konfrontiert. Der beachtliche Erfolg
seiner Stücke verschaffte ihm den Zutritt zu den renommiertesten Salons der
Hauptstadt.
Wohl Ende 1726 (inzwischen war er
verwitwet) begann Marivaux den Roman La
Vie de Marianne, der heute als sein bestes Werk gilt. Es ist die Geschichte
eines Findelkindes, das einzig dank seiner Qualitäten (Schönheit, Geist, Gefühl
und Tugend) von einem Adeligen geheiratet und so in den Adel aufgenommen werden
sollte, um vermutlich anschließend als auch adelig geboren erkannt zu werden.
Bis hierhin war der Autor aber noch lange nicht gekommen, als er 1737 nach
vielen hundert Seiten und acht schon gedruckten Bänden die Haupthandlung
abbrach und 1742 eine ebenfalls nach zwei Bänden aufgegebene längere
Binnenhandlung um die eher unglückliche Nonne Tervire anfügte. Vermutlich hatte
er das Utopische seines Konzepts der Figur Mariannes erkannt und hatte er sich
danach anhand der Figur Tervires klar gemacht, dass er auch seine eigene
Tochter letztlich nur Nonne werden lassen konnte (wie es 1745 geschah), weil er
ihr keine ordentlichen Mitgift zu geben imstande war.
1734/35 schrieb er fünf Bände eines
weiteren Romans, Le Paysan parvenu,
der die Geschichte vom Aufstieg eines tüchtigen aber dennoch rechtschaffenen
jungen Dörflers bis zum reichen „financier“ (=Bankier) erzählen sollte. Obwohl
ebenfalls unvollendet, gehört auch der Paysan zu den besten Werken
Marivaux’.
Neben Theaterstücken und Romanen
verfasste er immer wieder auch Feuilletonserien nach dem Vorbild des berühmten Spectator, den 1711 Joseph Addison in
London gegründet hatte: Lettres sur les
habitants de Paris (1717/18), Le
Spectateur français (1721-24), L'indigent
philosophe (1726) und Le Cabinet du
philosophe (1734).
1742 wurde er schließlich Mitglied der
Académie Française und kurz darauf ihr Secrétaire perpétuel. Diese Funktion,
die ihm Dienstwohnung, adelsähnliche Privilegien und erfreuliche
Prestigemöglichkeiten bot, ließ ihn als Autor praktisch verstummen und bildete
bis zum Tod seinen Lebensinhalt.
Die besondere Leistung des Dramatikers
Marivaux war die Übertragung der spielerisch-eleganten Sprache der Pariser
Salons seiner Zeit in seine Stücke. Nachdem diese Sprache sich spätestens mit
der Revolution überlebt hatte, erschien sein Stil den Romantikern nur noch als
manieriertes „marivaudage“. Ende des 19. Jh. wurde diese negative Sicht jedoch
revidiert, und Le Jeu de l'amour et du
hasard zählt seitdem wieder zu den meistgespielten, mitunter auch bei uns
aufgeführten, franz. Komödien. Die Romane La
Vie de Marianne und Le Paysan parvenu
gelten zu Recht als zwei der lesenswertesten franz. erzählenden Werke des 18.
Jh.
(Eine Deutung von La Vie de Marianne findet man in meinem Buch Interpretationen, Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter, 1997)
(Stand: Apr. 08)
Montesquieu (=Charles Louis
de Secondat, Baron de Montesquieu; *18.1.1689 auf Schloss La Brède bei
Bordeaux; †10.2.1755 Paris).
Montesquieu, wie er in der
(Literatur-)Geschichte schlicht heißt, war zunächst als belletristischer Autor
erfolgreich. Seinen Nachruhm verdankt er jedoch vor allem seinen geschichtsphilosophischen und
staatstheoretischen Schriften. Er gilt als einer der großen franz. Autoren der
europäischen Aufklärung.
Er war ältester Sohn seiner Eltern und
verbrachte seine Kindheit auf dem Landgut La Brède, das seine Mutter in die Ehe
eingebracht hatte. Sein Vater war jüngerer Sohn aus der altadeligen Familie
derer de Secondat, die protestantisch geworden, im Gefolge von Henri IV aber
zum Katholizismus zurückgekehrt und mit der Erhebung ihres Familiensitzes
Montesquieu zur „baronnie“ belohnt worden waren. Der Großvater hatte mit der
Mitgift, die er erheiratet hatte, das Amt eines Gerichtskammer-Präsidenten (président à mortier) am Parlement von
Bordeaux gekauft, dem höchsten Gericht der Aquitaine, womit er zum hohen
Amtadel zählte, der sog. noblesse parlementaire.
Mit sieben verlor Montesquieu seine
Mutter. Von 1700 bis 1705 besuchte er als Internatschüler das Kolleg der
Oratorianer-Mönche in Juilly unweit Paris, das für den kritischen Geist bekannt
war, der dort herrschte, und wo er auf mehrere Cousins aus seiner
weitverzweigten Familie traf. Er erwarb fundierte Kenntnisse in Latein,
Mathematik und Geschichte und verfasste ein historisches Drama, von dem sich
ein Fragment erhalten hat.
Von 1705 bis 1708 studierte er Jura in
Bordeaux. Nach dem Abschluss (licence) und der Zulassung als Anwalt bekam er
vom Oberhaupt der Familie, dem kinderlosen ältesten Bruder seines Vaters, den
Baron-Titel überschrieben, den jener, nachdem er den höherrangigen
Präsidententitel seines Vaters geerbt hatte, nicht mehr brauchte. Da später
Montesquieu den Titel und das Amt erben sollte, ging er nach Paris, um sich
juristisch und anderweitig fortzubilden. Dort fand er Anschluss an geistig
interessierte Kreise und begann in einer Art Tagebuch Gedanken und Überlegungen
der verschiedensten Art niederzuschreiben.
Als 1713 sein Vater starb, kehrte er
zurück nach La Brède. 1714 erhielt er, sicher über seinen Onkel, das Amt eines Gerichtsrats (conseiller) am
Parlement von Bordeaux.
1715 heiratete er, durch Vermittlung
des Onkels, Jeanne de Lartigue, eine Hugenottin, die 100.000 Frs. Mitgift einbrachte.
Das Paar bekam rasch einen Sohn und
eine Tochter (1716 und 1717) sowie 1727 eine weitere Tochter, lebte aber sehr
häufig von einander getrennt.
Neben seiner Tätigkeit als Richter interessierte
sich Montesquieu auch weiterhin intensiv für die verschiedensten
Wissensgebiete. So verfasste er u.a. eine wirtschaftspolitische Denkschrift (Mémoire
sur les dettes de l’État) an die Adresse von Philippe d’Orléans, der nach
dem Tod von Louis XIV (Sept. 1715) als Regent für den noch unmündigen Louis XV
die Herrschaft ausübte.
1716 wurde er in die Académie von
Bordeaux aufgenommen, einen jener locker organisierten Zirkel, die in größeren
Städten Gelehrte, Literaten und sonstige
Intellektuellen vereinten. Hier betätigte er sich mit Vorträgen und
kleineren Schriften, z.B. einer Dissertation sur sur la politique des
Romains [=Römer] dans la religion, worin er nachzuweisen versucht, dass
Religionen ein nützliches Instrument zur Moralisierung der Untertanen eines
Staatswesens sind.
Ebenfalls 1716, d.h. kurz nachdem der
Regent die von Louis XIV beschnittene politische Macht der Parlements wieder
gestärkt hatte, erbte Montesquieu von seinem Onkel dessen Amt als
Gerichtspräsident. Seine geistigen Interessen verfolgte er, wie zuvor, nebenher
weiter.
1721 wurde er über Nacht berühmt durch
einen kleinen Briefroman, den er 1717 begonnen hatte und der bald nach seinem
anonym Erscheinen in Amsterdam von der Zensur verboten wurde: die Lettres persanes. Den Inhalt des Werkes,
das heute als ein Schlüsseltext der Aufklärung gilt, bildet die fiktive
Korrespondenz zweier fiktiver Perser, Usbek und Rica, die von 1711 bis 1720
Europa bereisen und Briefe mit Daheimgebliebenen wechseln. Hierbei schildern
sie – und dies ist der aufklärerische
Kern des Werkes - ihren Korrespondenzpartnern die kulturellen, religiösen und
politischen Verhältnisse vor allem in Frankreich und besonders in Paris mit
einer Mischung aus Staunen, Kopfschütteln, Spott und Missbilligung (was spätestens
seit Pascals Lettres provinciales ein
beliebtes Verfahren war, um den Leser quasi zum Teilhaber einer Sicht von außen
zu machen und ihm so einen kritischen Blick auf das eigene Land zu
ermöglichen). Daneben findet Montesquieu Gelegenheit, auch andere Themen im
Sinne der Aufklärung zu behandeln, wie Religion und Priestertum, Sklaverei,
Polygamie, Benachteiligung der Frauen u.a.m. Darüberhinaus ist in die Lettres ein romanesker, mitunter
flirrend erotischer Handlungsstrang um die daheim gebliebenen Haremsdamen
Usbeks eingeflochten, der an dem Erfolg des Buches nicht ganz unbeteiligt war.
Nachdem er mit den Lettres
bekannt geworden war, entwickelte Montesquieu die Gewohnheit, jährlich einige
Zeit in Paris zu verbringen. Hier verkehrte er in einigen mondänen Salons, z.B.
dem von Mme de Lambert, sowie gelegentlich am Hof, vor allem aber in
intellektuellen Zirkeln.
1725 erzielte er nochmals einen
beachtlichen Bucherfolg mit dem rokokohaft-galanten pastoralen kleinen Roman Le Temple de Gnide, den er angeblich in
einem älteren griechischen Manuskript gefunden und übersetzt hatte. Das heute
völlig vergessene Werk wurde bis zum Ende des 18. Jh. viel gelesen und mehrfach
in andere Sprachen übertragen, u.a. in italienische Verse. Es bekam als einziges
der Werke Montesquieus schon bei seiner Erstveröffentlichung das Plazet der
Zensurbehörde.
1726 verkaufte er sein offenbar wenig
geliebtes Präsidentenamt, um mehr Zeit und auch Geld für seine Aufenthalte in
Paris zu haben.
1728 wurde er, allerdings erst im
zweiten Anlauf, in die Académie française gewählt. Im selben Jahr (bald nach
der Geburt seiner jüngsten Tochter) brach er auf zu einer dreijährigen
Bildungs- und Informationsreise, die ihn durch Österreich, Ungarn, Italien,
mehrere deutsche Staaten, Holland und vor allem England führte, wo er sich
länger aufhielt und in London Mitglied der gelehrten Royal Society sowie einer
Freimaurerloge wurde.
1731 kehrte er nach La Brède zurück, wo
er von nun an überwiegend blieb. 1734 publizierte er in Holland das Buch
Considérations sur les causes de la
grandeur des Romains et de leur décadence. Hierin versucht er am Beispiel des Aufstiegs des Römischen
Reichs und seines Niedergangs (den er mit Cäsars Alleinherrschaft einsetzen
sieht) so etwas wie gesetzmäßige Verläufe im Schicksal von Staaten nachzuweisen
und übt dabei verdeckte Kritik am franz. Absolutismus.
Sein wichtigstes Werk wurde jedoch die
geschichtsphilosophische und staatstheoretische Schrift De l'esprit des lois (Genf 1748), Resultat von zwanzig Jahren
Arbeit. Hierin versucht er einerseits, die Determinanten zu finden, nach denen
einzelne Staaten ihr jeweiliges Regierungs- und Rechtssystem entwickelt haben
(z.B. Größe, Geographie, Klima, Wirtschafts- und Sozialstrukturen, Religion,
Sitten und Gebräuche); andererseits versucht er – nicht zuletzt in Opposition
gegen den im Milieu der Parlements ungeliebten Absolutismus – die theoretischen
Grundlagen eines universell möglichen Regimes zu entwickeln. Zentrales Prinzip
ist hierbei für ihn die sog. Gewaltenteilung, d.h. die institutionelle Trennung
von Gesetzgebung (Legislative), Rechtsprechung (Judikative) und Staatsgewalt
(Exekutive). Montesquieus Buch fand sofort große und weitgestreute Beachtung
und löste heftige Attacken der Generalversammlung des frz. Klerus, der Sorbonne
und vor allem der Jansenisten aus. 1751 wurde es von der kath. Kirche auf den
Index der verbotenen Bücher gesetzt. Eine 1750 publizierte Verteidigungsschrift
Montesquieus, die Défense de l’Esprit des lois, war nutzlos geblieben.
Seine letzten Lebensjahre verbrachte er
zunehmend erblindend, teils in Paris, teils auf La Brède, wobei ihn seine
jüngste Tochter als Sekretärin unterstützte, z.B. bei der Abfassung des
Artikels „goût“ für die Encyclopédie. Er starb an einer vermutlich
relativ banalen Infektion bei einem winterlichen Paris-Aufenthalt, der sein
letzter hatte sein sollen und es, anders als gedacht, auch wurde.
Das Montesquieu’sche System der
Gewaltenteilung kam dauerhaft zum ersten Mal 1777 in der Verfassung der
Vereinigten Staaten zum Tragen und ging 1791 in die kurzlebige erste Verfassung
ein, die von der Nationalversamlung im Rahmen der Französischen Revolution
verabschiedet wurde. Heute ist es zumindest im Grundsatz in allen
demokratischen Staaten verwirklicht.
(Stand: Sept. 09)
L'Abbé Prévost (=Antoine-François
Prévost [d'Exiles], *1.4.1697 Hesdin/Artois; †23.11.1763 Courteuil bei Paris).
Dieser in der Literaturgeschichte als
„l'Abbé Prévost“ figurierende Vielschreiber ist nur mit einem einzigen seiner
zahllosen Werke bekannt geblieben, dem kleinen, immer noch gut lesbaren Roman Manon
Lescaut.
Er wuchs auf in Hesdin als zweiter Sohn
eines aus dem reichen Bürgertum stammenden königlichen Richters (procureur du roi), dem sein (gekauftes) Amt
adelsähnliche Privilegen verschaffte, ohne ihn jedoch schon de jure zu adeln.
Seine glückliche Kindheit endete abrupt, als er mit 14 seine Mutter und seine
wenig jüngere Lieblingsschwester verlor. Ein Jahr später (1712) überwarf er
sich offenbar mit seinem Vater, beendete (vorzeitig?) seine Studien auf dem
heimischen Jesuitenkolleg, wurde Soldat und nahm am Spanischen Erbfolgekrieg
teil. Bei dessen Ende 1713 verließ er das Militär, und absolvierte am
jansenistisch orientierten Pariser Collège d'Harcourt das „rhétorique“ genannte
letzte Schuljahr. Hiernach wurde er Novize im Jesuitenorden, dem er aber 1715
den Rücken kehrte, um für kurze Zeit wiederum Soldat zu werden. Nach einem
neuerlichen Zwischenspiel bei den Jesuiten nahm er ab 1718 als
Offiziersaspirant am franz.-spanischen Krieg teil, desertierte jedoch 1719 und
flüchtete sich 1720 nach einigen unsteten und schwierigen Monaten in den
Benediktinerorden, wo er 1721 sein Gelübde ablegte, angeblich unter inneren
Vorbehalten.
In den nächsten Jahren lebte er in
verschiedenen, überwiegend jansenistisch ausgerichteten Klöstern, studierte
Theologie, wurde zum Prieser ordiniert und betätigte sich als Prediger. Da er
seinen Oberen offenbar als Mann mit einer guten Feder auffiel, wurde er 1727 in
das Pariser Kloster Saint-Germain-des-Prés abgeordnet, wo er an einem
historiographischen Gemeinschaftswerk der Benediktiner, der vielbändigen Gallia christiana mitarbeiten sollte.
Seine eigenen Vorstellungen waren
sichtlich aber andere: Er hatte inzwischen einen Roman begonnen, dessen Bände I
und II er 1728 zu veröffentlichen schaffte: Mémoires
et Aventures d'un homme de qualité qui s'est retiré du monde. Hiernach
versuchte Prévost, der schon länger Schwierigkeiten mit seinem Abt hatte, sich
in ein Kloster mit laxeren Regeln versetzen zu lassen, um mehr Zeit zum Schreiben
zu bekommen. Als dies nicht gelang, verließ er heimlich sein Pariser Kloster
und schrieb in einem Versteck. Mit dem Honorar der Bände III und IV der Mémoires ging er über Holland nach
London, um sich dem königlichen Haftbefehl (lettre de cachet) zu entziehen, den
sein Abt wegen unerlaubten Sich-Entfernens gegen ihn erwirkt hatte.
In London konvertierte Prévost zum
Anglikanismus und wurde Hauslehrer eines jungen Mannes aus bester Familie,
schmiedete aber heimlich Heiratspläne mit dessen Schwester und wurde auf
Betreiben des Vaters ausgewiesen. Er ging nach Holland, wo er 1731 die Bände V
und VI der Mémoires publizierte,
denen er rasch noch einen nur locker damit verbundenen siebten Band anhängte: L'Histoire du chevalier des Grieux et de
Manon Lescaut (so der korrekte Titel), einen Roman, der sichtlich seine
eigene, offenbar so leidenschaftliche wie frustrierende und Schuldgefühle
auslösende Liebe zu der Haager Edelkurtisane Lenki Eckhardt verarbeitet, die er
kurz zuvor kennengelernt hatte.
Ebenfalls 1731 publizierte Prévost in
Utrecht vier Bände eines schon in England begonnenen Romans: Histoire de Cleveland, fils naturel de
Cromwell. Hiernach vollendete und publizierte er eine schon früher
begonnene Übertragung der lateinisch verfassten Memoiren des Anti-Richelieu-Verschwörers
François de Thou (1733).
Inzwischen hatte er zusammen mit Lenki
Schulden angehäuft; er floh nach London, wo er eine Ein-Mann-Zeitschrift nach
dem Muster von Addisons Spectator produzierte,
Le Pour et le Contre, die in Paris
erschien und hier das neue England-Interesse der gebildeten Leser bedienen
sollte. 1734 saß er wegen Wechselbetrugs kurz im Gefängnis und wurde aus
England ausgewiesen. Er ging heimlich zurück nach Frankreich (wo ein separater
Nachdruck von Manon Lescaut gerade von
der Zensur verboten und beschlagnahmt worden war). Aus einem Versteck nahm er
Kontakt mit dem Benediktinerorden auf und erhielt vom Papst Vergebung für seine
Apostasie (Abfall vom kath. Glauben) sowie die Erlaubnis für ein verkürztes
zweites Noviziat (1735).
Offenbar war der Orden weitgehend mit
der Einhaltung eines frommen Scheins zufrieden, denn Prévost schrieb pausenlos
weiter: neben den Faszikeln von Le Pour
et le Contre erschien 1735 der Roman Le
Doyen de Killérine. Nach seinem Noviziat wurde Prévost Almosenier
(aumônier) beim Prince de Conti, d.h. eine Art Privatpfarrer in hochadeligem
Haus. Hier schrieb und schrieb er: 1737/38 die letzten Bände des Cleveland, 1739/40 die des Doyen de Killérine, 1740 das 20. und
letzte Faszikel von Le Pour et le Contre.
Danach entwickelte er sich zum Spezialisten für romanähnliche historische
Sachbücher und Biografien (Mémoires pour
servir […] l'histoire de Malte, Histoire
de Marguerite d'Anjou, Histoire de
Guillaume le Conquérant), sowie für Reisebeschreibungen (Voyages du capitaine Robert Lade). 1746
begann er eine Histoire générale des
voyages, zunächst als Übersetzer englischer Reisebücher, dann in eigener
Autorschaft. (1760, bei Bd. 15 hörte er auf und ließ Andere weiterschreiben.)
Daneben erwarb er sich Meriten als
Übersetzer von Werken eines der Großen des europäischen „empfindsamen Romans“,
Samuel Richardson (1689-1761): 1751 gab er die Lettres anglaises, ou Histoire de Miss Clarisse Harlowe (Orig.
1748) in Druck, 1755 die Nouvelles
lettres anglaises, ou Histoire du chevalier Grandisson (Orig. 1754). Ob
auch die 1742 erschienene Richardson-Übersetzung Paméla, ou la vertu récompensée (Orig. 1740) schon von Prévost
stammt, ist zweifelhaft.
1753 veröffentlichte er eine etwas
erweiterte und leicht moralisierte Fassung von Manon Lescaut, dem Roman, der als sein Meisterwerk gilt. Es ist die
Geschichte des jungen Kleinadeligen Des Grieux, der vor dem Beginn seines
geplanten Theologiestudiums der hübschen, ihrerseits fürs Kloster bestimmten
Manon Lescaut begegnet, mit ihr nach Paris durchbrennt und aus Liebe zu ihr
(die Geld en masse verbraucht) nach und nach alle seine Vorstellungen von
Anstand und Ehre über Bord werfen muss, bis er schließlich, nach dem tragischem
Tod der nach Amerika deportierten und dort endlich geläuterten Manon, von
seinem alten Freund Tiberge an ihrem amerikanischen Verbannungsort
wiedergefunden und zu einer braven Theologenexistenz nach Frankreich
zurückgeleitet wird.
(Eine Interpretation des Romans findet
man in meinem Band Interpretationen,
Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1997)
(Stand: Nov. 09)
Voltaire (=François Marie
Arouet, *21.1.1694 Paris; †30.5.1778 ebd.).
Dank seines immensen Œuvres als
Lyriker, Epiker, Dramatiker und Romancier sowie als Historiker, Philosoph,
Publizist und Briefschreiber galt er schon zu Lebzeiten als der bedeutendste
franz., vielleicht sogar der bedeutendste europäische Autor seines Jh., das die
Franzosen gern als „le siècle de Voltaire“ bezeichnen. Mit seiner Kritik am
ineffizienten Absolutismus der franz. Monarchie, an der ständischen und
konfessionellen Befangenheit der franz. Justiz und am weltanschaulichen Monopol
der Katholischen Kirche in Frankreich war er einer der Wegbereiter der
Revolution von 1789. Auch im deutschsprachigen Raum gehört er zu den
bekanntesten franz. Autoren, und zwar vor allem in seiner Eigenschaft als
Philosoph, was er aber nur mit einem Bruchteil seines Schaffens war. Viele
seiner Werke wurden schon bald nach ihrem Erscheinen auch ins Deutsche
übersetzt. Goethe z.B. übertrug das Stück
Tancrède.
Voltaire, wie er sich ab seinem 24.
Lebensjahr nannte, wuchs auf als jüngstes (und drittes überlebendes) Kind des
vermögenden Juristen und zunächst Notars François Arouet. Dieser war als Sohn
eines wohlhabenden Textilkaufmanns zwar bürgerlicher Herkunft, hatte aber
einige Jahre vor der Geburt seines Jüngsten das adelnde Amt eines Gerichtsrates
(conseiller du roi) gekauft und versah den einträglichen Posten eines
Gebühreneinnehmers am Pariser Obersten Finanzgericht. Bereits mit sechseinhalb
verlor der spätgeborenen Junge seine ebenfalls aus Pariser Juristenkreisen
stammende Mutter, und da er sich von seinem strengen, jansenistisch-frommen
Vater wenig geliebt fühlte, hielt er sich früh – vermutlich sogar zu Recht –
für das außerehelich gezeugte Kind eines adeligen Freundes der Familie, des als
Dichter dilettierenden Ex-Offiziers de Rochebrune. Vielleicht war diese
Überzeugung ein wichtiger Faktor seiner Auflehnung gegen die väterliche
Autorität sowie seines frühzeitig selbstbewussten Auftretens in adeligen
Kreisen.
1704 kam er, nachdem ihn zuvor seine
acht Jahre ältere Schwester betreut hatte, als Internatsschüler in das
Jesuitenkolleg (heute Lycée) Louis-le-Grand. Hier erwarb er eine solide
humanistische Bildung und hatte ein überwiegend gutes Verhältnis zu seinen
Lehrern, die seine Begabung erkannten und ihn trotz einer gewissen
Aufmüpfigkeit förderten. Bereits als junger Schüler schrieb er Verse und wurde
deshalb 1706 von seinem Patenonkel, dem Abbé de Châteauneuf, in den
epikuräisch-freidenkerischen Kreis um Philippe de Vendôme eingeführt, den
Statthalter des Malteserordens in Frankreich, wo er sich als frühreifes Talent
bewundern ließ. Auch seine Theaterbegeisterung nahm schon auf dem Kolleg ihren
Anfang. Vermutlich von 1706 datieren erhaltene Fragmente einer Tragödie. 1710
wurde er mit mehreren Schulpreisen ausgezeichnet und bekam von Lehrern seine
Ode auf die Hl. Genoveva gedruckt herausgegeben. Im selben Jahr wurde er dem
seinerzeit anerkanntesten Lyriker vorgestellt, Jean-Baptiste Rousseau (s.o.).
Darüber hinaus gewann er unter seinen überwiegend adeligen Mitschülern einige
Freunde, die ihm von Nutzen sein sollten, so den späteren Maréchal de Richelieu
und die Brüder d'Argenson, die Außen- bzw. Kriegsminister wurden.
Da er nach dem Willen des Vaters Jurist
werden sollte wie dieser selbst und auch sein neun Jahre älterer Bruder,
schrieb er sich 1711 an der Pariser juristischen Hochschule ein. Doch betrieb
er die Juristerei ohne Eifer, zumal er sich in weitere schöngeistige und
intellektuelle Zirkel hatte einführen lassen, wo er mit seinen
spielerisch-eleganten und geistreichen Versen beeindruckte. Im Frühjahr 1713
wurde er vom unzufriedenen Vater in die Provinzstadt Caen geschickt, wo er als
Notariatsangestellter arbeiten sollte, doch verkehrte er auch hier bald in
freidenkerischen literarischen Kreisen. Im Herbst wurde er deshalb einem Bruder
seines Patenonkels, der als franz. Gesandter zu Friedensverhandlungen nach Den
Haag reiste, als Sekretär mitgegeben. Als er dort die vielleicht einzige
leidenschaftliche Liebschaft seines Lebens begann, und zwar mit einer
17jährigen Exil-Hugenottin, die er zu konvertieren und zu entführen versuchte,
kam es zum Eklat, weil die erschrockene Mutter sich bei dem Gesandten
beschwerte. Er wurde nach Paris zurückgeschickt und vom Vater mit Enterbung und
Deportation nach Amerika bedroht.
Wieder in Paris, arbeitete er 1714
nochmals kurze Zeit bei einem Anwalt, war aber mehr und mehr als Literat aktiv,
was der Vater schließlich akzeptierte. Er verkehrte wie zuvor in literarischen
und intellektuellen Zirkeln und machte sich erste Feinde, z.B. mit einem
Pamphlet gegen die Académie Française, die eine von ihm eingereichte Ode auf
Louis XIII nicht preisgekrönt hatte, oder mit einer Verssatire auf den
arrivierten Autor und Literaturtheoretiker Antoine Houdar de la Motte
(1672-1731, s.o.), der für die Benutzung von Prosa statt Versen in Dramen und
in erzählenden Werken eintrat – eine Ansicht, die Voltaire später als Erzähler
und gelegentlich auch als Dramatiker durchaus teilen sollte. Die Ode Le vrai Dieu (1715) könnte sein erster
philosophischer Text gewesen sein.
Zunehmend öffneten sich ihm auch
adelige Häuser, wo man ihn als vielseitigen Lyriker, vor allem aber als Autor
witziger, häufig spöttischer Gedichte und geistreichen Unterhalter schätzte.
Eine seiner vornehmsten Adressen war der kleine Hof eines legitimierten
Bastards (außerehelichen Sohnes) von Louis XIV, des Duc (=Herzog) du Maine und
seiner kunstliebenden Gattin. Maine war 1715 von seinem sterbenden Vater testamentarisch
zum Regenten für den 5-jährigen Louis XV bestimmt, jedoch von seinem Cousin
Philippe d'Orléans mit Hilfe des Pariser Parlements ausgebootet worden. Bei den
Maines las Voltaire 1716 ein satirisches Gedicht auf Philippe vor, in dem er
auf dessen mutmaßliches inzestuöses Verhältnis zu seiner Tochter anspielte.
Natürlich erfuhr Philippe davon und verbannte in seiner Eigenschaft als
Stellvertreter des Königs Voltaire für mehrere Monate aus Paris, die dieser
größtenteils als Gast auf dem Schloss des jungen Duc de Sully verlebte. Nachdem
er von dort erfolgreich eine Bitt- und Huldigungsepistel an Philippe gerichtet
hatte und zurückgekehrt war, dichtete er eine neuerliche Satire auf ihn.
Diesmal war die Strafe härter: im Mai 1717 wurde er in der Pariser Stadtfestung
La Bastille inhaftiert, die als Gefängnis für meist höhergestellte Delinquenten
diente.
Hier las und reflektierte er und
stellte seine mit den Ödipus-Stücken von Sophokles und Corneille rivalisierende
erste Tragödie Œdipe fertig. Vor
allem begann er unter dem Titel La Ligue (=die Liga) ein Versepos über die
schlimmste Phase der Religionskriege und ihre Beendigung durch König Henri IV,
der 1597 die Katholische Liga besiegt und mit dem Edikt von Nantes 1598
religiöse Toleranz in Frankreich eingeführt hatte. Das mit Vergils
Romgründungsepos Æneis rivalisierende Werk sollte den Franzosen ihr nationales
Epos geben und verschaffte später seinem Autor in der Tat den Ruf des größten
franz. Epikers seiner Zeit.
Nach elf Monaten Haft kam er dank der
Fürsprache hochstehender Gönner frei, blieb allerdings zunächst noch aus Paris
verbannt. Als er dort im Oktober 1718 nach fast anderthalb Jahren wieder
auftauchte, tat er dies unter dem Namen „Voltaire“, vermutlich einem Anagramm
aus A-R-O-V-E-T--L[e]--I[eune] (unter Vertauschung der handschriftlich damals
identischen Buchstaben v/u und j/i). Das adelige „de“, das er voransetzte, war
wahrscheinlich insofern legitim, als sein Vater inzwischen durch seine adelnden
Ämter in den erblichen Adelsstand getreten war.
Nachdem er durch die sehr erfolgreiche
Aufführung von Œdipe im November 1718
schlagartig bekannt geworden war, verkehrte Voltaire wieder in den geistig
interessierten Zirkeln der Hauptstadt und war auch gern gesehener Gast in den
Landschlössern des Hochadels rund um Paris. Hierbei lernte er u.a. den
exilierten Politiker Lord Bolingbroke kennen, der ihm England näherbrachte.
Natürlich schrieb er, wie immer: neben Gedichten und weiteren Teilen von La Ligue verfasste er u.a. die Tragödie Artémire (1720) oder die Versepistel Épître à Uranie (1722), wo er explizit
seine theistischen Vorstellungen formuliert.
Als 1722 sein Vater starb, erbte
Voltaire seinen Anteil an dessen nicht unbeträchtlichen Vermögen. Da er im
gleichen Jahr vom Regenten Philippe eine „pension“ (jährliche Gratifikation)
aus der königlichen Schatulle zugesprochen bekam, war er finanziell nun gut
gestellt. Ebenfalls 1722 unternahm er als Begleiter einer adeligen Dame seine
erste größere Reise, nämlich in die österreichischen Niederlande (das jetzige
Belgien). Hierbei besuchte er in Brüssel den 1713 aus Frankreich verbannten
J.-B. Rousseau (s.o.), der sich jedoch mit ihm zerstritt. 1723/24 demonstrierte
er seine erfreuliche neue soziale Position auch mittels der Liaison mit der
adeligen Madame de Bernières, Gattin eines Vorsitzenden Richters am Pariser
Parlement.
1723 machte er mit der Zensur
Bekanntschaft, als er keine Druckerlaubnis für La Ligue, ou Henri le Grand erhielt, obwohl er das Epos Louis XV zu
widmen angeboten hatte. Er ließ es deshalb anonym in Rouen mit angeblichem
Druckort Genf erscheinen. Ein weiterer Schlag war 1724 der Misserfolg seiner
Tragödie Mariamne, die jedoch im Jahr
darauf, nachdem er sie überarbeitet und in Hérode
et Mariamne umbenannt hatte, stattliche 27 Aufführungen in Folge erlebte.
Ebenfalls 1725 erhielt Voltaire dank
Mme de Prie, der einflussreichen Geliebten des neuen Chef-Ministers, des Duc de
Bourbon, den Auftrag, zur Hochzeit von Louis XV Theateraufführungen zu
organisieren, darunter von drei eigenen Stücken. Hierdurch erhielt er Zutritt
zum Hof sowie eine zweite „pension“, diesmal aus der Schatulle der jungen
Königin. Er schien nun bestens in die herrschenden Verhältnisse integriert.
Im Februar 1726 wurde er von Dienern
des hochadeligen Chevalier de Rohan verprügelt, weil er im Theaterfoyer auf
dessen spöttische Frage nach der Herkunft seines neuen Namens eine schnippische
Antwort gegeben und die Lacher auf seine Seite gebracht hatte. Empört nahm
Voltaire Fechtunterricht, um den Chevalier zum Duell zu fordern. Die Rohans
erwirkten aber einen königlichen Haftbefehl gegen ihn, und wieder saß er in der
Bastille. Da er inzwischen jedoch eine bekannte Persönlichkeit war, bekam er
vom König die Freilassung angeboten unter der Bedingung, dass er Frankreich
verließ.
Voltaire akzeptierte und ging im Mai
1726 nach England, das gerade dabei war, als erstes Land der Welt in die
industrielle Revolution einzutreten. Er war fasziniert von der philosophischen,
wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Aufbruchstimmung sowie
von der relativ großen geistigen Freiheit und sozialen Mobilität in dieser
multikonfessionellen Gesellschaft, in der die Religion Privatangelegenheit war
und die Macht des Königs und die Privilegien des Adels durch Bürgerrechte
eingeschränkt waren. Für einen Franzosen damals keineswegs selbstverständlich,
lernte er Englisch sprechen sowie schreiben und las englische Autoren, u.a. den
Philosophen John Locke und Shakespeare. Er ließ sich von Lord Bolingbroke in
die besten gesellschaftlichen und intellektuellen Kreise Londons einführen und
wurde auch dem König vorgestellt. 1728 publizierte er in London, mit einer
Widmung an die Königin, eine überarbeitete Version von La Ligue, deren
neuer Titel La Henriade sich
sichtlich an den des unvollendeten Epos La Franciade von Pierre Ronsard
(s.o.) anlehnte.
Ende 28 durfte Voltaire nach
zweieinhalb Jahren zurück nach Frankreich, zunächst nur nach Dieppe, mit einem
Koffer voller fertiger und angefangener Schriften, darunter sein erstes
historiographisches Werk, Histoire de
Charles XII, roi de Suède (=Geschichte
König Karls XII von Schweden), 1730
gedruckt, aber sofort verboten), oder die Tragödien Brutus und Zaïre, die
1730 bzw. 1732 sehr erfolgreich aufgeführt wurden.
Spätestens in England hatte er erkannt,
wie wichtig finanzielle Unabhängigkeit für einen Autor wie ihn war. Deshalb
spekulierte er nach seiner Heimkehr nach Paris (1729) geschickt mit seinem Geld
und stieg u.a. mit Hilfe der Brüder d'Argenson als stiller Teilhaber bei
Heereslieferanten ein. Tatsächlich war er bald mehr als nur wohlhabend und
damit in hohem Umfang frei im Äußern seiner Meinungen.
So empörte er sich z.B. öffentlich mit
seiner Ode sur la mort de (=Ode über den Tod von) Mlle Lecouvreur, als 1730 die Leiche
der bekannten, noch relativ jungen Schauspielerin (mit der er befreundet
gewesen war) nach ihrem plötzlichen Tod auf den Schindanger geworfen wurde.
1733 nahm er sich die Freiheit, mit dem satirischen Gedicht Le Temple du
goût (=der Tempel des [guten]
Geschmacks) die Welt der Pariser Literaten zu karikieren und deren Zorn zu
erregen. Im Juni desselben Jahres liierte er sich erneut mit einer
verheirateten adeligen Dame, Émilie du Châtelet (1706-1749).
Im April 1734 erschienen zugleich in
London und Paris die Lettres (=Briefe) philosophiques oder Lettres
anglaises, die den Franzosen England als Vorbild vor Augen führen sollten,
von den Herrschenden in Frankreich aber als Affront empfunden wurden. Besonders
verärgert waren die meist jansenistisch-frommen Hohen Richter des Pariser
Parlement, die sich an einer religionskritischen Diatribe gegen den Jansenisten
Blaise Pascal stießen, die an die Briefe angehängt war: Sie verboten das Buch
und erließen einen Haftbefehl gegen Voltaire. Dieser tauchte ab und zog sich
auf das Schlösschen Cirey in der Champagne zurück, das dem Ehemann von Mme du
Châtelet gehörte und von wo aus er notfalls schnell ins nahe Lothringen fliehen
konnte, das de jure noch Teil des Deutschen Reiches war.
In den nächsten zehn Jahren führte er
ein unstetes Wanderleben mit Cirey als Zentrum und mit Mme du Châtelet, die ihm
dorthin nachgefolgt war, als engster Bezugsperson. Er besuchte Paris, wenn es
ihm möglich schien, z.B. zu Uraufführungen seiner Stücke; er blieb in Cirey
oder floh weiter, wenn er sich gefährdet fühlte. Daneben war er viel auf
Reisen, hielt sich aber länger auch in Brüssel auf sowie des öfteren in
Holland, das zur Druckerei Europas avanciert war. Hier publizierte er
insbesondere die anstößigeren seiner Werke, die dann zum Verkauf nach
Frankreich geschmuggelt wurden.
Dank Mme du Châtelet, die aktive
Naturforscherin und Mathematikerin war, entwickelte auch Voltaire vertieftes
Interesse für die Naturwissenschaften. So reagierten sie 1734 beide auf eine
Preisfrage der Pariser Académie des Sciences zur Natur des Feuers und reichten
jeder eine Abhandlung ein, worin er wie sie eine physikalische Erklärung
versuchten. Angeregt durch die Beschäftigung seiner Freundin mit dem englischen
Physiker und Astronomen Isaac Newton (dessen Philosophiae naturalis principia mathematica [=die mathematischen Grundlagen der
Naaturkunde] sie später übersetzte), verfasste Voltaire 1736/37 das
sachbuchartige Werk Éléments (=Grundzüge) de la philosophie de Newton, worin er
in allgemeinverständlicher Form dessen bahnbrechende Erkenntnisse vorstellte,
die in Frankreich noch wenig bekannt waren. Seine philosophischen Diskussionen
mit Mme du Châtelet, einer Verehrerin von Leibniz, könnten 1735 seinen
religionskritischen Traité (=Abhandlung) de métaphysique angeregt
haben, den er auf ihr Drängen aber unpubliziert ließ (gedruckt erst postum
1785).
Voltaires Domäne blieb jedoch die
Literatur. 1736 lobte er in der Versepistel Le Mondain (etwa: das
Weltkind) demonstrativ den Luxus und Komfort der Moderne und lud den Leser ein,
sich mit ihm lustig zu machen über bestimmte, vor allem geistliche
Verzichtprediger und ihr Lob der frugalen und deshalb angeblich glücklichen
alten Zeiten, die in Wahrheit nur Zeiten der Armut und der Unwissenheit gewesen
seien. Dass der gelobte Luxus und Komfort zu seiner eigenen Zeit nur Wenigen
zugänglich waren, bedeutete ihm sichtlich kein Problem. Des weiteren schrieb er
Tragödien und (seltener) Komödien, die er mit Freunden und Bekannten sowie, in
Nebenrollen, sich selbst probeweise in dem kleinen Theater inszenierte, das er
in dem Schlösschen hatte einrichten lassen, als er es auf seine Kosten hatte
renovieren lassen. Die wichtigsten Titel dieser Zeit sind: Adélaïde du Guesclin, 1734; La
Mort de César =Caesars Tod),
1735; Alzire, 1736; Mérope,
1737; Zulime, 1740; Mahomet, 1741.
Die letztere Tragödie musste, nach ihrer erfolgreichen Uraufführung in Lille,
1742 nach der dritten Pariser Aufführung abgesetzt werden. Sie erschien dem
königlichen Chefzensor Crébillon (s.o.) und Teilen des katholischen Klerus
nicht zu Unrecht als generell religionskritisch wegen ihrer Darstellung des
Propheten Mohammed als eines zynischen Machtmenschen, der z.B. fanatisierte
Jünger zur Ermordung politischer Gegner anstiftet und ihm lästig gewordene
Ex-Jünger umbringen lässt.
Daneben wandte Voltaire sich in Cirey
wieder der Geschichtsschreibung zu und arbeitete an dem seit 1732 geplanten Siècle
(=das Jahrhundert) de Louis XIV. Auch schrieb er weiter an dem
bewusst respektlosen burlesken Epos La
Pucelle (=die Jungfrau, sc. die 1920 heiliggesprochene „Jungfrau von
Orléans“, Jeanne d'Arc), das er wohl 1730 als Parodie eines gleichnamigen Epos
von Jean Chapelain (s.o.) begonnen hatte und das lange nur in privaten
Abschriften und Raubdrucken zirkulierte, die oft von dritter Hand verändert
worden waren.
Schon seit 1736 stand er in
Briefkontakt zu Kronprinz Friedrich von Preußen (1712-86) und wurde er von ihm
umworben. Im September 1740, bald nach Friedrichs Regierungsantritt, hatte er
ihn in Kleve getroffen und war im November sogar einer Einladung nach Berlin
gefolgt. 1742 hatte er ihn in Aachen nochmals gesehen. Im Juni 1743 wurde er
deshalb vom neuen franz. Kriegsminister, seinem Schulfreund d'Argenson, mit dem
Auftrag zu Friedrich geschickt, ihn zum Wiedereintritt in das Bündnis gegen
Habsburg zu bewegen, aus dem er 1742 ausgetreten war, nachdem er im
Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) seine Ziele erreicht hatte.
Die diplomatische Mission Voltaires
blieb zwar ohne konkretes Ergebnis, doch galt er nun als Verbindungsmann zu
Friedrich und durfte wieder am Hof verkehren, obwohl Louis XV ihn nicht mochte.
Hier brachte er 1745 zur Hochzeit des Dauphins (Kronprinzen) seine
Ballettkomödie La Princesse de Navarre zur
Aufführung und etwas später das Singspiel Le
Temple de la Gloire (Musik von Jean Philippe Rameau). Darüber hinaus wurde
er, auch dank der Protektion der neuen Mätresse Mme de Pompadour, die er schon
seit längerem kannte, zum Königlichen Chronisten (historiographe du roi) sowie
1746 zum Königlichen Kammerherrrn (gentilhomme de la chambre) ernannt, womit er
offiziell in den Adelstand erhoben war. Ebenfalls 1746 wurde er, nicht zuletzt
aufgrund des langandauernden Erfolges der Tragödie Mérope (Urauff.
1743), zum Mitglied der Académie Française gewählt (was der König 1743 noch
verhindert hatte).
Bald hiernach jedoch ging seine
Karriere als Höfling in Versailles jäh zu Ende. Schon länger hatte er Mme de
Pompadour verdrossen mit seiner Eifersucht auf einen anderen ihrer Protégés,
den Tragödienautor und Königlichen Zensor Crébillon (s.o.). Als er 1747 Mme du
Châtelet am Spieltisch der Königin auf Englisch vor Falschspielern warnte,
nutzte Louis die Gelegenheit, ihn in Ungnade fallen zu lassen. Voltaire zog
sich zurück zu der inzwischen verwitweten Duchesse du Maine, die er auf ihrem
Schloss Sceaux mit seinen ersten erzählenden Prosa-Werken unterhielt, u.a. dem
Kurzroman Memnon, dem späteren Zadig.
Immerhin war er dem Hof noch nahe
genug, um gekränkt zu sein, als dort 1748 Crébillons jüngstes Stück, Catilina,
auf Kosten des Königs aufgeführt, demonstrativ beklatscht und gelobt wurde, um
ihn zu demütigen. Seinen Groll gegenüber dem Rivalen vergaß er nicht so rasch,
denn in den Folgejahren verfasste er, um die eigene Überlegenheit zu beweisen,
parallele Versionen zu nicht weniger als fünf von dessen Tragödien.
1748/49 lebte er mit Mme du Châtelet
meist im Schloss von Lunéville, bei dem Schwiegervater von Louis XV, Stanislaus
Leszczynski, der 1735 die polnische Köngiskrone hatte aufgeben müssen und mit
der Grafschaft Lothringen entschädigt worden war. Hier verliebte sich Mme du
Châtelet in den zehn Jahre jüngeren Offizier, Höfling und Dichter Saint-Lambert
und starb im September 1749 nach der Geburt eines Kindes von ihm, das ebenfalls
nicht überlebte. Voltaire war betroffen, auch wenn er schon seit ca. 1745 intim
mit der früh verwitweten Tochter seiner Schwester, Madame Denis liiert war.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris
verließ er im Sommer 1750 die Stadt (die er erst 1778 wiedersehen sollte) und folgte
endlich der Einladung Friedrichs nach Potsdam, wo schon andere französische
Literaten und Gelehrte Hofämter innehatten und wo er zum gut dotierten
Königlichen Kammerherrn ernannt wurde.
Das Verhältnis zu Friedrich bekam
allerdings schon Anfang 1751 einen Riss, als Voltaire in Berlin (wo er eine
Wohnung unterhielt) ein Spekulationsgeschäft mit in Preußen verbotenen
sächsischen Staatsschuldverschreibungen tätigte, sich mit seinem Vermittler,
dem Bankier Hirschel, zerstritt, gegen ihn prozessierte und hierbei in den wohl
berechtigten Verdacht geriet, den beiderseitigen Vertrag nachträglich
manipuliert zu haben. Er konnte sich nur mühsam aus der Affäre ziehen.
1751 brachte er, nach 20 Jahren Arbeit,
in Berlin sein Siècle de Louis XIV heraus,
eine Darstellung der franz. Geschichte des 17. Jh., mit der er, wegen der
zentralen Rolle, die er darin der Institutions–, Wirtschafts- und
Kulturgeschichte zuweist, in der Geschichtsschreibung neue Maßstäbe setzte.
Seine kulturhistorische Ausrichtung wurde noch deutlicher im Abrégé de l'Histoire universelle (=Abriss
der Weltgeschichte), den er 1750/51 stückweise im Mercure de France
publizierte. Ebenfalls 1751 ließ er eine dritte Gesamtausgabe seiner Werke
drucken, in nun schon 11 Bänden.
Eifersüchtig und rechthaberisch, wie er
durchaus sein konnte, verfeindete er sich in Sanssouci bald mit einigen seiner
Kollegen. Vor allem hatte er es auf einen alten Bekannten von Mme du Châtelet
abgesehen, den Präsidenten der Berliner Akademie, Maupertuis, einen verdienten
Mathematiker und Naturforscher, den er selber Friedrich einst empfohlen hatte.
Insbes. unterstützte er (zu Recht) dessen Gegner in einem Prioritätsstreit, den
Mathematiker Samuel König, wobei er 1753 eine spöttische Satire auf Maupertuis
verfasste, La Diatribe du Docteur
Akakia. Als er sie entgegen der Bitte Friedrichs, der seinerseits zu
Maupertuis hielt, publizierte und mit Verbot und sogar Verbrennung der Schrift
bestraft wurde, musste er enttäuscht erkennen, dass er in Potsdam nur einer
neben anderen Höflingen war. Er bat um seine Entlassung, wurde aber nur zu
einer Kur beurlaubt. Von Leipzig aus attackierte er nochmals Maupertuis und
wurde nun in Ungnade entlassen. Bei einem Aufenthalt in der
Freien Reichsstadt Frankfurt wurde er auf Ersuchen Friedrichs sogar festgesetzt
und unter dem Verdacht, er habe unbefugt ein Manuskript von ihm mitgenommen,
einer demütigenden Gepäckkontrolle unterzogen. Schon 1757 jedoch vermittelte
Friedrichs Schwester Wilhelmine eine Versöhnung zwischen beiden Männern und sie
wechselten wieder höfliche Briefe.
Nach Stationen an einigen kleineren
deutschen Höfen (Gotha, Kassel, Mainz, Mannheim) wartete Voltaire in den
elsässischen Städten Straßburg und Kolmar vergeblich auf die Erlaubnis, nach
Paris zurückkehren und wieder in seine Versailler Hofämter eintreten zu dürfen.
1755 schließlich kaufte er sich in der schweizerischen Stadtrepublik Genf eine
Villa am Stadtrand und gedachte sich dort niederzulassen. Doch während in Paris
mit Erfolg sein neues Stück L'Orphelin de
la Chine (=das Waisenkind aus China) aufgeführt wurde, bekam er in Genf
ersten Ärger mit dem theaterfeindlichen kalvinistischen Kirchenrat, weil er,
wie einst in Cirey, private Aufführungen in seinem Haus organisierte.
Wie fast alle aufgeklärten Europäer war
auch Voltaire Ende 1755 erschüttert und sah er sich in seinem bisherigen
Theismus verunsichert durch das verheerende Erdbeben von Lissabon. Seine
Reaktion war das Langgedicht Poème sur le
désastre de Lisbonne (=Gedicht
über die Katastrophe von L.), in dem er u.a. den naiven Optimismus des
englischen Autors Alexander Pope zurückweist, wonach „alles was ist, richtig
ist“. 1756 veröffentlichte er seinen monumentalen Essai sur l'histoire générale et sur les mœurs et l'esprit des nations,
eine aus dem Abrégé erwachsene
Kulturgeschichte der Menschheit, die er insgesamt auf dem Weg des Fortschritts
sieht, auch wenn er selbst seinen einstigen Optimismus weitgehend eingebüßt
hatte und weiter einbüßte angesichts der Gräuel des beginnenden Siebenjährigen
Krieges (1756-63).
Ebenfalls 1756 begann er seine
Mitarbeit an dem 1746 von Denis Diderot (s.u.) und Jean d'Alembert initiierten
Groß-Lexikon, der Encyclopédie, was
ihm sogleich neuen Ärger in Genf eintrug, weil er d'Alembert für dessen
kritischen Artikel „Genève“ mit Informationen versorgt hatte.
1757 kehrte Voltaire Genf den Rücken
und ging einmal mehr auf Reisen. 1758 schrieb er (z.T. im Schloss von
Schwetzingen) sein wohl erfolgreichstes und heute bekanntestes Werk, den
philosophischen Kurzroman Candide ou
l'optimisme (gedruckt 1759). Hierin demonstriert er in einer aktionsreichen
Handlung, die den damaligen Liebes- und Abenteuerroman mit seinen oft
unwahrscheinlichen Wendungen parodiert, wie die Welt vom Zufall beherrscht wird
und keineswegs von einer ordnenden höheren Macht, an die zu glauben naiv ist
angesichts von Kriegen, Naturkatastrophen und menschlichen Grausamkeiten. Und
scheinbar lakonisch, de facto aber voller Ironie und Sarkasmus führt er den ihm
als illusorisch erscheinenden Optimismus von Leibniz, Christian von Wolff und anderen
Philosophen der Zeit ad absurdum, um am Schluss die tägliche Arbeit als
einziges probates Mittel gegen das Unglück in der Welt zu empfehlen.
Obwohl fern von Paris, beteiligte er
sich gegen 1760 mit Pamphleten, Satiren und Epigrammen, u.a. gegen den Literaturkritiker
und Feuilletonisten Fréron (s.u.), an der Abwehrschlacht der Autoren und
Sympathisanten der Encyclopédie gegen
deren konservative Gegner, die 1758 ein zweites Druckverbot erwirkt hatten und
1759 sogar die Indizierung des Werkes durch den Papst.
Mit 64 befolgte Voltaire das berühmte
Schlusswort von Candide, wonach man
„seinen Garten bestellen“ soll, und kaufte 1758 bzw. 1759 im franz. Grenzgebiet
nahe Genf die Landgüter Ferney und Tourney. Diese bewirtschaftete er bis zu
seinem Tod sehr innovativ und effizient, durchaus auch zum Vorteil seiner
Pächter und Landarbeiter, für die er im Winter einträgliche Heimarbeit
organisierte, z.B. die Produktion von Seidenstrümpfen und Uhren. Zusammen mit
Madame Denis, seinem treuen Sekretär Wagnière und einigen anderen Vertrauten
verbrachte er in Ferney seinen letzten Lebensabschnitt, der den Zenith seiner
Karriere bedeuten sollte.
Wie eh und je schrieb er weiterhin
unablässig, und zwar Dutzende von Werken. So beteiligte er sich 1760 mit dem
gegen seine Gewohnheit in Prosa verfassten Stück Le Café, ou L’Écossaise
erfolgreich an der Durchsetzung der neuen Gattung „drame (bourgeois)“, die
kürzlich von Diderot lanciert worden war. Daneben schrieb er nach dem Erfolg
des Candide weitere Erzählungen, u.a. den meisterhaften
empfindsam-philosophischen Kurzroman L'Ingénu/Das
Naturkind (eigentl. der Unbedarfte, 1767). Aber auch die
Geschichtsschreibung blieb auf seinem Programm, mit z.B. der Histoire de l'Empire de Russie sous Pierre
le Grand (=Geschichte des
russischen Reiches unter Peter dem Großen, 1763). Ein anderer
Schwerpunkt seines Schaffens waren philosophische Werke im engeren Sinne,
darunter zahlreiche Dialogues philosophiques oder, als Reaktion auf eine
religiös motivierte Justizmord-Affäre, der Traité
sur la tolérance (1763) oder das Dictionnaire
philosophique portatif (etwa: Philosophisches Taschenlexikon, 1764). Das Dictionnaire, das den Typ des
„tragbaren“ einbändigen Konversationslexikons schuf, war sehr erfolgreich und
wurde häufig nachgedruckt. Es deckte die zahlreichen Widersprüche innerhalb der
Bibel und viele Schwachstellen der katholischen Theologie auf und versorgte so
die europäischen Intellektuellen der Zeit mit bibel- und religionskritischen
Argumenten. Noch im 19. Jh. diente es der laizistischen und antiklerikalen
franz. Bourgeoisie bei ihrem Kampf um die Emanzipation der Zivilgesellschaft
und des Staates von der Kirche und war eines der wichtigsten Motive für den
Hass, der Voltaire in katholisch-konservativen Kreisen bis ins späte 19. Jh.
entgegengebracht wurde.
Vor allem aber empfing er als
„patriarque de Ferney“ in seinem Schlösschen Besucher aus ganz Europa (1777
sogar den inkognito angereisten Kaiser Joseph II.) und wechselte Briefe mit
zahllosen, meist hochstehenden Personen. Zugleich kämpfte er mit der Macht
seiner stetig wachsenden Autorität publizistisch gegen staatliche Willkür,
Rückständigkeit, Obskurantismus und Intoleranz. Als er sich z.B. 1762 und 1766
unter dem Beifall des gesamten aufgeklärten Europas in die Justizmord-Affären
um den Protestanten Jean Calas und und den angeblichen Atheisten (und Dictionnaire-Leser)
La Barre einschaltete, konnte er die Opfer zwar nicht retten, erreichte aber
die nachträgliche Rehabilitierung zumindestens von Calas. (La Barre wurde erst
1793 rehabilitiert.) Für den ebenfalls von einem Justizmord bedrohten
Protestanten Sirven (1764) erkämpfte er eine Revision des Urteils mit
Freispruch und Entschädigung.
1775 ließ er einmal mehr eine
Gesamtausgabe seiner Werke drucken, nunmehr in schon 40 Bänden.
Anfang 1778 reiste er nach Paris, um
der Uraufführung seines neuen Stücks Irène
beizuwohnen. Er wurde wie in einem Triumphzug empfangen und konnte sich
kaum retten vor Einladungen und Ehrungen, darunter der Aufnahme in eine
Freimaurerloge. Nach drei Monaten Paris brach der 84-Jährige entkräftet
zusammen und starb. Ein geschickt agierender Neffe verschaffte ihm ein
kirchliches Begräbnis in aller Stille.
Erst postum wurde nach und nach die
umfängliche Korrespondenz Voltaires publiziert. Sie umfasst mehr als 22.000 Briefe
(darunter gut 15.000 von ihm) und erscheint nachträglich als ein bedeutender
Teil seines Schaffens.
Voltaire war kein systematischer
Denker, d.h. kein Philosoph nach deutschem Verständnis, sondern ein
„philosophe“ im Sinn der franz. Aufklärung, d.h. ein Autor, der deren Theoreme
sowohl in philosophischen als auch belletristischen, historischen und
naturwissenschaftlichen Schriften vertrat sowie auch publizistisch aktiv war.
Er selbst sah sich aufgrund seiner an die 50 z.T. sehr erfolgreichen Stücke wohl
in erster Linie als bedeutenden Dramatiker. Epochemachend gewirkt haben vor
allem jedoch die historiografischen Werke, und zwar einerseits durch ihre neue
kulturhistorische Ausrichtung und zum andern dank ihrer stilistischen Eleganz
und ihrer Allgemeinverständlichkeit. Sie eröffneten eine Tradition, die die
franz. Geschichtsschreibung geprägt hat. Bis in die heutige Zeit lebendig
geblieben sind einige seiner kurzen „philosophischen Romane“ wie Zadig, L’Ingénu
und vor allem Candide.
Die theologische Position Voltaires war
(und blieb zumindest nach außen) die des Theismus, d.h. des Glaubens an die
Existenz eines Schöpfergottes, der sich auch weiterhin um seine Schöpfung und
speziell die Menschen wohlwollend kümmert und dabei gutes Handeln noch zu
Lebzeiten belohnt bzw. böses bestraft. Das bekannte Diktum „Wenn es Gott nicht
gäbe, müsste man ihn erfinden“ sowie auch andere Indizien zeigen Voltaire
allerdings eher als Agnostiker, wenn nicht als verkappten Atheisten.
(Stand: Juni 08)
Denis
Diderot (*5.10.1713
Langres; †30.7.1784 Paris).
Zu seinen Lebzeiten weniger berühmt als
Voltaire oder Rousseau, gilt Diderot inzwischen als ebenbürtig und als einer
der originellsten Köpfe der europäischen Aufklärung insgesamt. Er war als
Philosoph in vielen Bereichen und als Literat in vielen Genera (außer Lyrik)
aktiv. Nach Deutschland hinein wirkte er vor allem als Theoretiker des
„bürgerlichen Trauerspiels“ (drame bourgeois). Heute scheint er hier nur als
ein Aufklärer unter vielen andern bekannt.
Er wuchs auf in der Bischofstadt
Langres (Champagne) als ältester Sohn eines wohlhabenden, jansenistisch-frommen
Messerschmiedemeisters. Da er später die Domherren-Pfründe eines Onkels
übernehmen sollte, wurde er schon mit 13 tonsuriert. Zur Schule ging er zuerst
bei den Jesuiten in Langres, dann im jansenistisch orientierten Collège
d'Harcourt in Paris.
Statt jedoch nach dem Abschluss der
propädeutischen Studien mit der maîtrise
ès arts (1732) Theologie zu studieren (was dann sein jüngerer Bruder für
ihn tun musste), führte Diderot in Paris ein ungebundenes Leben, jobbte, las,
fand Anschluss an andere junge Intellektuelle (d'Alembert, Rousseau, Condillac,
Melchior Grimm) und begann zu schreiben sowie aus dem Englischen zu übersetzen.
Als er 1743 den Segen seines Vaters für
die Heirat mit einer besitz- und aussteuerlosen Wäsche-Verkäuferin einholen
wollte, ließ dieser ihn kraft seiner väterlichen Autorität in einem Kloster
einsperren. Naturgemäß bestätigte diese Erfahrung Diderots Antipathie gegen die
Kirche und ihre Institutionen, speziell die Klöster – eine Antipathie, die sich
später noch dadurch verstärkte, dass seine jüngste Schwester (die freiwillig
Nonne geworden war) in ihrem Kloster geisteskrank wurde. Diderot konnte jedoch
nach einigen Wochen aus der Gefangenschaft fliehen, kehrte nach Paris zurück
und heiratete heimlich. Allerdings fand er seine Frau nach der baldigen Geburt
einer Tochter (die sehr schnell starb) offenbar langweilig und liierte sich
1745 nebenher mit einer gebildeten aventurière,
Mme de Puisieux. Trotzdem hatte er 1746 wieder einen Sohn (der 5-jährig starb),
1750 einen weiteren Sohn (der als Säugling starb) und 1753 wieder eine Tochter
(die als Einzige ihre Eltern überlebte).
Da er schon eine Geschichte der alten
Griechen, ein medizinisches Lexikon und einen philosophischen Traktat von
Shaftesbury aus dem Englischen übersetzt hatte, erhielt er 1746 von einem
Pariser Buchhändler-Verleger das Angebot, die kürzlich abgeschlossene Cyclopedia or Universal Dictionary of the
Arts and Sciences zu übersetzen. Er nahm an, beschloss aber, das Werk
beträchtlich zu erweitern um daraus eine Summa des gesamten Wissens seiner Zeit
zu machen. Hierzu gewann er als Mitherausgeber seinen Freund Jean Le Rond
d'Alembert, einen Mathematiker und Naturwissenschaftler, sowie nach und nach
als Mitarbeiter andere Autoren, die teils sonst wenig bekannte Spezialisten
waren, wie der junge Musikologe Jean-Jacques Rousseau, teils aber auch schon
berühmte Leute wie Montesquieu und Voltaire.
1749 allerdings musste er einige Monate
pausieren, als er wegen seiner mehr nebenher verfassten religionskritischen
Schrift Lettre sur les aveugles in
der Festung Vincennes inhaftiert wurde. Diderot war deshalb in Zukunft
vorsichtiger und ließ, um den Fortgang der Encyclopédie
nicht zu gefährden, viele andere seiner philosophischen Schriften
unpubliziert.
1750 verfasste er einen in ganz Europa
verschickten prospectus, in dem er
Interessenten zur Subskription der Encyclopédie
aufrief. 1751 erschienen die beiden ersten Bände der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des
arts et métiers, par une société de
gens de lettres. Der
buchhändlerische Erfolg war enorm, doch die Jesuiten und die Sorbonne
diagnostizierten eine unchristliche Tendenz des Ganzen und erwirkten beim
königlichen Conseil d'État ein Verbot. Da aber Mme de Pompadour (die Geliebte
von Louis XV), einige Minister, viele einflussreiche Freimaurer und der
Chefzensor Malesherbes auf der Seite der Encyclopédisten standen, konnten trotz
des Verbots 1753-56 vier weitere Bände erscheinen. Danach jedoch wuchs der
Druck der Gegner, einer unheiligen Allianz von neidischen Literaten und
orthodoxen Frommen. 1758, nach dem Attentatsversuch eines gewissen Damiens auf
Louis XV, wurde das Verbot erneuert, 1759 setzte Papst Clemens VII das Werk auf
den Index. Inzwischen hatte aber die franz. Regierung die Deviseneinnahmen
schätzen gelernt, die trotz des Siebenjährigen Krieges (1756-63) der Verkauf
der Encyclopédie aus ganz Europa
hereinholte, und man ermutigte Diderot unter der Hand zum Weitermachen. Er
brachte die letzten zehn Bände samt 5 Bänden Abbildungen heraus (1765), zog
sich dann aber – nach 20 Jahren Arbeit – zurück und überließ seinen Nachfolgern
die Herausgabe der letzten Abbildungsbände, die, wie schon die ersten, viel zum
Ruhm des Unternehmens beitrugen.
Neben der Encyclopédie hatte Diderot immer auch andere Werke in Arbeit. Schon
1746 hatte er im Anschluss an die Shaftesbury-Übersetzung seine Pensées philosophiques publiziert, worin
er erstmals materialistische und atheistische Vorstellungen vertrat. 1748
schrieb und druckte er einen libertinen Roman, Les bijoux indiscrets, der ein Skandalerfolg wurde (und in
Literaturgeschichten für Schüler und Studenten oft unerwähnt bleibt). 1749
publizierte er, wie erwähnt, die philosophische Schrift Lettre sur les aveugles, worin er ausgehend von der These, dass ein
blind Geborener keine Möglichkeit habe, die Existenz Gottes als Schöpfers der
Welt zu erdenken, diese Existenz überhaupt bezweifelt. Die Strafe waren,
nachdem schon zwei Jahre vorher sein Gemeindepfarrer ihn als gottlosen
"homme très dangereux" denunziert hatte, einige Monate Haft in
Vincennes (s.o.) 1751 trug Diderot bei zu einer Grundlegung der philosophischen
Ästhetik mit der Lettre sur les sourds et
muets.
In den Jahren hiernach beschäftigte er sich
mit Kunstgeschichte sowie den Techniken der Malerei und wurde einer der ersten
professionellen Kunstkritiker mit den Artikeln, die er von 1759 bis 1771 sowie
gelegentlich auch danach für die Zeitschrift Correspondance littéraire seines Freundes Melchior Grimm verfasste,
um über die Verkaufsausstellungen (Salons) zu berichten, die alle zwei Jahre
von den Mitgliedern der Académie de peinture et de sculpture im Verein mit
Pariser Galeristen veranstaltet wurden.
Als Naturwissenschaftler betätigte sich
Diderot in den Pensées sur l'interprétation de la nature (1754),
einem Plädoyer für das Prinzip des Experiments und gegen die oft nur
pseudo-rationalen Naturerklärungen der Cartésiens, d.h. der rationalistischen
Denker im Gefolge von René Descartes (1596–1650).
Daneben wurde Diderot sehr bedeutsam
für die Entwicklung der Gattung Drama. Er verfasste einige Stücke, die heute
wegen ihrer ereignisarmen und oft unwahrscheinlichen Handlung kaum mehr
aufgeführt werden, zu ihrer Zeit aber erfolgreich waren dank ihrer eindringlichen
Darstellung widersprüchlicher Gefühle und innerer Konflikte in einem als
zeitgenössisch und real intendierten Milieu (das wohl als
großbürgerlich-neuadelig vorzustellen war). Am bekanntesten wurden Le Fils naturel (1757), worin ein junger
Mann sich tugendhaft dazu durchringt, seinem Freund die Braut nicht
auszuspannen, in die er sich wider Willen verliebt hat und die auch ihrerseits
sich magisch von ihm angezogen fühlt (und sich am Ende als seine Halbschwester
herausstellt), sowie Le Père de famille (1758),
worin ein Familienvater, der für seine beiden heiratsfähigen Kinder eigentlich
passende Konventionalehen anstrebt, ihnen erst nach langen inneren Konflikten
die Liebesheiraten gestattet, die sie selber wünschen (und die sich
nachträglich als sozial akzeptabel erweisen). Wichtiger noch als die Stücke
wurden die theoretischen Abhandlungen Diderots (u.a. De la poésie dramatique, 1758). Sie begründeten ein neues Genre:
das außerhalb der traditionellen Gattungen Tragödie und Komödie angesiedelte drame bourgeois (bürgerliches
Trauerspiel), das besser als jene die Realität der Epoche darstellen und
selbstverständlich keine Verse, sondern Prosa verwenden sollte.
Zugleich arbeitete Diderot immer wieder
auch an Romanen und Erzählungen, die rückblickend erstaunlich modern wirken,
meist aber erst postum erschienen. So verfasste er 1760/61 den
kirchenkritischen und zugleich empfindsamen meisterlichen kleinen Roman La Religieuse, der den Leidensweg einer
unfreiwilligen Nonne beschreibt und heute wohl sein meistgelesenes (und
verfilmtes) Werk ist (gedruckt erst 1796). 1760-64 schrieb er den
experimentellen Roman Le Neuveu de Rameau
(erstmals gedruckt in Goethes deutscher Übersetzung 1805, in einer franz.
Rückübersetzung 1821, im endlich wiederentdeckten Originaltext erst 1891). 1773
stellte er den schwer klassifizierbaren Roman Jacques le Fataliste fertig (gedruckt erst 1796).
Hauptanliegen Diderots waren aber seine
philosophischen Schriften. Hierin vertrat er neben den erwähnten kirchen- und
religionskritischen Positionen eine sehr optimistische „natürliche Moral“, in
der typisch aufklärerischen Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus gut sei
und dass in einer Gesellschaft selbständig denkender und emanzipierter
Individuen das persönliche Glück und allgemeines Wohlergehen zusammenfallen
müssten.
Neben der unermüdlichen Arbeit führte
Diderot ein reges gesellschaftliches Leben in Kreisen der philosophes, d.h. der kritisch eingestellten Pariser
Intellektuellen (Condillac, Turgot, Helvétius, d'Holbach usw.), aber auch in
einigen adeligen Salons. Ab 1755 stand er in einem regen „empfindsamen“
Briefwechsel mit der hochgebildeten Sophie Volland.
Ähnlich wie Voltaire war auch Diderot
auf der Suche nach dem aufgeklärten Monarchen. Er fand ihn in der (aus
Deutschland stammenden) russischen Zarin Katharina, die ihm 1765 pro forma
seine Bibliothek abkaufte, ihn generös als Bibliothekar besoldete sowie mit
Geld für Neuanschaffungen ausstattete und ihn 1773 einige Monate am Hof von
Sankt-Petersburg verwöhnte (wohin nach seinem Tod 1784 denn auch die Bibliothek
verfrachtet wurde).
(Stand: Okt. 09)
Jean-Jacques Rousseau (*28.6.1712 Genf;
†2.7.1778 Ermenonville bei Paris).
Er war als Person ein Leben lang
schwierig und ist als Autor schwer klassifizierbar. Er zählt jedoch zu den
zentralen Figuren der französischen Geistesgeschichte des 18. Jh. Seine
literarische Nachwirkung in ganz Europa wie auch sein Einfluss auf die
Pädagogik und auf die politische Theorie der Revolutionszeit und des 19. Jh.
sind kaum zu überschätzen. In Deutschland figuriert er meist in der Rubrik
‚Philosoph’.
Er wurde geboren als Sohn eines
protestantischen Genfer Uhrmachers franz. Herkunft, der vor der Heirat einige
Jahre im türkischen Istanbul gearbeitet hatte. Seine Mutter, Tochter eines
protestantischen Pfarrers, starb kurz nach seiner Geburt, woraufhin eine der
zahlreichen Schwestern des Vaters einzog und sich offenbar liebevoll um Kind
und Haushalt kümmerte. Der Vater scheint sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um
die Erziehung des häufig kränkelnden Knaben bemüht und die Lust zur Lektüre in
ihm geweckt zu haben. Er verließ jedoch nach einer Rauferei mit einem Offizier
fluchtartig Genf und verschwand so aus dem Leben Rousseaus. Dieser kam nun – er
war eben 10 - kurz zu einem Pfarrer in Pension, wo er öfter gezüchtigt wurde.
Danach lebte er einige Zeit als Randfigur im Haushalt einer anderen Tante
väterlicherseits.
Mit 12 wurde er als Lehrling zu einem
Gerichtsschreiber gegeben und ein Jahr später zu einem Graveur, der ihn wegen
seiner Bockigkeit schlug. Als er 1728 bei der Rückkehr von einem
Sonntagsausflug das Genfer Stadttor schon verschlossen fand, folgte er
kurzentschlossen einer schon länger gehegten Idee und ging auf Wanderschaft.
Einige Tage später, in Savoyen, geriet er an einen katholischen Pfarrer, der
ihn an die knapp 30-jährige Mme de Warens in Annecy verwies, die gerade
konvertiert war und eine Pension vom Herzog von Savoyen erhielt, um ihrerseits
Protestanten zu bekehren. Sie nahm sich Rousseaus an, schickte ihn aber rasch
weiter nach Turin, wo er sich im Hospice des catéchumènes kurz unterweisen und
katholisch taufen ließ.
Nachdem er ein Jahr als Diener und als
Sekretär in vornehmen Häusern Turins verbracht hatte, kehrte er 1729 zurück zu
Mme de Warens. Ihrem Vorschlag folgend ließ er sich in das Priesterseminar in
Annecy aufnehmen, hielt es aber dort nicht lange aus. Da er sich gern als
Sänger an ihren Hausmusikabenden beteiligt hatte, vermittelte Mme de Warens ihn
nun an den Leiter der Dom-Musikschule, der ihn zu sich nahm und in Chorgesang und
Flötenspiel unterrichtete. Es folgten einige fruchtbare Monate, in denen
Rousseau die Grundlagen seiner musikalischen Kenntnisse erwarb. Als der
Musikmeister 1730 Annecy verließ und nach Lyon ging, begleitete Rousseau ihn
dorthin, trennte sich aber bald von ihm.
Zurück in Annecy, stellte er fest, dass
Mme de Warens eine Reise nach Paris angetreten hatte. Er ging deshalb ebenfalls
auf Wanderschaft, versuchte sich u.a. als Musiklehrer in Lausanne und Neuchâtel
und marschierte 1731 zu Fuß nach Paris, wo er den Sommer als Diener eines
reichen jungen Schweizers verbrachte. Nachdem er erfahren hatte, dass Mme de
Warens wieder in Savoyen war, nunmehr in Chambéry, wurde er im Herbst wieder
bei ihr vorstellig und wie ein Ziehsohn aufgenommen.
Bei ihr wohnend arbeitete er zunächst 8
Monate beim Katasteramt, verlegte sich 1732 aber auf Musikunterricht. Es
folgten fünf glückliche und für seine Bildung sehr fruchtbare Jahre. Er las,
musizierte, trieb naturkundliche Studien und begann zu schreiben. Auch ließ er
sich – etwas widerstrebend – von "Maman" (die nur 13 Jahre älter war
als er) in die Kunst der Liebe einführen. Den Winter 1737/38 verbrachte er in
Montpellier, um eine Augenverätzung behandeln zu lassen, die er bei einem
chemischen Experiment erlitten hatte. Als er zurückkehrte, fand er einen
Rivalen vor: den neuen Sekretär und Hausverwalter von Mme de Warens. Er blieb
dennoch zwei weitere Jahre in Chambéry und verdingte sich anschließend (1740)
als Hauslehrer in Lyon.
1742 reiste er nach Paris, um ein von
ihm entwickeltes Notensystem von der Académie des Sciences patentieren zu
lassen. Er durfte es dort präsentieren, bekam auch ein Zertifikat und ließ
Anfang 1743 seine Präsentation als Dissertation sur la musique moderne
gedruckt erscheinen, doch setzte sein System sich nicht durch.
Immerhin erhielt er in Paris Zugang zu
dem bekannten literarischen Salon von Madame Dupin und konnte einige
Verbindungen knüpfen. Auch begann er eine Oper: Les Muses galantes. Im
Sommer 1743 wurde er dem neuernannten franz. Botschafter in Venedig als
Privatsekretär empfohlen und reiste dorthin. Das Verhältnis endete aber bald im
Streit, und Rousseau kehrte im Herbst 1744 zurück nach Paris.
Hier fand er 1745 Anschluss an diverse
Mäzene (bei denen er seine inzwischen fertige Oper aufführen konnte) und an
Diderot (s.o.), über den er andere junge Intellektuelle im Umkreis der späteren
Encyclopédistes oder „philosophes“ kennenlernte, insbes. Jean Le Rond
d’Alembert, den Mitherausgeber der 1746 von Diderot initiierten Encyclopédie.
Ebenfalls 1745 liierte er sich mit dem 23-jährigen Zimmermädchen Thérèse
Levasseur.
Die nächsten Jahre waren, ohne
eigentlich erfolglos zu sein, eine Zeit des Tastens (z.B. schrieb er 1747 eine
Komödie, L’Engagement téméraire) sowie der materiellen Unsicherheit.
Letztere führte auch dazu, dass er und Thérèse ihre 1746 und 48 geborenen
Kinder jeweils in der Kinderklappe eines Nonnenklosters abluden, wo sie, wie
die allermeisten der so entsorgten Säuglinge, wahrscheinlich nicht überlebten.
Rousseau entschuldigte diese damals durchaus gängige Problemlösung später
damit, dass seine Arbeit schlecht oder gar nicht honoriert worden sei, so dass
Thérèse für beider Lebensunterhalt habe aufkommen müssen und sich nicht mit
Kindern habe belasten können.
1749 war das entscheidende Jahr für
Rousseau. Zu Jahresbeginn wurde er von d'Alembert mit der Abfassung
musikologischer Artikel für die Encyclopédie betraut. Im Herbst besuchte
er den in der Festung Vincennes inhaftierten Diderot und las unterwegs in der
Zeitschrift Mercure de France die Preisfrage der Académie von Dijon: Le
Rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs? (Hat
die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten
reiner werden zu lassen?) Er hatte die provokante Idee, die Frage zu verneinen,
und schrieb seinen Discours sur les Sciences et les Arts (Abhandlung
über die Wissenschaften und die Künste), worin er die nach Luxus strebende
zeitgenössische europäische Gesellschaft in die sittliche Dekadenz abgleiten
sieht. Der im Mercure abgedruckte Discours lief den Vorstellungen
der meisten Intellektuellen der Zeit zwar völlig entgegen, stieß aber trotzdem
auf starkes Interesse. Rousseau erhielt 1750 den ersten Preis und wurde dank
der heftigen Diskussionen, die er auslöste, über Nacht bekannt.
Inzwischen verdiente er auch etwas Geld
und konnte mit Thérèse zusammenziehen, was sie beide nicht hinderte, 1751 auch
ein drittes Neugeborenes zu entsorgen.
Ende 1752 wurde mit großem Erfolg seine
neue Oper Le Devin de village in
Versailles vor dem Hof und danach, 1753, auch in Paris aufgeführt. Rousseau
sollte sogar dem König vorgestellt werden, doch entzog er sich der Ehrung (und
verpasste damit wahrscheinlich die Zuweisung einer jährlichen „Pension“). Nach
dem Erfolg des Devin wurde vom Théâtre-Français auch seine Komödie Narcisse, ein Jugendwerk, angenommen.
Er hätte sich nun etablieren können,
doch fing er an, in eine Art Fundamentalopposition abzugleiten. Noch 1753 begann
er eine zweite höchst kritische Preisschrift (s.u.) und ließ eine Lettre sur
la musique française erscheinen, worin er die franz. Musik gegenüber der
italienischen herabsetzte. Das Opernorchester reagierte mit dem Erhängen einer
Rousseau-Puppe. 1754 reiste er (mit Zwischenstation bei Mme de Warens) nach
Genf, nahm die dortige Staatsbürgerschaft wieder an und schwor dem
Katholizismus ab.
1755 wurde er der Staatsgewalt und
allen Etablierten verdächtig, als er, vorsichtshalber in Amsterdam, seinen Discours sur l'origine et les fondements de
l'inégalité parmi les hommes
erscheinen ließ, eine Antwort auf die Preisfrage der Académie von Dijon
im Jahr 1753: Quelle est l'origine de l'inégalité parmi les hommes, et
est-elle autorisée par la loi naturelle? Denn Rousseau, der
kleinbürgerliche Habenichts, erklärt hierin die soziale Ungleichheit aus der
Herausbildung der Arbeitsteilung und der dadurch ermöglichten Aneignung der
Erträge der Arbeit Vieler durch einige Wenige, die anschließend autoritäre
Staatswesen organisieren, um ihren Besitzstand zu schützen. Rousseau wurde mit
dieser wahrhaft revolutionären Schrift einer der Väter des europäischen
Sozialismus.
Anfang 1756 lehnte er den
Bibliothekarsposten ab, den ihm die Stadtrepublik Genf anbot. Stattdessen zog
er (mit Thérèse, die ihm inzwischen wohl nur noch als Haushälterin diente) nach
Montmorency nördlich von Paris, als Gast der vielseitig interessierten und
selbst schriftstellernden Mme d'Épinay, einer Freundin von Diderot. Mit diesem
und dem Kreis der „philosophes“ verfeindete er sich allerdings 1758, als er auf
den kritischen Artikel „Genf“, den d’Alembert für die Encyclopédie verfasst
hatte, mit der Lettre à d'Alembert sur
les spectacles reagierte, worin er das Theater, ein Lieblingskind der
Aufklärung und zunächst ja durchaus auch von ihm selbst, als potentiell
unsittlich und als unnütz anprangerte.
In Montmorency, wo er 1758 ein Häuschen
für sich und Thérèse mietete, vorübergehend aber auch Gast des hochadeligen Duc
de Luxembourg war, schrieb er – teilweise nebeneinander – innerhalb von knapp
sechs Jahren seine erfolgreichsten und langfristig wirksamsten Werke. Dies
waren: der empfindsame Briefroman La
Nouvelle Héloïse (1756-58), der die letztlich unmögliche Liebe des
bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux zu der adeligen Julie d'Étanges
darstellt und z.T. von Rousseaus Leidenschaft für die Schwägerin von Mme
d’Épinay, Mme d’Houdetot, inspiriert war; weiter der pädagogische Roman Émile (1758-61), der das Ideal einer
"natürlichen" kindgemäßen Erziehung entwickelt; sowie der
staatsphilosophische Traktat Le Contrat
social (1760/61), der die Rechte der Individuen gegenüber dem Staat, aber
auch dessen Ansprüche gegenüber den Individuen zu definieren und zu begründen
versucht und den heute so wichtigen Begriff der Volkssouveränität kreiert, auf
dem die Legitimität von Volksentscheiden und allgemeinen Wahlen gründet.
La
Nouvelle Héloïse
war sofort nach dem Erscheinen Anfang 61 ein großer Erfolg und löste eine Flut
von Briefromanen in ganz Europa aus, darunter 1774 Goethes Werther. Der Contrat social und
der Émile dagegen wurden nach ihrem Erscheinen im April bzw. Mai 1762
verboten. Vor allem entfesselte die im Émile als Einschub enthaltene Profession de foi d'un vicaire savoyard
(=Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars) einen Sturm der Entrüstung bei
allen orthodoxen Christen, gleich ob Katholiken oder Protestanten, die nicht
gewillt waren, Rousseaus Verklärung der Natur zu einer Quasi-Gottheit
hinzunehmen. Die Sorbonne verurteilte das Buch Anfang Juni und das Pariser
Parlement erließ einige Tage später Haftbefehl gegen Rousseau. Dieser flüchtete
sofort Richtung Schweiz, nicht ahnend, dass noch im Juni auch in Genf ein
Verbot samt Haftbefehl erlassen wurde.
Er fand Aufnahme bei einem Freund im Kanton
Bern, wurde dort aber rasch ausgewiesen. Im Juli 62 wandte er sich über den
Gouverneur des damals preußischen kleinen Fürstentums Neuenburg/Neuchâtel an
Friedrich den Großen, der ihm im August Asyl und später sogar Bürgerrecht
gewährte. Er ließ sich im neuenburgischen Städtchen Môtiers nieder, holte
Thérèse dorthin nach und begann, sich als Armenier zu kleiden. Noch von Ende 62
datiert seine erste Verteidigungsschrift, ein offener Brief an den Pariser
Erzbischof, der im August den Émile verurteilt hatte. Anfang 1763
stellte er in Môtiers sein Dictionnaire de la musique fertig. 1764 fing
er dort an, botanische Studien zu treiben.
Als er sich Ende 1665 auch in Môtiers
unwillkommen und verfolgt fühlte, nahm er eine Einladung des Philosophen David
Hume nach England an und ließ sich einen Durchreise-Pass für Frankreich
ausstellen. Unterwegs konnte er feststellen, dass er inzwischen durchaus auch
Bewunderer hatte: Bei einem Aufenthalt in Straßburg wurde er mit einer
Aufführung seines Devin de village geehrt, in Paris logierte er bei dem
Prince de Conti und empfing in dessen Haus Besuche.
1766 und die erste Jahreshälfte 67
verbrachte er überwiegend in England, anfangs bei Hume, mit dem er sich aber
zerstritt und der ihn attackierte. Immerhin fand Rousseau auch in England
Sympathisanten vor, die z.B. den König bewogen, ihm eine Pension zu gewähren
1767/68 lebte er an verschiedenen Orten
Frankreichs, unter anderem auf einem Schloss von Conti. Hierbei bewegte er
sich, denn der Haftbefehl war ja nicht aufgehoben, unter falschem Namen und gab
Thérèse als seine Schwester aus. 1769/70 lebten sie beide auf einem
Bergbauernhof in der fernen Dauphiné, nachdem sie im August 68 dort endlich
geheiratet hatten.
In diesen unsteten Jahren nach 1762
wurde Rousseaus tatsächliche Verfolgung und Verunglimpfung nach und nach
verschlimmert durch einen Verfolgungswahn. Dieser speiste einen Erklärungs- und
Rechtfertigungszwang, aus dem heraus er ab 1763 eine ganze Reihe kürzerer und
längerer autobiografischer Werke verfasste. Am bekanntesten wurden die auch die
Intimsphäre und das Ego des Autors nicht schonenden umfangreichen Confessions (1765-70, erst postum
publiziert), die die Untergattung der selbstentblößenden Autobiografie
begründeten.
Im
Frühjahr 1770 verließ Rousseau seinen Bauernhof Richtung Paris. Bei einem
Aufenthalt in Lyon wurde er vom Vorsteher der Kaufmannschaft mit Aufführungen
seines Devin und seines lyrischen Kleindramas Pygmalion geehrt.
Ab Juni lebte er dann, zurückgezogen und von den Behörden stillschweigend geduldet, mit Thérèse in Paris. Er
wurde hin und wieder in Salons zu Lesungen eingeladen und es scharte sich (denn
seine Ideen breiteten sich aus) nach und nach ein Kreis von Jüngern um ihn,
darunter ab 1771 der später sehr bekannte Autor Bernardin de Saint-Pierre.
1772-75 verfasste er den
autobiografischen Dialog Rousseau juge de Jean Jacques. 1774 gab er sein
Dictionnaire des termes d’usage en
botanique in Druck. 1776-78
schrieb er sein letztes längeres Werk: die Rêveries
du promeneur solitaire (=Träumereien
des einsamen Spaziergängers), die auf neue Art Gegenwartsmomente zum
Ausgangspunkt von autobiografischen Rückblicken machen und mit ihrer Kunst des
Einfangens von Naturstimmungen in lyrischer Prosa als eine Vorbereitung der
Romantik gelten.
Im Mai 78 nahm er, weil er kränkelte,
die Gastfreundschaft des Marquis de Girardin auf Schloss Ermenonville an. Kurz
danach starb er und wurde auf der "Île des peupliers" (=Insel der
Pappeln) im Schlosspark begraben. 1794, im Gefolge der Revolution, wurden seine
Gebeine triumphal ins Pariser Panthéon überführt.
Thérèse heiratete ein Jahr nach
Rousseaus Tod einen jungen Engländer.
(Stand: Juni
12)
Élie Catherine Fréron (* 20.1.1718 in Quimper; † 10.3.1776 in Montrouge)
Zu
seinen Lebzeiten ein geachteter und von den Autoren der Aufklärung gefürchteter
Literaturkritiker und Polemiker, ist Fréron heute meist nur noch dank seiner
Fehden mit Voltaire bekannt.
Er
war Sohn eines Goldschmiedes und erhielt seine Schulbildung bei den Jesuiten,
zunächst in seiner Heimatstadt Quimper (Bretagne) und dann in Paris auf dem
Collège Louis-le-Grand. 1737 wurde er Novize im Jesuitenorden und war kurze
Zeit auf dem Louis-le Grand als Lehrer tätig.
1739,
am Ende seines Noviziats, entschied sich für eine Existenz als freier Literat
und wurde Mitarbeiter in der anti-aufklärerisch orientierten
Literaturzeitschrift Observations sur les écrits modernes des Abbé
Desfontaines. Als diese 1745 beim Tod des Abbé eingestellt wurde, gab Fréron
sogleich eine eigene Zeitschrift heraus, die Lettres de Mme la comtesse de
*** sur quelques écrits modernes. Hierin profilierte er sich als so
scharfsinniger wie unerschrockener und spitzzüngiger Kritiker auch etablierter
Autoren, insbes. solcher, die der Aufklärung nahe standen. Schon 1746 bekam er
es erstmals mit der Staatsgewalt zu tun, als auf Betreiben der königlichen
Mätresse, Mme de Pompadour, seine Zeitschrift verboten und er selbst
vorübergehend in Vincennes inhaftiert wurde.
1748
wurde Fréron Sekretär und Mitarbeiter des literarisch dilettierenden Duc
[Herzog] d'Estouteville, mit dem zusammen er eine Teilübertragung von
Gianbattista Marinos Versepos Adone (=Adonis) verfasste.
1749
gründete er eine neue Zeitschrift, die Lettres sur quelques écrits de ce
temps, die jedoch schon im Folgejahr verboten wurde. 1752 reaktivierte er
sie und benannte sie 1754 um in L'Année littéraire. Diese alle 10 Tage
ein Heft publizierende Zeitschrift wurde dann sein Lebenswerk, das er, auch
wirtschaftlich höchst erfolgreich, bis zu seinem Tod führte. Die Tendenz der Année
war wiederum anti-aufklärerisch; ästhetisch war sie den Idealen der Klassik
verpflichtet. Sie wurde in konservativ-katholisch und
royalistisch-absolutistisch denkenden Kreisen geschätzt und viel gelesen und
fungierte als ein zentrales Organ der Gegner die Aufklärung.
Hin
und wieder betätigte sich Fréron auch als Historiker. Er verfasste eine Histoire
de Marie Stuart (zusammen mit dem Abbé de Marsy, 1742) und eine Histoire
de l’empire d’Allemagne (8 Bde., 1771).
Nachdem
er zunächst ein Bewunderer Voltaires gewesen war, machte Fréron sich diesen
schon zur Zeit der Observations mit sachlich-höflichen, aber bissigen
Kritiken zu einem Feind, der ihn später geradezu rachsüchtig verfolgte, ihn
1760/61 mit Schmähgedichten und Pamphleten überzog und ihn sogar, in Gestalt
des widerwärtigen Klatschkolumnisten Frélon, als Nebenfigur in seinem „drame“ L'Écossaise
(=die Schottin, 1760) auftreten ließ. Häufig zitiert findet man auch das
folgende boshafte Epigramm Voltaires:
L'autre jour,
au fond d'un vallon,
Un serpent mordit Jean (sic) Fréron.
Que croyez-vous qu'il arriva?
Ce fut le serpent qui creva.
(Neulich, auf dem Grund eines Tales,
biss eine Schlange J. F. Was meinen Sie, was geschah? Die Schlange war es, die
krepierte.)
Fréron geriet, nach dem weitgehenden
Sieg der Aufklärung, im Fortgang der Geistesgeschichte endgültig auf die
Verliererseite, doch hatte er schon zu seinen Lebzeiten keinen leichten Stand.
Obwohl auch er über einflussreiche Protektoren verfügte, schafften es seine
Gegner, die um die Encyclopédie vereinten „philosophes“, immer wieder
seine Zeitschrift verbieten zu lassen. Zweimal wurde er sogar kurz inhaftiert.
Auch sein plötzlicher Tod wurde möglicherweise durch den Ärger über ein
neuerliches Verbot seiner Zeitschrift bewirkt (die dann aber noch 15 Jahre lang
von seinem Sohn weitergeführt wurde). Heute wird er meistens aus der
Perspektive Voltaires gesehen, d.h. als böswilliger Kritikaster und selten als
der intelligente Kritiker und talentierte Pamphletist, der er war.
(Stand:
Juli 08)
Paul-Henri
Thiry d’Holbach (* 8. 12.1723 in Edesheim bei
Landau/Pfalz; † 21.1.1789 in Paris)
D’Holbach
(wie er bei den Historikern schlicht heißt) war einer der Begründer des
philosophischen Materialismus. Sein Buch Le Système de la Nature (1770)
gilt als eines der einflussreichsten Werke der franz. Aufklärung.
Er
wurde geboren als Paul-Heinrich Dietrich, Sohn eines Winzers und Enkel
mütterlicherseits eines Steuereinnehmers. Er kam früh in die Obhut seines
Onkels Franz Adam Holbach, der gegen 1720 durch glückliche Spekulationen an der
Pariser Börse reich geworden war und sich einen franz. Baron-Titel verschafft
hatte, aber in die Pfalz zurückgekehrt war.
Nachdem
1731 sein Hauslehrer, ein franz. Geistlicher, als Jansenist verdächtigt und die
Bibliothek des Onkels beschlagnahmt worden war, zog dieser mit seiner Familie
wieder nach Paris und nahm den 8-jährigen Neffen dorthin mit.
1744-48
studierte er Jura im holländischen Leiden, ging dann nach Paris zurück und
erhielt die Zulassung als Anwalt. Praktizieren tat er aber nie, vielmehr führte
er das Leben eines finanziell unabhängigen Privatgelehrten, wobei er sich vor
allem für Naturwissenschaften interessierte. 1749 heiratete er eine Tochter
seiner Cousine, d.h. der Tochter seines Onkels. Um dieselbe Zeit wurde er von
diesem adoptiert und nannte sich nun Paul Thiry d’Holbach, wobei ‚Thiry’ (als
franz. Entsprechung von ‚Dietrich’) erster Teil seines Nachnamens war.
Als
1753 der Onkel starb, erbte d’Holbach zusammen mit seiner Cousine bzw.
Adoptivschwester dessen Vermögen (was ihm angeblich enorme 60.000 Livres
Jahreseinkünfte bescherte) und übernahm seinen Titel eines Barons.
1754
starb seine Frau und er ging mit einem Freund, dem in Paris lebenden deutschen
Baron Melchior Grimm, auf Reisen, um Abstand zu gewinnen. Danach heiratete er
(mit einem teuren Dispens des Papstes) die ältere Schwester seiner Frau, mit
der er mehrere Kinder bekam.
Um
1750 hatte er begonnen, in Paris einen Salon zu führen, der nach und nach zum
Treffpunkt insbesondere solcher Personen der Pariser Gesellschaft wurde, die
sich der Aufklärung verbunden fühlten. Einer der ersten ständigen Gäste war
Denis Diderot (s.o.), mit dem d’Holbach lebenslang befreundet blieb. Von ihm
ließ er sich 1751 als Mitarbeiter an dem Großlexikon Encyclopédie anwerben
und verfasste in den Folgejahren – stets anonym – an die 400 Artikel in den
Bereichen Geologie, Chemie, Mineralogie, Metallurgie und Medizin.
Daneben
übersetzte er, als einer der raren Franzosen seiner Zeit, die des Deutschen
mächtig waren, naturwissenschaftlich-technische Werke deutscher Autoren ins
Franz.
Um
1765 begann d’Holbach seine Karriere als philosophischer Autor, weiterhin
anonym oder unter Pseudonymen, weshalb seine Autorschaft bei einigen ihm
zugeschriebenen Werken unsicher ist. Er gab zunächst zwei Schriften des 1759
verstorbenen Aufklärungsautors Nicolas Boulanger heraus und publizierte 1766
unter dessen Namen sein erstes eigenes Werk: Le Christianisme dévoilé (=das
enttarnte Christentum). Diesem ließ er 1768 La Contagion sacrée (=die
geheiligte Ansteckung) und La Théologie portative (=Theologie im
Taschenbuchformat) folgen. Hauptthema dieser Schriften ist der Nachweis, dass
Religion, zumal die christliche, den Menschen unglücklich macht, weil sie ihn entmündigt
und zum Obekt gieriger und machthungriger Priester macht, weshalb man gut tut,
sich vom Glauben an einen ohnehin inexistenten Gott zu lösen und stattdessen
seiner Vernunft zu vertrauen und seinem legitimen Wunsch nach Verwirklichung
des eigenen Glücks zu folgen.
Wie
eine Bombe schlug dann 1770 das Buch Le Système de la Nature ein, das
d’Holbach unter dem Namen des 1760 verstorbenen Autors Mirabaud
veröffentlichte. Es wurde sofort verboten, erreichte aber trotzdem zehn
Auflagen in einem Jahr und provozierte zahlreiche Gegenschriften katholischer
wie protestantischer Theologen. Le Système wurde ein Manifest des
Materialismus, d.h. der Überzeugung, dass der Mensch ein Stück bloße Natur und
damit ein rein materielles Wesen sei, dessen körperliche, aber auch geistige
und psychische Regungen quasi mechanische Reaktionen auf äußere Reize und
Gegebenheiten sind. Es war zugleich implizit erneut Religions- und
Kirchenkritik in dem Sinne, dass d’Holbachs Theorien den christlichen
Vorstellungen eines persönlichen Gottes, einer unsterblichen Seele, eines
freien Willens und einer gottgewollten (von der Kirche kontrollierten) Moral
zuwiderliefen.
Noch
erfolgreicher war 1772 eine Kurzfassung des Système, die unter dem Titel
Le Bon sens (=der gesunde Menschenverstand) erschien und vermutlich von
J.-A. Naigeon, dem Sekretär d’Holbachs, redigiert worden war.
Dieser
selbst hatte sich inzwischen moralphilosophischen Überlegungen zugewandt, die
er vor allem in der Schrift Le Système social (1773) formulierte.
Ausgehend von der These, dass der Mensch von Natur aus vor allem nach
Verbesserung seiner Situation und nach Lustgewinn strebt, erklärt d’Holbach
diese Eigenschaften, weil sie keinen Stillstand dulden, zum Motor des
Fortschritts. Zugleich vertraut er jedoch darauf, dass die ichbezogenen
Strebungen des Menschen dadurch gezügelt und kanalisiert werden, dass er
zugleich ein tugendhaftes Wesen ist, das über einen angeborenen Sinn für
Gerechtigkeit verfügt und sein eigenes Glück nicht zuletzt im Glück seiner
Mitmenschen findet. Eine ideale Gesellschaft wäre demnach die, der es gelingt,
die Strebungen des Einzelnen sich entfalten zu lassen, sie aber dank einer
entsprechenden Erziehung der ihm angeborenen Tugend für das Gemeinwohl nutzbar
zu machen. Diese Gesellschaft der Tugendhaften verträgt sich für d’Holbach
durchaus mit dem Bestehen unterschiedlicher Besitzverhältnisse, denn der
Besitzende, der in der Regel auch tugendhaft ist, vergilt seinen Vorteil mit
der Übernahme größerer Verantwortung für das Ganze, wobei der Arme ja die
Möglichkeit hat, durch Fleiß und Arbeit ebenfalls zu Besitz zu gelangen.
Als
1776 der junge Louis XVI auf den Thron kam und sich mit reformwilligen
Ministern umgab, verfasste d’Holbach für ihn die Schrift L’Éthocratie.
Hierin fordert er eine moralische Erziehung aller, Pressefreiheit, Abschaffung
der Adelsprivilegien, Trennung von Kirche und Staat, Reform des Justizwesens,
Gleichberechtigung der Frau, Recht auf Ehescheidung u.ä. und schlägt ein
Programm von konkreten Maßnahmen zur Verwirklichung vor. Bekanntlich siegten
gegen 1780 aber noch einmal die Kräfte der Beharrung und trennte sich der König
von den Reformatoren.
Wie
erwähnt, führte d’Holbach ein offenes Haus, doch scharte er zugleich einen
engeren Kreis um sich, der sich scherzhaft „La Coterie (=Klüngel) d’Holbach“
benannte, nach der böse gemeinten Bezeichnung Rousseaus (s.o.), der zunächst
dazugehört hatte, sich dann aber ausgeschlossen und sogar verfolgt fühlte. Zu
den 15 bis 20 Mitgliedern gehörten vor allem Autoren der Encyclopédie,
die dort ohne Scheu Gedanken diskutieren konnten, die außerhalb des Kreises,
sogar z.B. in d’Holbachs Salon, tabu waren. Auch auswärtige und ausländische
Intellektuelle, die der Aufklärung nahe standen, z.B. David Hume oder Benjamin
Franklin, durften bei Paris-Aufenthalten die „Coterie“ frequentieren.
(Stand: Dez.
09)
Beaumarchais (=
Pierre-Augustin Caron, *24.1.1732 Paris; † 18.5.1799 ebd.).
Er ist in die Literaturgeschichte
eingegangen als Schöpfer der wohl bekanntesten franz. Komödienfigur, des
Figaro.
Als Sohn eines Pariser Uhrmachers
lernte er zunächst auch selbst dieses Handwerk und machte mit 20 eine
Erfindung, die den Bau sehr kleiner Uhren erlaubte. Stolz führte er dem horlogier du roi Lepaute die Neuerung
vor und erlebte, wie dieser sie danach als seine eigene propagierte. Er wehrte
sich mit einem fulminanten offenen Brief an die Académie des Sciences, die ihm recht gab, und wurde hierdurch schlagartig so bekannt, dass er Zutritt zum
Hof erhielt.
Hinfort führte er, unter dem Namen
Beaumarchais, ein ungewöhnlich bewegtes Leben als Höfling (er war z. B.
Harfenlehrer der Töchter von Louis XV), als Salon-Animateur, Geschäftsmann,
Richter für Jagddelikte, Diplomat, Häftling, Geheimagent, Vorsitzender des
Verbandes der Theaterautoren, Verleger, Millionär, Politiker, Emigrant und –
mehr nebenher – als Literat.
Virtuos wie niemand vor ihm beherrschte
und manipulierte er die im Entstehen begriffene Öffentlichkeit und ihre
Hauptmedien Druckerpresse und Theater. So machte er z. B. 1773/74 mit
Denkschriften (mémoires) gegen einen angeblich korrupten Pariser hohen Richter
einen privaten Rechtsstreit zum Politikum und kippte ganz nebenbei eine kurz
zuvor durchgeführte Justizreform.
Heute ist Beaumarchais vor allem
bekannt als Autor der Erfolgskomödien La
Précaution inutile ou Le Barbier de Séville (1775) und vor allem La folle journée, ou le mariage de Figaro
(verfasst und mehrfach überarbeitet 1775-78, uraufgeführt 1784). Le Mariage de Figaro ist die Geschichte
eines jungen Bourgeois, der trotz aller seiner Intelligenz, Geschicklichkeit
und Tüchtigkeit nur mit Mühe und Glück seinen Herrn, den eher dümmlichen, aber
arroganten Grafen Almaviva, davon abhalten kann, an seiner Verlobten das
"jus primae noctis" auszuüben. Das damals revoluzzerhaft wirkende und
von Louis XVI nach einer Lesung spontan verbotene Stück wurde nach seiner
schließlichen Freigabe und Erstaufführung ein triumphaler Erfolg, nicht zuletzt
weil es offenbar die vorrevolutionäre Bourgeoisie in ihren
anti-aristokratischen Ressentiments bestätigte, ohne die überwiegend relativ
liberale Pariser Aristokratie zu verschrecken.
(Eine Langfassung des Artikels schließt
sich an.)
Beaumarchais (=Pierre-Augustin
Caron, *24.1.1732 Paris; †18.5.1799 ebd.).
Beaumarchais, wie er in der
Literaturgeschichte schlicht heißt, ist in sie eingegangen als Verfasser einer
der bekanntesten franz. Komödien, Le Mariage de Figaro. Er ist aber auch interessant als Subjekt einer
ungewöhnlichen, sehr bewegten Biografie, die zugleich aufschlussreich ist für
die Probleme eines ehrgeizigen Intellektuellen bürgerlicher Herkunft in der
immer noch von Hof und Monarchie dominierten Gesellschaft des späten Ancien
Régime.
Geboren als Sohn eines tüchtigen,
zugleich schöngeistig und musikalisch interessierten Pariser Uhrmachermeisters,
erhielt der junge Caron (ganz wie auch seine fünf älteren Schwestern) eine
passable Bildung, erlernte vor allem jedoch das väterliche Handwerk sowie
nebenher mehrere Musikinstrumente.
Als 20-Jähriger machte er eine
Erfindung, die den Bau sehr kleiner und trotzdem ganggenauer Uhren erlaubte.
Stolz zeigte er dem Hofuhrmacher (horlogier du roi) Lepaute die Neuerung und
erlebte, dass dieser sie anschließend als seine eigene propagierte. Er wehrte
sich mit einem geschickt gemachten und wohlformulierten, 1753 vom Mercure de France abgedruckten offenen
Brief an die Académie des Sciences, die ihm Anfang 1754 Recht gab.
Dank der Affäre (die ein instruktiver
Beleg ist für die sich langsam herausbildende Macht der bürgerlichen
Öffentlichkeit) wurde der junge Uhrmacher so bekannt, dass er zahlreiche neue
Kunden gewann, darunter König Louis XV und dessen einflussreiche Mätresse Mme
de Pompadour, wonach er selbst den Titel Horlogier du roi führen durfte.
Als eine weitere Kundin, und damit nahm
sein Leben einen gänzlich veränderten Lauf, lernte er die 34jährige Frau des
schon ältlichen und kranken Contrôleur de la bouche du Roi kennen, d.h. des für
die Speisen des Königs zuständigen Hofbeamten. Diesem kaufte er, die
Uhrmacherei aufgebend, 1755 sein Amt ab und heiratete nach seinem baldigen Tod
1756 die Witwe, die einen kleinen Landsitz namens Beaumarchet mit in die Ehe
brachte, allerdings schon 1757 einer Infektion erlag.
Als der ansehnliche junge Mann und gute
Unterhalter, der er war, erlangte Monsieur Caron de Beaumarchais, wie er sich
nun nannte, in seinem Amt des Contrôleur die Gunst der vier unverheirateten
Töchter von Louis XV und avancierte zu ihrem Harfenlehrer,
Hauskonzert-Organisator, Gesellschafter und Faktotum. Natürlich wurde er bald auch
vom König sowie von Mme de Pompadour gekannt. Über diese erhielt er Kontakt zu
ihrem Pro-forma-Gatten Lenormant d'Étioles, einem reichen und geselligen Mann,
der ihn in seinen Kreis zog.
Für Lenormants Privattheater verfasste
Beaumarchais in den nächsten Jahren erste Stücke, sog. Paraden (parades),
heitere, gern auch derbe Sketche um das Thema Liebe, insbesondere vor und neben
der Ehe, wobei er die üblichen Gesangseinlagen selbst komponierte.
1760 nahm sein Leben wieder eine neue
Wendung, als es ihm gelang, zunächst die Töchter des Königs und dann diesen
selbst zum Besuch und damit zur offiziellen Anerkennung der Offiziersschule zu
bewegen, die der Bankier und Heereslieferant Pâris-Duverney errichtet und
vorfinanziert hatte (denn Frankreich führte gerade an der Seite Österreichs den
Siebenjährigen Krieg gegen Preußen und England). Beaumarchais wurde von dem
dankbaren Geschäftsmann zum Juniorpartner gemacht und konnte 1761 mit einem
Kredit von ihm den sehr teuren, weil unmittelbar adelnden, aber wenig Arbeit
fordernden Titel eines Secrétaire du roi kaufen.
1762 demonstrierte er seinen neuen
Status, indem er, wiederum mit Hilfe Pâris-Duverneys, das nur Adeligen
zugängliche Amt eines Richters für Jagddelikte in den Wäldern und Feldern rund
um Paris erwarb, ein Amt, das er jahrzehntelang gewissenhaft ausübte. Hiernach
war ein schönes Haus in Paris an der Reihe, in das er zwei seiner Schwestern
aufnahm sowie seinen verwitweten Vater, den er, als nunmehr Adeliger, zur
Aufgabe seines kleinbürgerlichen Handwerks bewegte.
1764-65 weilte Beaumarchais zehn Monate
teils geschäftlich für Pâris-Duverney, teils mit diplomatischen Aufträgen
betraut in Madrid. Hier verkehrte er in besten Kreisen und versuchte nebenher
dem spanischen König eine frankophile Mätresse anzudienen. Auch versuchte er
den Verlobten einer dort lebenden Schwester, einen gewissen Clavijo, zur
Einhaltung seines Eheversprechens zu zwingen (eine undurchsichtige Affäre, die
er 10 Jahre später aber zu einem rührenden Mini-Roman verarbeitete, aus dem
Goethe 1774 sein Stück Clavigo
machte).
Neben seinen Geschäften und Reisen
blieb Beaumarchais stets auch literarisch tätig. Von der heiteren Parade
wechselte er in die ernsthafte, neu von Diderot lancierte Gattung
"Drama" (drame) und verfasste das Stück Eugénie, das Anfang 1767 mit mäßigem Erfolg an der Comédie
Française aufgeführt wurde. 1767 auch betätigte er sich als Theatertheoretiker
im Sinne Diderots, indem er der Druckausgabe von Eugénie einen Essai sur le
genre dramatique sérieux voranstellte.
1768 heiratete er eine reiche junge
Witwe (die aber schon Ende 1770, bald nach der Geburt eines zweiten Kindes,
starb). Anfang 1770 wurde Beaumarchais' nächstes, etwas eilig verfasstes Drama Les deux amis ein kompletter Misserfolg.
Im Sommer 70 nahm sein Leben eine weitere,
diesmal unglückliche Wendung: Sein Seniorpartner und Protektor Pâris-Duverney
starb, ohne ihm eine formell beglaubigte Bestätigung seines mit 15.000 F. eher
symbolischen Anteils am Firmenkapital zu hinterlassen. Beaumarchais musste
erleben, wie ein vorhandenes informelles Papier von dem ihn hassenden
Urgroßneffen und Alleinerben Pâris-Duverneys, dem Comte de la Blache,
gerichtlich angefochten wurde. Zwar gewann Beaumarchais 1772 in erster Instanz,
doch verlor er 1773 die Revision vor dem Obersten Gerichtshof (Parlement),
wobei er lernte, dass ein bürgerlicher Emporkömmling, und sei er wohlhabend und
geadelt, dort schlechte Karten hatte gegenüber einem Prozessgegner, der reich
und hochadelig war. Zugleich musste er erfahren, dass er sich in Paris und am
Hof viele Neider und Feinde gemacht hatte, die ihm jetzt zu schaden versuchten.
La Blache hatte übrigens den Zeitpunkt
für die Revision gut gewählt: Beaumarchais saß Anfang 1773 per königlichem
Haftbefehl (lettre de cachet) einige Monate in der Pariser Festung
For-l'Évêque, denn er hatte sich von einem cholerischen hochadeligen Bekannten,
dem Duc de Chaulnes, in eine handgreifliche Auseinandersetzung wegen einer
gemeinsamen Mätresse verwickeln lassen.
Bei einem Freigang, der ihm gewährt
wurde, gelang es ihm zwar, nach Zahlung einer angemessenen Summe (wie damals
üblich), den für seinen Fall zuständigen Richter zu sprechen, einen gewissen
Goëzman, aber nicht auch diesem seine Sicht der Dinge darzulegen. Ein Versuch,
sich durch Geschenke an Goëzmans Gattin eine neue Audienz zu verschaffen,
scheiterte. Nachdem er (Apr. 73) die Revision verloren hatte und durch
Pfändungen sowie die Prozesskosten finanziell ruiniert war, beschuldigte
Beaumarchais Goëzman, dieser habe ihn benachteiligt und ihm überdies nur einen
Teil der Geschenke an die Gattin zurückerstattet. Goëzman verklagte ihn wegen
Bestechungsversuchs und Verleumdung, worauf vor dem Parlement ein nächster
Prozess gegen Beaumarchais begann.
Dieser griff nun zu der Waffe, die ihm
schon einmal den Sieg gebracht hatte: er ging an die Öffentlichkeit, nun in der
Form von Denkschriften (mémoires), wie sie die Anwälte der Epoche für ihre
Mandanten verfassten. Zug um Zug publizierte er von Sept. 73 bis Febr. 74 vier
„mémoires“, in denen er seine Position sowie auch seine Person geschickt zur
Geltung brachte, seine Gegner dagegen ins Unrecht setzte und lächerlich machte.
Die mémoires fanden als Broschüren gedruckt eine enorme Verbreitung, besserten
Beaumarchais' Finanzen auf und gewannen vor allem ganz Paris mitsamt dem Hof
sowie halb Europa, z.B. auch Goethe, für seine Sache. Doch widerstand das
Parlement dem Druck der öffentlichen Meinung, rügte ihn (sowie auch Mme de
Goëzman) und erklärte ihn seiner Ehre verlustig, d.h. praktisch rechtlos (Febr.
74).
Das mit knapper Mehrheit beschlossene
Urteil fiel allerdings auf die Richter zurück: Goëzman war zur Witzfigur
geworden und das ganze Gericht so diskreditiert, dass Louis XV es auflöste und
zugleich die sehr vernünftige Justizreform, die ihm 1771 der Kanzler Maupeou
abgerungen hatte, rückgängig machte, womit der Rebell Beaumarchais ungewollt
zur Schwächung derjenigen Kräfte beitrug, die Frankreich zu reformieren
versuchten.
Als er hiernach ankündigte, er wolle
Revision einlegen, wurde er vom König gebeten, dies vorerst zu lassen und
stattdessen als Geheimagent nach London zu gehen um dort eine Schmähschrift
gegen die königliche Favoritin Mme Du Barry aus dem Verkehr zu ziehen.
Beaumarchais erledigte den Auftrag, fand aber bei seiner Rückkehr den König im
Sterben († 10. Mai) und den jungen Louis XVI, der ihn nicht mochte, wenig
geneigt ihn zu entlohnen.
Gottlob wusste er (oder gab er es nur
vor?) von einer anderen in London drohenden Schrift, die sich indiskret mit den
Ursachen (einer Phimose) und den potenziellen politischen Folgen der
Kinderlosigkeit des neuen Königs beschäftigte. Er ließ sich also wiederum nach
England schicken um mit dem Autor der Schrift zu verhandeln. Der flüchtete
angeblich, und zwar nach Holland und weiter nach Süden, bis ihn Beaumarchais
angeblich bei Nürnberg stellte und ihm mit Gewalt das Manuskript abnahm, das
ihm angeblich selber kurz darauf von Straßenräubern gestohlen wurde. Fest
steht, dass Beaumarchais in Wien auftauchte und bei Kaiserin Maria-Theresia,
der Schwiegermutter von König Louis, vorstellig wurde, dass er vom Kanzler Graf
Kaunitz aber für einen Hochstapler gehalten und festsetzt wurde, bis er auf
Intervention des franz. Botschafters freikam.
Zurück in Paris widmete er sich wieder
der Literatur und überarbeitete eine Komödie, die er schon 1771/72 verfasst und
erfolglos der Comédie Française angeboten hatte: La Précaution inutile ou le Barbier de Séville (=die unnütze
Vorsicht oder der Barbier von Sevilla). Es ist sein erstes Stück, in dem die
Figur des Figaro auftritt als Typ des intelligenten und tüchtigen Machers
kleinbürgerlicher Herkunft, der hier einem weniger intelligenten und tüchtigen
verliebten jungen Adeligen namens Almaviva bei der Übertölpelung eines
ältlichen Rivalen hilft. Die Uraufführung am 23. Febr. 75 war ein Misserfolg, vermutlich
weil Beaumarchais den Text mit Anspielungen auf allerlei Politisches und
Persönliches überfrachtet hatte. Nachdem er sie blitzschnell gestrichen und das
Ganze von fünf auf vier Akte gestrafft hatte, war die nächste Aufführung am 26.
2. ein Triumph. Die Druckfassung kam im Juli heraus samt einem längeren Vorwort
(Lettre modérée sur la chute et la
critique du Barbier de Séville = moderater Brief über den Misserfolg des B. de S. und die Kritik daran), worin
sich der frisch konsekrierte Komödienautor so selbstbewusst wie witzig über
seine Kritiker mokierte.
Er selber war inzwischen schon wieder
als Agent in London, wo er einem Franzosen, der in den Besitz geheimer
militärischer Planspiele für einen Angriff Frankreichs auf England gelangt war
und sie aufzudecken drohte, diese Papiere abkaufen sollte. Wieder war er
erfolgreich und bekam hiernach von der Regierung einen erheblich größeren
Auftrag: Er sollte, da er sich in London für die Sache der gegen England
revoltierenden Amerikaner interessiert und dem König Ende 1775 schriftlich
darüber berichtet hatte, seine Kontakte nutzen und den Aufständischen heimlich
die Unterstützung Frankreichs anbieten. Dieses nämlich war im Siebenjährigen
Krieg von England gedemütigt worden und hatte ihm Kanada und seine indischen
Besitzungen abtreten müssen.
Anfang 1776 gründete Beaumarchais mit
einem Startkapital der Regierung die pseudospanische Reederei Roderigue
Hortalez & Cie. und versorgte die Aufständischen effizient und vielleicht
kriegsentscheidend mit Waffen und Munition (die die jungen USA allerdings erst
seinen Erben und auch nur teilweise bezahlten). Zum Dank für seine
diplomatischen Verdienste wurde er noch 1776 gerichtlich rehabilitiert.
Im selben Jahr übte Beaumarchais sich
auch wieder als Autor und begann sein bestes und bekanntestes Werk, die Komödie
La folle journée, ou Le mariage de Figaro.
Diese zeigt in einer so bewegten wie witzigen Handlung den turbulenten
Hochzeitstag eines jungen bürgerlichen Schlossverwalters (zu dem der Barbier
Figaro mutiert ist), dem es trotz seiner Intelligenz und Tüchtigkeit nur mit
Mühe und Glück gelingt, seinen nunmehrigen Herrn, den eher dümmlichen, aber
arroganten und letztlich auch mächtigen Aristokraten Almaviva, davon abzuhalten
an seiner Verlobten das jus primae noctis auszuüben.
Beaumarchais selbst wurde allerdings im
selben Jahr 76 Objekt der klug eingefädelten und zielstrebigen Bemühungen einer
jungen Harfenistin, Marie-Thérèse de Willermaulaz, die Anfang 1777 eine Tochter
mit ihm bekam und 1786 schließlich seine dritte Ehefrau wurde.
Da Beaumarchais sich über die Comédie
Française ärgerte, die seinen Barbier de
Séville nach 31 Aufführungen kurzerhand absetzte, als er ein angemessenes
Honorar verlangte, gründete er im Sommer 77 eine "Société des auteurs
dramatiques", deren Vorsitz er übernahm und die das erste Beispiel einer
erfolgreichen Interessenvertretung von Autoren ist.
1778 lud er sich ein neues Projekt auf:
eine Gesamtausgabe der Werke des jüngst (am 30. 5.) verstorbenen Voltaire, mit
der er einer in Russland geplanten Ausgabe zuvorkommen wollte. Er gewann sogar
die finanzielle Unterstützung der Regierung. Da aber die Schriften Voltaires in
Frankreich offiziell verboten waren, installierte Beaumarchais eine Druckerei
jenseits der Grenze in Kehl. Die 70 Bände erschienen in der Tat ab 1783, doch
wurde das Unternehmen finanziell ein Fiasko.
1778 war das Stück um Figaros Hochzeit
fertig. Allerdings wirkten (obwohl die Handlung vorsichtshalber nach Spanien
verlegt war) viele Passagen, und vor allem Figaros langer, Beaumarchais'
eigenen schwierigen Aufstieg andeutender Monolog im letzten Akt, so
revoluzzerhaft, dass Louis XVI sich nach einer Lesung empörte und jegliche
Aufführung verbot. Erst nach vielen Änderungen und jahrelangen Demarchen, bei
denen er von zahlreichen Höflingen sowie der Königin unterstützt wurde,
erreichte Beaumarchais die Freigabe des Stücks.
Gleich die Erstaufführung am 27. 4. 84
war ein triumphaler Erfolg, zumal beim bürgerlichen Publikum. Offensichtlich
bestätigte das Stück die anti-aristokratischen Ressentiments der
vorrevolutionären Bourgeoisie, ohne dabei den Adel übermäßig zu erschrecken.
Der Name des Protagonisten Figaro
ging ins franz. Lexikon ein als (eher spaßhafte) Bezeichnung eines Frisörs;
seine Figur verblieb im kollektiven Gedächtnis der Nation als Prototyp eines an
Macht zwar unterlegenen, aber im Bewusstsein seines Rechtes aufsässigen, dazu
blitzgescheiten und witzigen Menschen. Dass das traditionsreiche Pariser Blatt Le
Figaro heute eher konservativ ist, erscheint somit als Ironie der Geschichte.
Beaumarchais war nun endgültig berühmt.
Auch war er inzwischen wieder reich, denn 1778 hatte er einen nochmaligen
Prozess gegen La Blache gewonnen. Der Höhepunkt seiner Karriere war jedoch
überschritten. Viele der zahlreichen um und nach 1780 von ihm initiierten
Projekte blieben in den Kinderschuhen stecken. Andere, so 1785 die Gründung
einer Firma zur Wasserversorgung von Paris oder der Versuch, die junge Frau
eines Bankiers namens Kornmann vor dessen Nachstellungen zu schützen, gelangen
zwar, trugen ihm aber Verleumdungskampagnen ein, die eher zu seinen Ungunsten
ausgingen. Denn erstmals fand Beaumarchais ebenbürtige Gegner, u.a. den
späteren Revolutionspolitker und Demagogen Mirabeau sowie einen geschickten
Anwalt namens Bergasse, den er seinerseits mit Broschüren attackierte und
später (ca. 1791) in Gestalt des Intriganten Bergeasse in sein letztes Stück, La Mére coupable (s.u.) aufnahm.
Die von ihm in dieser Zeit verfasste
und von Antonio Salieri vertonte Oper Tarare
wurde 1787 nur ein Achtungserfolg. Ein 1787/88 nahe der Bastille erbautes
prächtiges Haus mit Park brachte ihm lange Zeit mehr Ärger als Freude.
Die Revolution von 1789 begrüßte er
zunächst und versuchte den Gang der Dinge als Deputierter und Stadtverordneter
zu beeinflussen. Auch wurde 1792 ein neues, drittes Stück mit Figaro, L'autre Tartuffe ou la Mère coupable
(das später kaum mehr gespielt werden sollte), immerhin ein halber Erfolg. Im
selben Jahr 92 jedoch fand sich Beaumarchais, wie so viele anfängliche
Sympathisanten der Revolution, auf der Verliererseite. Er hatte im Frühjahr
gehofft, mit dem Konvent ins Geschäft zu kommen und angeboten, für die
Revolutionsarmee Gewehre aus Holland zu importieren. Als er sie nicht
fristgerecht liefern konnte, wurde er als "Feind der Republik"
beschuldigt und im August inhaftiert. Dank des Einsatzes einer ehemaligen
Geliebten, die jetzt mit einem Revolutionsrichter liiert war, kam er zwar bald
frei, wurde aber enteignet. Die 1793 verfasste autobiografische Schrift Les six époques beschreibt die Affäre.
Noch 1792 emigrierte Beaumarchais und
lebte, nach kurzen Stationen in Holland und England, längere Zeit ärmlich in
Hamburg, ohne Kontakt zu Frau und Tochter, die zeitweise ebenfalls inhaftiert
waren.
1796 konnte er heimkehren und wurde von
der neuen Regierung, dem Direktorium (directoire), rehabilitiert und leidlich
entschädigt. 1797 wurde La Mère coupable
wieder aufgenommen und Beaumarchais noch einmal etwas gefeiert. Allerdings war
er nun schwerhörig und gesundheitlich angeschlagen. Immerhin genoss er endlich
sein schönes Haus. Hierin starb er 1799 nach einem guten Abendessen nachts an
Herzversagen.
Sein Barbier de Séville wurde schon 1784 von Giovanni Paisello und dann
nochmals 1816 von Gioacchino Rossini als Oper vertont; Le Mariage de Figaro wurde 1784/85, d.h. praktisch direkt nach der
Pariser Erstaufführung, in Wien von Lorenzo da Ponte zu einem Libretto
verarbeitet und von Mozart vertont.
Eine neuere, gut lesbare und
wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biografie ist: Manfred Flügge, Figaros Schicksal (München 2001)
(Stand: Sept. 06)
Pierre-Ambroise François Choderlos de
Laclos (*18.10.1741 Amiens; †5.9.1803 Tarent).
Dieser in den franz.
Literaturgeschichten meist „Laclos“ heißende Autor verdankt seinen Ruhm einem einzigen
Buch, dem 1782 erschienenen Briefroman Les
liaisons dangereuses (= gefährliche
Bekanntschaften/Freundschaften/Liebschaften).
Laclos stammte aus einer erst kurz vor
seiner Geburt in den Adelsstand erhobenen Familie, die an ihren bürgerlichen
Namen Choderlos ein adeliges ‚de Laclos’ angefügt hatte. Über seine Kindheit
und Jugend ist so gut wie nichts bekannt. 1759, also mitten im Siebenjährigen
Krieg (1756-63), begann er eine Offiziersausbildung für die Artillerie, wo er
sich als nur Neuadeliger offenbar die besten Karrierechancen versprach. Zum
Fronteinsatz kam er wegen des Kriegsendes nicht mehr, vielmehr begann er in
häufig wechselnden Garnisonen (Toul, Straßburg, Grenoble, Besançon) eine eher
eintönige und schleppend verlaufende Karriere. Immerhin durfte er 1777
federführend in Valence die Artillerieschule einrichten, auf der etwas später
Napoleon Bonaparte ausgebildet wurde.
1779, denn seit 1775 befand sich
Frankreich mit England in einer Art Kaltem Krieg, wurde er auf die
Festungsinsel Aix vor dem Kriegshafen Rochefort abkommandiert, um die
Instandsetzung der maroden Befestigungsanlagen zu leiten. Diesen Posten empfand
er als Sackgasse und fühlte sich einmal mehr benachteiligt durch den
königlichen Erlass von 1774, der die obersten Offiziersränge allen Personen
verschloss, die nicht mindestens in vierter Generation adelig waren.
Nachdem er bis 1779 literarisch nur
dilettiert hatte mit anakreontischen Gelegenheitsgedichten, einigen erotischen
Erzählungen und einem Opernlibretto, verarbeitete er nun auf Aix und während
zweier längerer Paris-Urlaube (1780 und 81) seinen Groll, indem er den
Briefroman Les liaisons dangereuses verfasste.
In diesem eigentlich als Attacke gegen
den Hoch- und Hofadel gedachten Roman treiben zwei als Prototypen der aristokratischen
Libertinage vorgestellte Figuren, nämlich ein altadeliger Vicomte und eine
altadelige Marquise, zwei die Liebe nicht als Spiel, sondern als Ernst
betrachtende neuadelige Frauen getäuscht und enttäuscht in den Tod bzw. ins
Kloster. Da Laclos sich aber unvermerkt auch mit seinen als hochintelligent und
souverän konzipierten Bösewichtern identifiziert und auch sie als unwillentlich
liebend und damit als schließlich selbst getäuscht und enttäuscht darstellt,
geriet sein Roman zu einem Meisterwerk der psychologischen Analyse, das auch
heute noch faszinieren kann.
Zwar formuliert der Autor im Vorwort
die eindeutig moralische Absicht, er wolle seine Leser und vor allem Leserinnen
warnen vor den unkontrollierbaren Folgen der laxen, nur am Lustgewinn orientierten
adeligen Liebes- und Sexualmoral, der Libertinage, und er bestraft zum Schluss
auch pflichtgemäß die beiden Bösen, dennoch wurden die Liaisons bis weit
ins 19. Jh. meist als ein unmoralischer, ja pornographischer Text gelesen und
missverstanden und dementsprechend immer wieder verboten.
Laclos selbst wurde nach dem sehr
erfolgreichen, aber einen Skandal auslösenden Erscheinen des Buches auf einen
erneut wenig attraktiven Posten in La Rochelle versetzt (1783). Hier
schwängerte er 1784 die Tochter eines höheren Beamten und begann einen eher
skeptischen Traktat über die Verbesserungsmöglichkeiten der Frauenerziehung,
den er aber nicht fertigstellte, nachdem er Vater geworden war, danach
geheiratet und sich offenbar zufrieden im Hafen der Ehe eingerichtet hatte.
1786 erregte er einmal mehr Anstoß mit
einem offenen Brief an die Académie Française, in dem er darauf hinwies, dass
die hochgelobten Befestigungsanlagen des großen Festungsbauers Vauban
(1633-1707) in ihrer Konzeption inzwischen überholt waren.
1788 nahm Laclos seinen Abschied als
Offizier und wurde Sekretär von Herzog Louis-Philippe-Joseph d'Orléans,
(„Philippe Egalité“), dem Vater des späteren „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe. In
dessen Diensten bzw. im Zusammenhang mit dessen politischen Ambitionen während
der Revolution verfasste Laclos 1789-91 diverse politische Schriften. 1792
diente er dem Revolutionsregime zunächst als Verbindungsoffizier und wurde dann
zum General befördert. 1793, im Jahr der Schreckensherrschaft, geriet auch er
in Haft und in Köpfungsgefahr. 1794 rettete und befreite ihn der Sturz des
Diktators Robespierre. 1799 schloss Laclos sich dem neuen starken Mann Napoléon
an und wurde erneut General, wobei er 1800 mit der Rheinarmee zum ersten Mal an
Kriegshandlungen teilnahm.
Er starb in Tarent im Hauptquartier der
französischen Süditalienarmee an einer Darminfektion. Sein Grab wurde offenbar
nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft zerstört.
Ein zweiter von ihm projektierter Roman
kam über Pläne und Notizen nicht hinaus. Die Liaisons dagegen gelten zu Recht als einer der besten franz. Romane
überhaupt und wurden auch mehrfach verfilmt. (Eine Interpretation findet man in
meinem Sammelband Interpretationen,
Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter, 1997.)
(Stand: Jan. 10)
Donatien Alphonse François, Marquis de
Sade (*2.6.1740 Paris; †2.12.1814 Charenton/Paris).
Der in vielen Literaturgeschichten
entweder gar nicht oder nur en passant genannte Sade ist vielleicht einer der
meistgelesenen franz. Autoren der Neuzeit. Nach seiner Wiederentdeckung durch
Baudelaire um 1850 haben sich praktisch alle bedeutenden europäischen Literaten
und Intellektuellen der zweiten Hälfte des 19. Jh. und des frühen 20.
irgendwann, und oft sogar sehr intensiv mit ihm beschäftigt. Vermutlich ist
sein Vorbild nicht unbeteiligt daran, dass auch seriöse franz. Autoren (sowie
manche Autorin) sich nicht für zu schade hielten und halten, nebenher diesen
oder jenen pornografischen Text zu verfassen.
Der Name des „göttlichen Marquis“
(divin marquis), wie ihn seine Adepten gern nennen, ist mit dem Substantiv sadisme und dem Adjektiv sadique ins franz. Lexikon (und nicht
nur in dieses) eingegangen.
Sade stammte aus einem alten, wenn auch
nicht mehr reichen südfranz. Adelsgeschlecht und war über seine Mutter sogar
weitläufig mit den Bourbonen, d.h. der königlichen Familie, verwandt. Er kam
denn auch zur Welt im Pariser Stadtpalast der Condés, einer Seitenlinie des
Königshauses. Hier verbrachte er seine erste Kindheit, danach lebte er teils
bei Verwandten in der Provence, teils wieder in Paris, wo er von 10 bis 14 das
Collège Louis-le-Grand besuchte und dann eine Offiziersschule für junge
Hochadelige durchlief. Mit 15 wurde er Offiziersanwärter, 1757-63 diente er als
junger Offizier im Siebenjährigen Krieg und wurde mehrfach befördert.
Zurück in Paris verliebte er sich in
die jüngere Tochter eines reichen neuadeligen Gerichtspräsidenten, ließ sich
dann aber, um den materiellen Status seiner Familie aufzubessern, mit ihrer
älteren Schwester und deren guter Mitgift verheiraten. 1764 erbte er von seinem
Vater das vor allem einen ehrenhaften Titel bedeutende Amt des königlichen
Generalleutnants der kleinen Provinzen Bresse, Bugey, Valromey und Gex an der
Grenze zur Schweiz.
Hiernach endete allerdings sein bis
dahin eher glatter Lebenslauf. Denn er begann den erheirateten neuen Reichtum
zur Realisierung seiner bemerkenswerten sexuellen Phantasien zu nutzen, die den
Rahmen auch dessen sprengten, was man damals bei adeligen Libertins zu
tolerieren bereit war. Dies führte rasch zu immer neuen und immer schwerer
beizulegenden Problemen mit der Polizei, zu Verurteilungen zu Geld- und kurzen
Haftstrafen, zu Fluchten in die Provinz und ins Ausland, u.a. nach Holland,
sowie 1772 sogar zu einem in Abwesenheit gegen ihn verhängten Todesurteil.
Als er im gleichen Jahr auch noch seine
junge Schwägerin, die inzwischen Stiftsfräulein (chanoinesse) geworden war,
verführte und mit ihr nach Italien durchbrannte, ließ die Familie ihn fallen.
Nach einigen weiteren Skandalen erwirkte seine Schwiegermutter einen
königlichen Haftbefehl (lettre de cachet) gegen ihn. Er wurde entsprechend 1777
bei einer Rückkehr nach Paris festgenommen und ohne weiteren Prozess (denn der
König war ja Oberster Richter) und für unbestimmte Dauer zunächst in der als
Gefängnis dienenden Festung Vincennes inhaftiert, dann in die Stadtfestung
Bastille verlegt, wobei er als hochstehende Person jedoch keinen größeren
materiellen Entbehrungen ausgesetzt war. Das noch anhängige Todesurteil wurde
1778 kassiert.
Intellektuell waren die Jahre in
Vincennes und in der Bastille durchaus fruchtbar für Sade. Er ließ sich Bücher
bringen und las; und er wurde nun, nachdem er schon 1769 Reiseimpressionen aus
Holland, 1775 einen Reisebericht aus Italien und 1776 ein Büchlein über Rom,
Florenz und Neapel veröffentlicht hatte, endgültig zum Autor. Schreiben
allerdings tat er überwiegend heimlich und, um nicht durch hohen
Papierverbrauch Verdacht zu erregen, in winziger Schrift. Grund für die
Heimlichkeit waren die teilweise pornografischen Inhalte seiner Texte (deren
Abfassung ihm sicher auch als Kompensation seines unfreiwilligen Zölibates
diente), aber wohl mehr noch die agressive Kritik an Religion und Moral, mit
der er seine sadistischen Phantasien zu legitimieren versuchte. Seine zentralen
Werke aus dieser Zeit sind Les 120
journées de Sodome/Die 120 Tage von Sodom (verfasst wohl ab 1782), Aline et Valcour ou Le Roman philosophique (Reiseroman
in Briefform, 1786) und Les Infortunes de
la vertu/Die unglücklichen Schicksale der Tugend (philosophische Erzählung,
1787; 1791 zum Roman ausgeweitet).
Auch
zahlreiche Stücke entstanden in diesen Jahren. Sades Sicht von sich selbst als
eines bedeutenden Dramatikers fand jedoch keine Bestätigung: Nur zwei seiner
Dramen wurdenzu seinen Lebzeiten aufgeführt, blieben aber erfolglos; nur ein
einziges gelangte zum Druck.
Die Franz. Revolution brachte
unverhofft Bewegung in seine Existenz. Einige Tage vor dem 14. Juli 1789 soll
er aus seiner Zelle der vor der Bastille demonstrierenden Menge zugeschrien
haben: „Sie töten die Gefangenen hier drinnen!“ Angeblich habe dies dazu
beigetragen, dass die Pariser Bevölkerung den Sturm auf die Bastille unternahm,
mit dem die heiße Phase der Revolution begann.
Sade selbst wurde allerdings sofort nach
dem Vorfall verlegt in die Irrenanstalt von Charenton (heute ein Stadtteil von
Paris). Hierbei ging ihm das in einem Versteck befindliche Manuskript der 120 jours verloren. Es wurde erst 1904
wiederentdeckt und 1909 gedruckt.
Dank seiner Einweisung in die
Irrenanstalt konnte seine Ehefrau sich von ihm scheiden lassen.
1790 wurde Sade dank rechtlicher
Veränderungen, die die Revolution bewirkt hatte, entlassen. Hiernach verfasste
er, neben kleineren philophischen Schriften, sein letztes Stück, Oxtiern ou les effets du libertinage/O. oder
die Auswirkungen der Sittenlosigkeit, dessen Protagonist, ein skrupelloser
hochadeliger Lüstling, am Ende, ganz untypisch für Sade, seine Strafe findet.
Das „drame“ wurde 1791 dreimal aufgeführt und wenig später, kaum beachtet, als
einziges seiner Stücke gedruckt. Ebenfalls 1791 entwickelte er aus der o.g.
Justine-Erzählung den Roman Justine ou
les Malheurs de la vertu/J. oder die unglücklichen Folgen der Tugend (gedruckt
erst 1797).
Wie nicht wenige liberale franz. Adelige
hatte auch Sade zunächst mit der Revolution sympathisiert. Er schloss sich
sogar den radikalen Jakobinern an und bekleidete zeitweilig höhere Posten, was
es ihm z.B. ermöglichte, seine Schwiegereltern aus einer gefährlichen Lage zu
retten. Während des Terrorregimes 1793 wurde er jedoch als zu gemäßigt
verdächtigt, inhaftiert und 1794 sogar noch zum Tode verurteilt. Ihn rettete
der Sturz des Diktators Robespierre (28. Juli). Das neue Regime des Directoire
ließ ihn drei Monate später frei.
Sade musste nun die Reste seines durch
die Revolution dezimierten Besitzes verkaufen und lebte schlecht und recht von
Gelegenheitsarbeiten, denn die diversen Werke, die er jetzt publizierte,
brachten kaum etwas ein. Es waren dies, neben dem schon älteren Roman Aline et Valcour (1793-95), insbes. das
schwer klassifizierbare Buch Les
instituteurs immoraux, ou La Philosophie dans le boudoir/Die unmoralischen
Lehrmeister oder Philosophie im Boudoir (1795) und die Romane Justine und La Nouvelle Justine [...] suivie de l'histoire de Juliette sa sœur, ou
Les prospérités du vice/Die neue J. [...] gefolgt von der Geschichte ihrer
Schwester J., oder Der Erfolg des Lasters (1797) sowie Les crimes de l'amour/Die Verbrechen der Liebe (1800).
Auch
seine Stücke blieben weiterhin unaufgeführt, nachdem 1792 sein zweites zur
Aufführung gelangtes, Le Suborneur/Der Verführer, ebenfalls keinen
Erfolg gehabt hatte.
Einige Zeit nach der Machtergreifung
von Napoléon Bonaparte (1801) wurde Sade wieder inhaftiert, dieses Mal als
Autor moralisch anstößiger Bücher. 1803 landete er erneut in Charenton, das er
nicht mehr verließ.
Hier
wurde er zunächst relativ zivil behandelt und konnte sich schreibend betätigen.
So verfasste er die biografischen Romane La Marquise de Gange (1813
gedruckt) sowie Adélaïde de Brunswick, princesse de Saxe und Histoire
secrète d'Isabelle de Bavière (1812 und 1813, beide erst postum
publiziert). Zudem durfte er mit Anstaltsinsassen als Schauspielern mehrere
Theaterstücke aufführen, worunter allerdings keine eigenen waren. Gegen Ende
seines Lebens erhielt er auf Anordnung des Innenministers Einzelhaft mit
Isolation und dazu Schreibverbot.
Das wohl am weitesten verbreitete der
Werke Sades ist Les instituteurs immoraux
ou La Philosophie dans le boudoir (1878 auch als erster Sade-Text ins Dt.
übersetzt). Es schildert die etwa einen Nachmittag und Abend füllende sexuelle
und intellektuelle Initiation eines adeligen jungen Mädchens durch eine adelige
Frau und zwei adelige Männer plus einem gut bestückten Bauernburschen. Hierbei
führen die vier Hauptfiguren in den nötigen Erholungspausen philosophische
Gespräche, in denen sich als „unmoralischer Schulmeister“ (und weitgehend als
Sprachrohr des Autors) der homosexuelle Hedonist und Atheist Dolmacen
hervortut. Leitmotiv seiner Philosophie ist die wohl von d'Holbach übernommene
Vorstellung vom Recht des Individuums, seinen Wünschen nachzustreben, was Sade
interpretiert als Recht einer sozialen und geistigen Elite – letztlich der
Hocharistokratie, der er sich zugehörig fühlt – ungehemmt ihren Wünschen nach
Lustgewinn zu folgen.
(Stand: Nov. 09)
Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre (*19.1.1737 Le
Havre; †21.1.1814 Éragny-sur-Oise).
Dieser heute fast vergessene Autor war vom
späten 18. bis zum frühen 20. Jh. jedem gebildeteren Franzosen von Kindheit an
ein Begriff dank seinem als Kinderbuch verbreiteten Roman Paul et Virginie.
Bernardin (sein eigentlicher Name ist
ein bürgerliches Saint-Pierre) wuchs auf in bescheidenen Verhältnissen in Le
Havre, erhielt eine passable Schulbildung und studierte Straßen- und Brückenbau
an der neugegründeten École des Ponts et Chaussées. Anschließend trat er als
Ingenieur in die französische Armee ein, die gerade an der Seite Österreichs den
Siebenjährigen Krieg (1756-63) gegen Preußen und England führte. Er musste
jedoch 1762, als schwierige Person verschrien, seinen Abschied nehmen. Hiernach
führt er eine unstete, von nebulösen Projekten und deren Scheitern bestimmte
Existenz mit Reisen und längeren Aufenthalten in Russland und Deutschland. 1768
reiste er mit einem Auftrag als Planungsingenieur auf die damals französische
Insel Mauritius (Île de France) im Indischen Ozean, fand aber kein rechtes
Betätigungsfeld vor und beschäftigte sich statt dessen mit der Fauna und Flora
der tropischen Insel, deren exotische Schönheit ihn faszinierte.
1771 kehrte er zurück, ließ sich
mittellos in Paris nieder und begann zu schriftstellern. Als er nicht den
erhofften Kontakt zu den Encyclopédisten fand, befreundete er sich mit dem
zurückgezogen am Stadtrand lebenden Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und wurde
dessen Jünger. Sein erstes Werk: Voyage à
l'Isle de France (=Reise zur Île de F., 1773), hatte keinen Erfolg.
Beachtlich dagegen war der der 1784 veröffentlichten dreibändigen Études de la nature (=Naturstudien,
1784), deren schwärmerische Bewunderung und häufig äußerst spekulative
Erklärung der „Natur“ offenbar den Zeitgeist traf.
Der dritten Neuausgabe der Études (1788) hängte Bernardin zaghaft
als vierten Band den kleinen Roman Paul
et Virginie an, der überraschend gut einschlug und ab 1789, in der Regel
separat gedruckt, eine Neuauflage nach der anderen erlebte (viele davon
illustriert), übersetzt, dramatisiert und vertont wurde und als Vorlage für
unendlich viele Gemälde und Stiche diente. In meist gekürzten und „gereinigten“
Ausgaben etablierte es sich rasch als klassisches Kinderbuch (das z.B. Flaubert
um 1850 wie selbstverständlich als romaneske Lektüre Emma Bovarys anführt).
Der Roman thematisiert die
Schwierigkeiten, die ein ständische Gesellschaft Liebesehen in den Weg zu legen
pflegt, und erzählt die Geschichte zweier Halbwaisen, die zusammen mit ihren
Müttern in der Naturidylle der Insel Mauritius unbeschwert von
Klassengegensätzen miteinander aufwachsen, bis eine adelige Großtante Virginies
diese nach Frankreich holt und so die sich inzwischen liebenden jungen Leute
trennt – für immer; denn Virginie, die sich nicht standesgemäß verheiraten
lassen, sondern Paul treu bleiben will, wird, von der erbosten Tante
zurückgeschickt, auf der Rückreise Opfer eines Schiffbruchs, und Paul wird
durch die desillusionierenden Vorträge, die ihm ein befreundeter alter Mann
über die starre Klassengesellschaft im Frankreich des Ancien Régime hält, so
frustriert, dass er nach Virginies Tod den Lebensmut verliert und stirbt.
Dank des Erfolgs der Études und vor allem von Paul et Virginie, erreichte Bernardin
endlich auch gesellschaftliche Anerkennung. So war er 1789 als Hauslehrer des
Dauphins im Gespräch. 1792 heiratete er die Tochter seines Verlegers. 1794
wurde er als Professor für Moral an die neugegründete Pariser
Lehrerbildungsstätte (die spätere École Normale Supérieure) berufen. 1795 wurde
er Mitglied des soeben durch Zusammenlegung mehrerer Akademien geschaffenen
Institut de France. 1797 wurde er zum Direktor des botanischen Gartens ernannt.
Naturgemäß verfasste er auch in den 25
Jahren nach Paul et Virginie noch
etliche kürzere und längere Werke, darunter die Erzählungen La chaumière indienne (=die
Indianerhütte) und Le café de Surate (beide
1790) oder die dreibändigen Harmonies de
la nature (postum 1815), doch blieben sie weitgehend unbeachtet.
(Eine Interpretation des Romans findet
man in meinem Sammelband Interpretationen,
Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1997.)
(Stand: Jan.
07)
Antoine de Rivarol (*20.6.1753
Bagnols; †13.4.1801 Berlin).
Dieser einst europaweit bekannte
Literat kam aus einer italienischstämmigen südfranzösischen eher
kleinbürgerlichen Familie, erhielt aber eine passable Schulbildung und ging
1777 mit 24 nach Paris, wo er sich als Chevalier de Parcieux ausgab.
Er erwies sich rasch als talentierter
Satiriker, dem sich einige Zeitschriften öffneten, z.B. der Mercure de France. Vor allem aber zeigte
er sich als begnadeter Salon-Animateur, dem sich kaum eine Tür in der
Hauptstadt verschloss. Hatte er anfangs Schwierigkeiten wegen seines falschen
Chevalier-Titels bekommen, den er sogar aufgeben musste, regte sich wenige
Jahre später kaum Protest, als er sich selbstbewusst sogar als Comte (Graf)
betitelte.
In ganz Europa berühmt wurde Rivarol
1784, gerade 30jährig, als er den Preis der Berliner Akademie errang mit seinem
Discours sur l'universalité de la langue
française, worin er mit diesen oder jenen rationalen, vor allem aber vielen
pseudorationalen Argumenten den damals in Europa allgemein akzeptierten Vorrang
des Französischen als Literatur-, Wissenschafts-, Hof- und Diplomatensprache zu
erklären und zu legitimieren versuchte.
Während der Revolution betätigte er
sich – wie so viele Literaten – als Journalist, und zwar als Monarchist und
Verteidiger der Verhältnisse des Ancien
Régime. 1792 wich er dem Druck der revolutionären Kräfte und floh, zuerst
ins österreichische Brüssel, dann 1794 weiter nach London und 1795 nach
Hamburg, einer Hochburg der franz. Emigration.
1800 besuchte er Berlin und ließ sich
dort noch einmal feiern. Er starb kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach
Frankreich, wo inzwischen Napoleon an die Macht gekommen war und, weil er
Offiziere und Verwaltungsbeamte für die von franz. Truppen okkupierten Gebiete
brauchte, den Emigranten goldene Brücken baute.
(Stand: Jan. 07)
André (de) Chénier (*29.10.1762 in Galata bei Konstantinopel; †24.7.1794
Paris).
Hierzulande kaum bekannt, gilt er vielen
Franzosen als der beste franz. Lyriker seines Jh. In seiner kurzen
Schaffenszeit versuchte er sich jedoch auch als Epiker und war in den
Revolutionsjahren vor allem als politischer Publizist tätig. Einen Teil seines
späten Nachruhms verdankt er sicher dem tragischen Umstand, dass er in die
Todesmaschinerie des Terrorregimes um Robespierre geriet und, eben 31jährig,
auf der Guillotine endete.
Er war anderhalb Jahre älterer Bruder von Marie-Joseph
Chénier (1764-1811, s.u.), der in den 1790er Jahren als Autor, insbes.
Dramatiker, sehr erfolgreich war, heute aber fast vergessen ist.
André Chénier wurde geboren als vorletztes von fünf Kindern
eines jung nach Konstantinopel (=Istanbul) ausgewanderten Tuchhändlers aus
einer südfranz. Kaufmannsfamilie mit adeligen Wurzeln, der dort zu Wohlstand
gelangt war, eine Frau griechischer Herkunft geheiratet hatte und zuletzt
nebenberuflich als franz. Konsul amtierte.
1765 (im Siebenjährigen Krieg) ging der Vater wegen
schlechter Geschäfte mit Frau und Kindern zurück nach Frankreich, und zwar
zunächst nach Paris, wo die Familie sich kurz danach vorübergehend auflöste.
Denn während die Mutter mit den drei größeren Kindern in der Hauptstadt blieb,
entschwand der Vater für mehrere Jahre in die marokkanische Hafenstadt Salé, wo
er den nunmehr hauptberuflichen Posten des französischen Konsuls erhalten
hatte. André und Bruder Marie-Joseph wurden zu einem Onkel in Carcassonne,
einem Tuchhändler, in Pflege gegeben.
1773 kamen beide wieder nach Paris, wo sie am Collège de
Navarre eine solide humanistische Bildung erhielten. Daneben begegneten sie in
dem als „griechisch“ firmierenden Salon ihrer gesellschaftlich aktiven Mutter
Literaten, Künstlern, Gelehrten, Naturforschern und — denn die antike griechische Kunst
wurde gerade wiederentdeckt — Archäologen. Hier auch las Chénier ab ca. 1778 seine ersten
Gedichte vor, die in der klassizistischen, an griechischen und lateinischen
Vorbildern geschulten „anakreontischen“ Manier der Zeit gehalten waren.
Nach einem enttäuschenden Versuch als adeliger
Offiziersanwärter (cadet gentilhomme) in Straßburg 1782/83, machte er mit einem
befreundeten Brüderpaar Bildungsreisen durch die Schweiz (1784) und Italien
(1785). Danach wohnte er wieder als intellektuell vielseitig interessierter
junger Lebemann bei seiner Familie in Paris und schriftstellerte, wobei er, wie
schon zuvor, ermutigt wurde von Gästen seiner Mutter, z.B. dem seinerzeit
bekannten anakreontischen Lyriker Lebrun, genannt Lebrun-Pindare (=Pindar). Vor
allem verfasste Chénier in diesen Jahren Lyrik: bucoliques (Hirtengedichte), élégies,
épigrammes, odes, hymnes und poèmes. Ein Teil dieser Gedichte,
insbes. der Elegien, ist inspiriert von seiner schwärmerischen Liebe zu
„Camille“, hinter der sich die verheiratete Michelle de Bonneuil
verbirgt.
Neben Lyrik im engeren Sinne schrieb er einige Langgedichte
im Stil der Epoche, u.a. das poetologische Überlegungen anstellende Fragment L’Invention
(1787). Weiterhin begann er zwei groß angelegte wissenschaftlich intendierte
Lehrgedichte (Hermès und L'Amérique), die im Sinne der Aufklärung
das naturkundliche bzw. das geografische Wissen der Zeit in Epenform darstellen
sollten, aber unvollendet blieben.
Ende 1787 nahm Chénier, um etwas hinzuzuverdienen und sich
vielleicht eine Karriere zu eröffnen, einen Posten als Sekretär des mit der
Familie befreundeten neuernannten franz. Botschafters in London an. Da er
jedoch, wie viele Franzosen der Zeit, England und die Engländer nicht mochte,
fühlte er sich dort unwohl und fuhr häufig zu Besuchen nach Hause. Zu einem
nennenswerten Einfluss englischer Literatur oder Philosophie auf sein Denken
und Schaffen kam es nicht.
Im April 1790 ließ er sich wieder in Paris nieder, wo die
politischen Ereignisse sich überschlugen und wo sein Bruder sich soeben einen
Namen als politischer Dramatiker gemacht hatte. Er schloss er sich den
gemäßigten Revolutionären an und betätigte sich als Versammlungsredner und
Publizist für die Sache einer konstitutionellen Monarchie und meritokratischen
Gesellschaftsverfassung.
Da er die Revolution mit der im Sept. 90 verabschiedeten
Verfassung als erfolgreich beendet betrachtete, attackierte er ab 1791, meist
im königstreuen Journal de Paris, mit agressiven Versen und Pamphleten
die radikalen Revolutionäre, die Jakobiner, denen sich auch sein Bruder
Marie-Joseph angeschlossen hatte. Als diese im August 1792 die Macht eroberten,
sah sich Chénier immer mehr zu einer Existenz im Untergrund verurteilt. Seine
Versuche, sich aktiv an der Rettung des Königs zu beteiligen, der im September
abgesetzt und im Dezember angeklagt worden war, blieben erfolglos. Nach der
Köpfung des Königs im Januar 93 flüchtete Chénier aus Paris und lebte versteckt
bei Freunden in Versailles. Aus dieser Zeit datiert z.B. die zum politischen
Mord aufrufende Ode à Marie-Anne Charlotte Corday, worin er die
Attentäterin verherrlicht, die am 13.7.93 den radikalen Politiker Jean-Paul
Marat erdolcht hatte. In Versailles auch entstanden die Oden an „Fanny“, die
inspiriert sind von der Verliebtheit in seine Gastgeberin, der (wiederum
verheirateten) Françoise Le Coulteux.
Anfang 1794 wurde er während eines Besuchs bei Freunden in
Passy nahe Paris als unbekannter Verdächtiger verhaftet und nach seiner
Identifizierung eingekerkert und zum Tode verurteilt. Die Anklage stützte sich
auf die zutreffende Annahme, er sei an einer Aktion beteiligt gewesen, mit der
während des Prozesses gegen den König Abgeordnete des Nationalkonvents dafür
gewonnen oder auch dazu bestochen werden sollten, gegen das Todesurteil zu
stimmen.
Auf seine Hinrichtung wartend schrieb Chénier Lyrik, die er
mit seiner schmutzigen Wäsche aus dem Gefängnis schmuggeln und seinem Vater
zukommen lassen konnte. Es waren überwiegend scharfe polit-satirische Gedichte
(iambes) aber auch die berühmte Ode à une jeune captive, worin der Autor
in der Rolle einer jungen Frau spricht, die sich gegen ihren bevorstehenden Tod
auf dem Schafott innerlich aufbäumt.
Am 25. Juli wurde Chénier
guillotiniert, zwei Tage vor dem Sturz des Diktators Robespierre und dem Ende
der „Terreur“. Sein Leichnam landete vermutlich in einem Massengrab auf dem
Cimetière Picpus. Die Demarchen verschiedener Leute, ihn zu retten, waren
umsonst geblieben und auch sein Bruder Marie-Joseph (der als Abgeordneter des
Nationalkonvents für die Köpfung des Königs gestimmt hatte) konnte, da er bei
Robespierre in Ungnade gefallen war, nichts für ihn tun.
Zu seinen Lebzeiten war Chénier nur
kurze Zeit als Publizist und Pamphletist bekannt, sein im engeren Sinne
literarisches Schaffen blieb so gut wie ungedruckt und vieles war bei seinem
frühen Tod noch Fragment. Obwohl er im 18. Jh. lebte und schrieb, ist er
insofern zu einem Autor des 19. geworden, als seine Lyrik erst 1819 mit dem
Erscheinen einer Sammelausgabe einer breiteren Leserschaft zugänglich wurde und
dann die junge Dichterschule der Romantiker sowie nach 1850 die der Parnassiens
stark beeinflusste. Für beide Dichterschulen war Chénier vorbildhaft dank der
Schönheit seiner Sprache, der spielerischen Leichtigkeit seiner Alexandriner,
der Ausdruckskraft seiner Bilder, der Authentizität der dargestellten Gefühle
und vielleicht auch dank der nostalgischen Grundstimmung, die seine Verse
prägt.
Die tragische Figur Chéniers hat naturgemäß viele Autoren
und Künstler bewegt. Sie steht im Mittelpunkt der Oper Andrea Chenier
von Umberto Giordano (1896).
(Stand: Sept. 08)
Marie-Joseph Chénier
(*11.2.1764 in Konstaninopel; †10.1.1811 in Paris)
In Deutschland praktisch unbekannt und
auch in Frankreich heute nur noch ein Name im Schatten seines anderthalb Jahre
älteren Bruders André (s.o.), galt Chénier um 1795 als bedeutendster Dramatiker
seiner Generation und auch mit seiner Lyrik als wichtiger Autor. Seine durchweg
politisch motivierte und intendierte literarische Produktion spiegelt über mehr
als 20 Jahre hinweg sehr direkt die Geschichte der Revolutionszeit.
Chénier wurde geboren im heutigen
Istanbul als Sohn eines dort zum Geschäftsmann gewordenen französischen
Adeligen und einer Angehörigen der damals noch starken griechischen Minderheit
der Stadt. 1765 ging die Familie wegen schlechter Geschäfte des Vaters nach
Frankreich, zunächst nach Paris, wo sie sich kurz danach vorübergehend
auflöste. Denn während die Mutter mit den drei größeren Kindern in Paris blieb,
entschwand der Vater für mehrere Jahre in die marokkanische Hafenstadt Salé, wo
er den Posten des französischen Konsuls erhalten hatte. Marie-Joseph und André
wurden zu einem Onkel in Carcassonne in Pflege gegeben. 1773 kamen beide wieder
nach Paris, wo sie am Collège de Navarre eine solide humanistische Bildung erhielten
und im Salon ihrer geistig interessierten Mutter Literaten, Künstler und
Gelehrte kennen lernten.
1781, also eben fünfzehnjährig, begann
Chénier eine militärische Karriere als Kadett in einem Dragoner-Regiment in
Niort. Zwei Jahre später entschloss er sich um, ging wieder nach Paris zu
seiner Familie und folgte seinen literarischen Neigungen, ganz wie sein Bruder
André, der im selben Jahr einen noch kürzeren Versuch bei einem Regiment in
Straßburg abgebrochen hatte.
Schon 1785 bekam Chénier, dank der
Vermittlung des mit der Familie befreundeten Dramatikers Palissot, sein erstes
Stück aufgeführt, die „heroische Komödie“ Edgar, roi d'Angleterre, ou Le
Page supposé. Es fiel aber durch, ebenso 1787 sein zweites Stück, die
Voltaire imitierende Tragödie Azémire.
1788 stellte Chénier sein nächstes
Stück fertig: die in der berüchtigten Bartholomäusnacht 1572 spielende
historische Tragödie Charles IX ou La Saint-Barthélemy (1790 gedruckt
und 1797 umgearbeitet zu Charles IX ou L'École des rois). Es wurde zwar
von der Comédie Française angenommen, jedoch von der Zensur nicht freigegeben.
Denn die Figuren (ein wankelmütiger König, eine ihn manipulierende Königin, ein
machtgieriger hochadeliger Höfling, ein skrupellos die Interessen der Kirche
verfolgender Kardinal, ein rechtschaffener, aber machtloser Kanzler
bürgerlicher Herkunft und ein am Ende ermordeter Philosoph und Reformer)
verkörperten gar zu offenkundig politische Akteure im Frankreich der Zeit, wo
mit der Einberufung der Generalstände im August 88 die Revolution eingesetzt
hatte. Erst Ende 89, nach langen in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen
über die Freiheit des Theaters, in die Chénier selbst mit zwei Streitschriften
eingriff, und in einer politischen Situation, die, nach dem Zusammentreten der Generalstände,
dem Auszug des Dritten Standes im Juni, der Etablierung der Assemblée nationale
und dem Sturm auf die Bastille im Juli, stark verändert war, konnte das Stück
aufgeführt werden. Es erlebte nun, auch an Provinztheatern, einen triumphalen
Erfolg und wurde zum meistgespielten, naturgemäß auch heftig angefeindeten
französischen Drama der frühen 1790er Jahre. In der Titelrolle begründete der
Schauspieler François Talma seinen Ruhm.
Ähnlich wie dem Charles IX erging
es Anfang 1789 einem weiteren Stück Chéniers, Henri VIII ou La Tyrannie,
das ebenfalls von der Comédie Française angenommen wurde, aber von der noch
intakten Zensur nicht freigegeben wurde wegen der Darstellung eines (wenn auch
englischen) Königs als autokratischer „Tyrann“.
1790 verfasste Chénier die ebenfalls
politisch motivierte Tragödie Brutus et Cassius ou les derniers Romains,
eine Bearbeitung von Shakespeares Julius Caesar. Das Stück um die
Ermordung des angehenden Monarchen durch überzeugte Republikaner blieb jedoch
unaufgeführt. Literarhistorisch ist es interessant als einer der vielen
Versuche, Shakespeare nach den Regeln der klassischen französischen Tragödie zu
glätten und so den Franzosen akzeptabel zu machen.
Im April 1791 wurde endlich der Henri
VIII aufgeführt, allerdings im Théâtre de la République, das kurz zuvor von
Talma und radikal-revolutionären Kollegen aus der Comédie Française
ausgegründet worden war.
Hier kam zwischen 1791 und 94, teils
mehr, teils weniger erfolgreich, eine ganze Serie historischer Tragödien
Chéniers zur Aufführung, die sämtlich politisch motiviert waren und sich kaum
verschlüsselt auf jeweils aktuelle Ereignisse und Entwicklungen der bewegten
Zeit bezogen: Es waren 1792 das die Willkürjustiz des Ancien Régime anprangernde
Jean Calas ou L’École des juges und das den tragischen römischen
Volkstribun verherrlichende Caius Gracchus, 1793 das die Auflösung der
Klöster rechtfertigende Fénelon ou Les Religieuses de Cambrai und 1794 Timoléon.
Politisch intendiert wie seine Stücke
war auch der größte Teil der umfangreichen Gelegenheits- bzw. Gebrauchslyrik,
die Chénier Anfang der 1790er Jahre zu vielerlei Anlässen verfasste, insbes.
für die öffentlichen Feiern und Feste, an deren Organisation er mitwirkte. Hierzu gehören z.B. eine Ode sur la mort de Mirabeau (1791),
die Strophes qui seront chantées au Champ de la Fédération le 14 juillet
1792, eine Hymne sur la translation du corps de Voltaire, eine Hymne
à l'Être suprême (1793), ein Chant des Sections de Paris (1793), eine
Hymne à la liberté, pour l'inauguration de son temple dans la commune de
Paris (1793), die Hymne du 10 août (1794), usw.
Der bekannteste dieser Texte, die von
verschiedene Komponisten vertont wurden, wurde der Chant du départ, den
Chénier im Kriegsjahr 1793 anlässlich des Ausrückens von Revolutionsarmeen
verfasste.
Spätestens 1791 wurde Chénier auch
direkt politisch aktiv. Im Gegensatz zu Bruder André, der die Revolution mit
der Etablierung der konstitutionellen Monarchie als erfolgreich beendet betrachtete,
wurde er Mitglied im radikalrepublikanischen „Club“ (einer Art Partei) der
Jakobiner. 1792 wurde er als Abgeordneter in die Convention nationale gewählt
(Nationalkonvent), wo er dem Ausschuss für Volksbildung angehörte. Auf seinen
Antrag wurde die Einrichtung von Primarschulen beschlossen; 1793 war er
maßgeblich beteiligt an der Auflösung der königlichen Akademien (u.a. der
Académie Française). Naturgemäß gehörte er Ende 1792 auch zur Mehrheit der
Abgeordneten, die das Todesurteil für König Louis XVI befürworteten.
Während der anschließenden
Radikalisierung der Revolution im diktatorischen Terrorregime Robespierres
(1793/94) geriet Chénier ins politische Abseits. Sein Stück Timoléon
wurde vom Diktator als gegen ihn gerichtet erachtet und verboten. Auch hatte er
nicht mehr den nötigen Einfluss, um für seinen im März 1794 inhaftierten Bruder
André eintreten und dessen Köpfung (25. Juli) verhindern zu können.
Als nach dem Sturz Robespierres Ende
Juli 94 sich das Regime des Directoire (1795) etablierte, wurde Chénier zum
Mitglied des Conseil des cinq cents ernannt, einer der beiden Kammern des
neugeschaffenen Parlaments. Eine bedeutendere politische Karriere blieb ihm
allerdings versagt, weil er die restaurativen Tendenzen zu bekämpfen versuchte,
die unter dem Directoire einsetzten und in den Folgejahren an Kraft gewannen.
Bei der Gründung der
Nachfolgeorganisation für die aufgelösten ehemaligen Akademien, des Institut de
France (1795) gelang es ihm, einen Platz in dessen dritter „Klasse“ (Literatur
und schöne Künste) zu erhalten.
Als 1795 der Timoléon wieder
aufgenommen wurde, sahen Gegner Chéniers darin das verschlüsselte Eingeständnis
einer Schuld am Tod seines Bruders André. Chénier wehrte sich mit den
leidenschaftlichen Versen der Épître sur la calomnie (1796), die vielen
als sein Meisterwerk gilt.
Unter dem Regime des Consulat, das 1799
auf das Directoire folgte, wurde er zum Mitglied des Tribunats berufen, einer
der beiden Kammern des nächsten neuen Parlaments.
1801 machte er Front gegen das
Wiedererstarken des Katholizismus unter dem neuen starken Mann Napoléon
Bonaparte, der den Ausgleich mit der Kirche suchte. Er attackierte die
Galionsfiguren dieser Entwicklung, insbes. Chateaubriand (s.u.), mit den
satirischen Schriften Le docteur Pancrace und Les nouveaux saints.
1802 griff er mit der Petite épître à Jacques Delille den damals sehr
bekannten Lyriker an, der vom Revolutionär zum Konservativen mutiert war und
sich in den Augen Chéniers dem neuen Herrn opportunistisch andiente.
Trotz seiner wachsenden inneren Distanz
zu Napoleon wurde Chénier 1803 zum Generalinspekteur der „Université“ ernannt,
d.h. des unter diesem Namen neu geschaffenen Gesamtsystems des französischen
Bildungswesens.
Sein Drama Cyrus, das 1804 von
Napoleon zu dessen Kaiserkrönung bestellt und in diesem Rahmen aufgeführt
wurde, kam weder beim weder beim Publikum an, noch gefiel es dem neuen Kaiser
selbst, der Chéniers verdecktes Plädoyer für eine republikanische Staatsform
wenig goutierte. Es wurde nur einmal aufgeführt.
Nachdem Chénier sich 1805 in seiner
Elegie La Promenade erneut als Republikaner geoutet und 1806 in einer Épître
à Voltaire Napoleon indirekt vorgeworfen hatte, die Ideale der Revolution
zu verraten, wurde er seines Amtes als Inspekteur enthoben. Immerhin wurde ihm
eine auskömmliche Pension gewährt.
In den Folgejahren schrieb er weitere
Stücke, die aber weder aufgeführt noch gedruckt wurden: die Tragödien Philippe
II, Œdipe roi und Œdipe à Colone (nach Sophokles), das Drama Nathan
le Sage (nach Lessing) und die Komödie Ninon.
Daneben hielt er (1806/07) am Pariser
Athéneé eine Vorlesungsreihe über die Literatur seiner Zeit, das Tableau
historique de l'état et du progrès de la littérature française depuis 1789
jusqu'à 1808, in dem er die Ideale der Aufklärung verfocht und die
beginnende Romantik kritisierte.
1811 wurde das historische Stück Tibère,
wo er, in der Figur des römischen Kaisers Tiberius, Napoleon kritisiert, sein
letztes Werk.
Sein freigewordener Sessel im Institut
de France fiel an Chateaubriand, der ihn als Vergeltung für die Attacken von
einst in seiner Laudatio praktisch unerwähnt ließ.
Da fast alle Texte Chéniers in einem
bestimmten weltanschaulichen Sinne zweckbestimmt waren, d.h. die
zeitgenössischen Zuschauer/Hörer/Leser gegen die Monarchie und für die Republik
einzunehmen versuchten, wurden sie noch zu Lebzeiten des Autors durch den Gang
der politischen Entwicklung obsolet. Auch die spätere
Literaturgeschichtsschreibung, die eher am Idealbild einer zweckfreien,
apolitischen Literatur orientiert war und ist, hat Chénier trotz dieses oder
jenen Versuchs einer Ehrenrettung nicht den Platz in der Literaturgeschichte
gewährt, den er aufgrund seiner großen Bedeutung zu einem gewissen Zeitpunkt
verdient.
(Stand: Aug. 08)
Als Anhang folgt der Text meines
Beitrags zu einem Wuppertaler Zech-Kolloquium im Oktober 2007. Er erscheint
demnächst in einem Sammelband:
François Villon und Paul Zechs
Lasterhafte
Balladen und Lieder
(1931/1943/1962)
Fangen wir an mit einem Zitat: „Die Balladen
und Lieder des François Villon sind ein unvergängliches Zeugnis der
Weltliteratur. Nie zuvor und auch später nicht mehr sind in der französischen
Dichtung Liebe und Hass, Tod und Vergänglichkeit, Hunger und Armut, Laster und
Ausschweifung so unmittelbar frech, so derb, humorvoll und zugleich so
erschütternd Sprache geworden. [...] Paul Zech, dem bekannten
expressionistischen Dichter, haben wir die Nachdichtung der Balladen und Lieder
Villons zu verdanken, die uns bis heute Geist und Stil dieser Verse unverwelkt
und aggressiv bewahrt hat.“ Die Sätze stehen seit 1962 im Vorsatzblatt der
dtv-Ausgabe der Lasterhaften Balladen und Lieder des François
Villon und sind damit mehr als 320.000-mal gedruckt. Sie prägen
hierzulande nicht nur das Bild des originalen Villon, sondern auch das des
Villon-Buchs von Zech. Wird dieses irgendwo genannt, so meist als eine
Übertragung, die den Inhalt der Villonschen Texte relativ getreu und vor allem
ihren Geist und Stil auf kongeniale Weise wiedergibt.
Kaum ein Klischee jedoch ist falscher
als dieses. Zechs Villon ist weder getreu noch kongenial; er ist
vielmehr das Produkt eines Autors, der sich hineinprojiziert in einen anderen,
fremdsprachlichen Autor, den er vor allem aus bereits vorhandenen Übertragungen
kennt und dessen Biographie und Texte er schöpferisch frei als Material für
weitgehend eigene Werke benutzt.
Zech selber sah das durchaus so und
nannte seinen Villon entsprechend auch nicht Übersetzung oder
Übertragung, sondern ‚Nachdichtung’. Doch haben seine Verlage wenig getan, um
sein äußerst freies Verhältnis zu den originalen Texten kenntlich zu machen. Es
war ihnen offenbar recht, dass Zech zurücktrat hinter Villon. Denn sichtlich
war schon 1930, beim Druck der Erstausgabe, das Label ‚Villon’ attraktiver als
das Label ‚Zech’.
*
Aber das ist hier nicht unser Thema.
Betrachten wir vielmehr das Verhältnis Zech-Villon und danach das Verhältnis
Zech-Zech, d.h. das Verhältnis zwischen der Erstausgabe oder Urversion von 1931
und den späteren Versionen, insbesondere der dtv-Ausgabe 1962, die mit bisher
27 Auflagen ein deutscher Lyrik-Klassiker geworden ist.[1]
Zunächst zu Villon. Er ist geboren 1431
in Paris und hinterließ nur gut 3300 Verse, als er 1463, knapp 32 Jahre alt,
für immer verschwand.[2]
Sein erstes datierbares Werk, das Kleine Testament,
stammt von Ende 1456. Es ist eine Kombination aus den Parodien eines höfischen
Abschiedsgedichts, eines Testaments und einer Traumerzählung.[3]
Wohl im Herbst 61 begann Villon in oder nahe Paris sein
Hauptwerk, das Große Testament, einen teils elegischen, teils
satirischen Text, in den er 20 Gedichte einfügte, die er teilweise zeitgleich
schrieb und z.T. wohl als ältere Produkte fertig übernahm. Wahrscheinlich 1462
und sicher ebenfalls in oder nahe Paris verfasste er ein halbes Dutzend
Balladen im Rotwelsch der Gauner. Daneben sind aus dem Zeitraum 1456 bis 63
insgesamt 16 Gelegenheitsgedichte erhalten, die er aus verschiedenem Anlass an
verschiedenen Orten verfasste. Sein Gesamtwerk lässt sich also gliedern in die
vier Komplexe: 1) das Kleine und 2) das Große Testament, 3) die
Rotwelschballaden und 4) die zeitlich und örtlich verstreut verfassten
Gelegenheitsgedichte.[4]
Schon zu seinen Lebzeiten und vermehrt
nach seinem Tod gelangten Texte Villons in Anthologien. Offenbar aus solchen
stellte 1489 der Pariser Drucker Pierre Levet die erste Druckausgabe zusammen,
die rund neun Zehntel des heute bekannten Gesamtwerks umfasst. Levet gliedert
in die genannten vier Komplexe. Er bringt zuerst das Große Testament, 2) einen
Block von 8 Gelegenheitsgedichten, 3) die Rotwelschballaden und 4) das Kleine
Testament.[5]
Die Ausgabe war ein Erfolg und wurde häufig nachgedruckt. Um
1520 begannen die Drucker, vermeintliche weitere Villon-Texte anzufügen. Auch
die erste moderne Edition von 1832 schleppt diese apokryphen Texte noch mit.
Sie nimmt als Anhang aber auch zwei neu entdeckte echte Gedichte auf, die zu
den Gelegenheitsgedichten gehören. Die Villon-Ausgaben der nächsten Jahrzehnte
innovieren kaum, d.h. sie drucken weiterhin auch Apokryphen mit ab.
Eine Wende bedeutet 1892 die Edition
von Auguste Longnon. Longnon scheidet die inzwischen als unecht erkannten
apokryphen Texte aus. Im Gegenzug nimmt er mehrere z.T. erst kurz zuvor
entdeckte echte Villon-Gedichte neu auf, die ebenfalls zu den
Gelegenheitsgedichten zählen. Seine Gliederung des Ganzen ist etwas verwirrend.
Er druckt zunächst das Kleine und dann das Große Testament. Hiernach bringt er
einen Block Gelegenheitsgedichte, der z.T. dem alten Achterblock von 1489
entspricht. Danach lässt er als einen neuen Block das Gros der später
entdeckten Gedichte folgen, dann die Rotwelschballaden und fügt schließlich
einen kleinen Block mit weiteren erst später entdeckten echten Gedichten sowie
auch einem zweifelhaften an, die er aber sämtlich als „Villon zugeschrieben“
betitelt. Zech besaß diese Edition.[6]
Sie vermittelte ihm ganz offensichtlich die Idee, dass die
Texttradition bei Villon noch immer im Fluss sei, dass man seine Texte im
Gesamtkorpus hin und her schieben dürfe, und vor allem, dass man ihm bestimmt
noch weitere, bisher unbekannte Gedichte zuschreiben könne.
Ein ganz anderes, für Zech wohl
wichtiges Buch war die Gedichtanthologie, die 1501 der Pariser Drucker Antoine
Vérard herausgab mit dem Titel Le Jardin de Plaisance (=der Garten
Wohlgefallens). Die Anthologie enthält auch eine Serie von acht
Villon-Gedichten, darunter zwei, die aus dem Großen Testament entnommen sind.[7]
Von Vérard könnte Zech die Idee bezogen haben, dass man die
insTestament eingefügten Gedichte dort auch herauslösen kann.
Wirklich bedeutsam für Zech jedoch
waren zwei andere Editionen. Die eine war die von Wolfgang v. Wurzbach, 1903.
Wurzbach druckt Villon im französischen Original, fügt aber einen deutschen
Kommentar hinzu und eine auf dem Kenntnisstand der Zeit befindliche deutsche
Einführung. Er eliminiert die Rotwelschballaden, die schon für Spezialisten
schwierig und für normale Leser unverständlich sind, und er vereint die
Gelegenheitsgedichte zu nur einem Komplex. Sein Korpus enthält so die drei Teile:
1 und 3 die beiden Testamente und dazwischen die verstreut verfassten Gedichte.[8]
Die andere Edition, und letztlich die
wichtigste Textbasis Zechs, war die erste umfassend angelegte deutsche
Villon-Übertragung, die 1907 Karl Klammer, alias K. L. Ammer, publizierte.
Klammer basiert auf v. Wurzbach und hat wie dieser drei Teile, nämlich die
beiden Testamente und dazwischen einen Block Gelegenheitsgedichte. Klammer ist
jedoch nicht lückenlos. Im Großen Testament überspringt er acht schwierige Strophen und vier sehr
manieristische Gedichte. Von den Gelegenheitsgedichten überträgt er nur ein
gutes Drittel, nämlich sechs.[9]
Hatte Klammer 1907 noch den Titel Des
Meisters Werke gewählt, der zwar seltsam, aber halbwegs zutreffend war, so
gibt er seiner Neuauflage 1930 den völlig unzutreffenden Titel Balladen.[10]
Der Grund war sicher der, dass Villon durch den
Plagiatstreit um die Villon-Songs der Dreigroschenoper 1929 endgültig das Image eines Liederautors
erhalten hatte – ein Image, das ursprünglich wohl Richard Dehmel kreiert hat,
der 1893 zwei Villon-Balladen übertrug und sie jeweils als „Lied“ etikettierte,
wohl in der irrigen Meinung, Villon habe seine Balladen zur Vertonung bestimmt
oder gar selber vertont.[11]
*
Bekanntlich war Zech, als er gegen 1930
den Villon begann,[12]
gerade von Plagiatsaffären gebeutelt. Vielleicht deshalb beschloss er, sein
Textkorpus völlig anders zu gliedern als Klammer. Zwar wählte auch er einen
Titel, der dem Liedermacher-Image von Villon entsprach, nämlich: Die
Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon, doch wollte er
offenbar den Anschein einer Gesamtwerkübertragung vermeiden und den Eindruck
erwecken, er konzentriere sich auf die im engeren Sinne lyrischen Texte
Villons.[13]
Das Inhaltsverzeichnis seines Büchleins
listet denn auch quasi gleichberechtigt 37 Texte auf. Die meisten, nämlich 30,
sind als „Ballade“ deklariert, 5 weitere sind sonstwie als Gedichte erkennbar.
Die Nummern 26, Das kleine Testament, und 35, Das große Testament
, sind das zwar nicht, sie wirken in der Liste aber so, als seien sie ebenfalls
lyrische Texte.
Halten wir als erstes Fazit fest: Zech
macht 1930 aus dem mehrteiligen, heterogenen Textkorpus Villons ein
einteiliges, homogen wirkendes; und er überführt ein Korpus, das größtenteils
nicht eigentlich aus Lyrik besteht, in ein scheinbar ausschließlich lyrisches.
*
Aber sehen wir nun etwas näher. Ich
sagte, die beiden Testamente wirken im Inhaltsverzeichnis Zechs ganz so, als
seien sie ebenfalls lyrische Texte. Schlägt man sie auf, so findet man zwar Verse
und Strophen, erkennt aber rasch ihren andersartigen Charakter, nämlich den
einer Mischung aus autobiografischen, reflektierenden und satirischen Passagen.
Vergleicht
man sie mit den Originalen, sieht man als erstes, dass die Testamente Zechs
erheblich kürzer sind als die von Villon. Zechs Kleines hat nur 112 statt 320 Verse, ist also
nur ein Drittel so lang. Sein Großes hat nur gut 450 statt über 2000
Verse, ist also nicht mal ein Viertel so lang. Zech versucht dem Rechnung zu
tragen, indem er beide Texte in einer Klammer hinter den Titeln als
„Bruchstück“ bezeichnet.[14]
Schaut man genauer, so zeigt sich, dass
Zech im Kleinen Testament den Hauptteil Villons, die Testamentparodie,
sehr stark verkürzt, und den dritten Teil, die Traumerzählungsparodie, vollständig
weglässt. Den ersten Teil dagegen, den Abschied im Zorn von der spröden
Geliebten, baut er aus, beseitigt allerdings den Parodie-Charakter des
Villonschen Textes. Mit dem Großen Testament verfährt er ähnlich. Auch hier verarbeitet er vor allem den langen
elegischen Eingangsteil. Ein anderer Grund für die Verkürzung des Großen
Testaments ist der, dass Zech fast alle von Villon dort eingefügten
Gedichte herausnimmt. Verschwunden sind sie aber nicht allesamt. 12 von ihnen,
oder genauer: vage erkennbare Pendants von ihnen, sind selbständige Texte
geworden und finden sich in der Reihe der 37 Texte wieder. Hierbei übernimmt
Zech die Anordnung Villons übrigens nicht, sondern ändert sie nach eigenem
Gusto.
Betrachtet man nochmals das
Inhaltsverzeichnis, so findet man, dass 15 der 37 Titel mit einem Sternchen
markiert sind. Hierzu sagt eine Anmerkung Zechs: „Die mit einem * bezeichneten
Balladen sind dem Jardin de Plaisance u. a. gleichzeitigen Sammelwerken
entnommen und aus der Urform übertragen worden.“ Der Leser muss also denken,
Zech habe zusätzliche Quellen entdeckt und aus ihnen zusätzliche, bisher
unbekannte Villon-Gedichte bezogen. Nur der Kenner konnte wissen, dass die
genannten Sammelwerke zwar in der Tat auch Texte von Villon enthalten, aber
keinen, der nicht längst bekannt und z. B. bei Longnon zu finden war. Und nur
der Profi war imstande zu sagen, dass Zechs Sternchen-Gedichte auch in jenen
Sammelwerken keine Vorbilder haben, also pure Zech-Texte sind.
Bleibt noch ein Rest von acht Titeln.
Sechs von ihnen sind Pendants von verstreut verfassten Gedichten Villons, und
zwar fast ausschließlich von denen, die schon Klammer übertragen hatte.[15]
Zwei Zechsche Gedichte sind undefinierbaren Ursprungs, d.h.
eigene Produkte, nur ohne Stern.
Vermerken wir also als weiteres Fazit:
Zech kürzt in der Urversion die Villonschen Testamente erheblich. Er nimmt die
im Großen Testament enthaltenen Gedichte heraus, eliminiert knapp die
Hälfte und setzt die verbliebenen nach eigenem Gusto an andere Stellen. Von den
verstreuten Gedichten übernimmt er nur ein gutes Drittel. Die insgesamt knapp
20 Villon-Gedichte, die er nicht verarbeitet hat, ersetzt er durch 17 eigene
Produkte. Die Rotwelschballaden lässt er weg, ganz wie v. Wurzbach und Klammer.
Vielleicht sollten die vier Räuberballaden unter den Sternchen-Gedichten ein
Ersatz für sie sein.
Die Urversion kam, wie erwähnt, Anfang
31 heraus. Sie wurde 1947, also kurz nach Zechs Tod, unverändert nachgedruckt
von seinem Sohn Rudolf in Berlin.[16]
Sie war es, die um 1950 Klaus Kinski in die Hände fiel und
ihm als Textbuch gedient hat.[17]
*
Wie man weiß, hatte Zech die Manie,
auch seine schon gedruckten Werke verbessern zu wollen. Seinem Villon erging
es nicht anders. Eine erste neue Version ist als gebundenes Typoskript erhalten.
Dieses ist am Ende des Vorworts datiert „Buenos Aires, Sommer 1943“ und wird
auf dem Titelblatt als „Neue veränderte und vermehrte Ausgabe“ bezeichnet. Es
ist von Zech selbst mit Füller und Tinte nochmals leicht revidiert und mit dem
Vermerk „Handexemplar“ versehen.[18]
Bekanntlich hatte im April 31 der
Villon-Kenner und –(Prosa)Übersetzer Joseph Chapiro in einer bitterbösen
Rezension Zech vorgeworfen, er habe Villon gewissenlos verfälscht und geradezu
„Betrug am Leser“ verübt.[19]
Man sollte also vermuten, dass Zech beim Überarbeiten
größere Texttreue angestrebt hat. Dies ist aber nicht der Fall. Zwar „verändert
und vermehrt“ er, wie angegeben, die neue Version, mehr Genauigkeit ist aber
nicht erkennbar.[20]
Er scheint vielmehr ohne systematischen Rückgriff aufs
Original gearbeitet zu haben.
Das Handexemplar trägt den stark
veränderten Titel FRANÇOIS VILLON. Das Kleine und das Grosse Testament, auch
die Balladen und lasterhaften Lieder. In freier deutscher Nachdichtung von Paul
Zech. Wie man sieht, hält es Zech für angebracht, die Bezeichnung
‚Nachdichtung’ durch das Wörtchen ‚frei’ zu präzisieren; vor allem aber scheint
er sich der Dreiteilung des Villonschen Textkorpus anzuschließen, wie sie v.
Wurzbach eingeführt und Klammer von dort übernommen hatte.
Das Inhaltsverzeichnis, gleich danach,
listet allerdings ein viergeteiltes Korpus auf mit den Komplexen: 1) Das
Kleine Testament, 2) Die Balladen aus dem Großen Testament, 3) Das
Große Testament und 4) Die späteren Balladen und lasterhaften Lieder.
Als Erstes fällt auf: im Unterschied zur Urversion erscheinen die
beiden Testamente nun als andersgeartete, offenbar größere Texte. Dies wird
auch daran sichtbar, dass die beiden anderen Komplexe, Die Balladen aus dem
Großen Testament und Die späteren Balladen und Lieder, je eine Serie
Untertitel haben (15 bzw. 22).
Weiter fällt auf, dass die Gedichte von
Komplex 2 als aus dem Großen Testament entnommen deklariert sind (was
weitgehend zutrifft) und dass die Gedichte von Komplex 4 als „später“ figurieren.
Hier finden sich die Pendants von verstreuten Gedichten Villons, vor allem aber
finden sich hier die Sternchen-Gedichte, nunmehr aber ohne Stern und ohne die
Erklärung dazu.
Blättert man das Handexemplar durch, so
stellt man fest, dass nicht nur die Gliederung des Ganzen sich geändert hat,
sondern dass in der Tat auch die Textmenge deutlich vermehrt ist.
So sind einige Gedichte (mit und ohne
Pendant bei Villon) neu hinzugekommen[21]
und die beiden Testamente stark gewachsen. Vor allem das Kleine hat sich
von 14 Strophen auf 44 verlängert und ist nun länger als das Original, und zwar
obwohl Zech dessen dritten Teil, die Traumerzählung, erneut übergeht.[22]
Das Große Testament umfasst statt 57 Strophen nunmehr
67. Hinter den Titeln beider Testamente steht denn auch nicht mehr
„Bruchstück“, sondern „Auswahl“.
Auch in Sprache und Stil zeigt die
Version des Handexemplars mancherlei Veränderungen. Insgesamt ist eine Tendenz
zur Moralisierung erkennbar. Hierauf komme ich später zurück.
Halten wir fest: Zech gibt 1943 dem
Handexemplar einen Titel, der dem Inhalt genauer entspricht. Er verlängert das
gesamte Korpus erheblich und teilt die eigentlich lyrischen Texte in zwei
Komplexe auf. Hierbei ordnet er die gänzlich eigenen Produkte meist in Komplex
2 und suggeriert mit dessen Obertitel „Die späteren Balladen und lasterhaften
Lieder“ den Eindruck, er übertrage neuentdeckte spätverfasste Werke Villons.
*
Ich sagte, dass die Urversion von 1931
1947 unverändert nachgedruckt wurde. Nur fünf Jahre später, 1952, erschien im
thüringischen Rudolstadt eine Neuausgabe des Villon, übrigens hübsch
illustriert von Karl Stratil. Sie heißt: Die lasterhaften Lieder. Die
Balladen. Aus dem Kleinen und Großen Testament. In freier Nachdichtung von Paul
Zech.[23]
Vergleicht man die Rudolstädter Version
mit der Urversion, so stellt man eine starke Veränderung fest. Vergleicht man
sie dagegen mit dem Handexemplar, so sieht man rasch, woher sie stammt, nämlich
von dort. Dies gilt uneingeschränkt jedoch nur für die ersten drei Viertel des
Textes. Zwar beruht auch das letzte
Viertel sichtlich auf dem Handexemplar, doch finden sich immer wieder Gedichte,
in denen passagenweise oder sogar gänzlich der Text der Urversion
wiederhergestellt worden ist. Meine vorläufige Erklärung ist die, dass hier ein
Redaktor oder Lektor am Werk war, der sich das Recht herausgenommen hat, Zech
mit sich selbst zu korrigieren.
*
Wie nun steht es mit der dtv-Ausgabe
1962, der, die wir alle kennen und die im deutschen Sprachraum schlicht als der
Villon figuriert?
Schon der erste Blick zeigt, dass auch
sie sich deutlich unterscheidet von der Urversion. Sie ist aber auch nicht
identisch mit Rudolstadt und nicht mit dem Handexemplar, wenngleich sie
textlich eng mit beiden verwandt ist, vor allem dem letzteren, weil sie nirgends
auf die Urversion zurückgreift. Ich vermute, dass sie auf einem weiteren
Durchschlag vom Handexemplar basiert, den Zech noch 1946 selber bearbeitet hat,
als er kurz vor seinem Tod die fantasievolle Villon-Biografie verfasste, die
wir aus der dtv-Ausgabe kennen.[24]
Sehen wir erneut vor allem das
Inhaltsverzeichnis. Es listet, ganz wie im Handexemplar und in der Rudolstädter
Version, vier Komplexe auf, die allerdings umgestellt sind. Denn statt der
alternierenden Reihenfolge Testament-Gedichte-Testament-Gedichte ist die
Reihenfolge nun umschließend, d.h. Gedichte-Testament-Testament-Gedichte. Bei
Gedichtkomplex 1 ist der Hinweis auf das Große Testament getilgt; 1
heißt jetzt „Die gesammelten frühen Lieder und Balladen“. Komplex 4 ist
ebenfalls umgetauft, wenn auch nur leicht. Er heißt nun „Die gesammelten
späteren Lieder und Balladen“. Geht man die Titellisten der Gedichte durch, so
sieht man, dass Zech einmal mehr diverse Gedichte umgestellt und auch welche
von einem Komplex in den anderen verschoben hat. Die dtv-Ausgabe zeigt somit
eine Version, die Zech, wohl hauptsächlich mit Schere und Klebstoff, neu
komponiert hat im Sinne einer Chronologie und inneren Entwicklung des Werkes,
einer Chronologie und Entwicklung allerdings, die höchstens hier und dort dem originalen
Villon entspricht und ansonsten Zechs Erfindung ist.
Halten wir fest: Zechs Villon
von 1931 und auch die Versionen von 1943, 52 und 62 sind letztlich
eigenständige Werke, für die der originale Villon nur ein Ausgangspunkt war.
*
Sehen wir hierzu ein paar
Textbeispiele.
Ich beginne mit dem kürzesten Gedicht
Villons, dem wegen seines buchstäblichen Galgenhumors berühmten ‚Vierzeiler’.
Der Originaltext lautet (orthografisch
leicht modernisiert):
Je suis François, dont il me poise, / Ich bin François,
was mich bekümmert,
Né de Paris emprés Pontoise. / gebürtig aus Paris nahe Pontoise.
Et de la corde d’une toise / Und von
dem Strick von einer Elle [Länge]
Sçaura mon col que mon cul poise. /
wird mein Hals erfahren, was mein Hintern wiegt.
Wie man sieht, imaginiert sich das
lyrische Ich aus der Gegenwart der Todeszelle in die Zukunft des Moments der
Urteilsvollstreckung. Die Verben der beiden Hauptsätze stehen entsprechend das
erstere im Präsens und das zweite im Futur. Nehmen wir zunächst die Übertragung
Klammers. Sie lautet:
Ich
bin Franzose, was mich bitter kränkt,
geboren in
Paris, das bei Pontoise liegt,
an einem
klafterlangen Strick gehenkt,
und spür am
Hals, wie schwer mein Hintern wiegt.
Klammer versucht zwar, halbwegs getreu
zu übertragen. Der fatalistisch-lapidare Humor Villons gelingt ihm aber nicht.
Vor allem begeht er den Lapsus, dass er das Ich aus der Todeszelle an den
Galgen transferiert und damit die zwei Zeitebenen des Originals wenig
realistisch reduziert auf die Gegenwart des soeben Gehenkten. Zech macht daraus
1930:
Ich
bin Franzos, was mir verdammt nicht passt,
geboren zu Paris, das klein und hässlich unten liegt.
Ich hänge nämlich meterlang von einem Ulmenast
herab und spür am Hals: wie schwer mein Podex wiegt.
[1] Die bibliographischen Daten der
diversen Ausgaben enthält das Literaturverzeichnis.
[2] Zu Leben und Schaffen Villons vgl.
z.B. meine Biographie critique oder meine Villon-Seite unter
www.pinkernell.de/romanistikstudium.
[3] Zum Kl. Testament vgl.
Verf., Lais.
[4] Eine vorzügliche und leicht zu
beschaffende Ausgabe ist die von Claude Thiry. Das Gros der
Gelegenheitsgedichte wird behandelt in Verf.: F. V. et Charles d’Orléans
und Biographie critique.
[5] Laut dem Literaturverzeichnis
seiner Erstausgabe 1931 (S. 149 f.) verfügte Zech über diese Edition in einer
Facsimile-Ausgabe. Mehr als angeblättert haben wird er sie kaum.
[6] Er verfügte übrigens auch über die
ca. fünf anderen Editionen des 19. Jh. Im o.g. Literaturverzeichnis listet er
jedenfalls sechs Editionen von 1832 bis 1892 auf, die „im Besitz des
Herausgebers“ seien. Möglicherweise hatte er sie z.T. an seinem Arbeitsplatz,
der Berliner Stadtbibliothek, entwendet.
[7] Auch über sie verfügte Zech in einer
Facsimile-Edition.
[8] Seine für ein breiteres Publikum
gedachte Edition von 1911 wird Longnon ebenfalls nur dreiteilig gliedern und
die Rotwelschballaden fortlassen. Ebenfalls fortgelassen hatte sie schon 1533
der große Lyriker Clément Marot in seiner auf humanistischen Prinzipien
basierenden Villon-Ausgabe. Diese Ausgabe erlebte zwar mehrere Auflagen, das
Feld behaupteten jedoch die Drucke mit den Rotwelschballaden und den Apokryphen.
[9] Klammer dürfte an die 90% des
Villonschen Werks verarbeitet haben. Eine instruktive Darstellung seinesVillon
gibt Pöckl: Rezeption, S. 149-161.
[10] Zu den häufigen Änderungen der
Titel der deutschen Villon-Versionen vgl. Verf., Metamorphosen.
[11] Vgl. Dehmel, Liebe. Im
Gegensatz zur mutmaßlichen Vorstellung Dehmels hatte sich die Ballade in
Frankreich um 1400 von der Musik abgekoppelt und war ein Genus geworden, dessen
Inhalte beliebig waren und sich nur noch in Ausnahmefällen zur Vertonung
eigneten. Die im deutschen Sprachraum verbreitete Annahme, Villon habe in
Kneipen selbstverfasste und -vertonte Lieder vorgetragen, ist weder durch
Aussagen von ihm selbst, noch durch Dokumente, noch durch die Existenz
entsprechender Texte in seinem Werk belegbar.
[12] Im letzten Satz der „Notwendigen
Anmerkung“, mit der Zech seine Einführung abschließt, behauptet er übrigens (S.
52), er habe seinen Villon schon im Sommer 1914 begonnen. Ich vermute,
dass er schwindelt. Auch von der Villon-Version, die Bieber (Bibliographie,
S. 47) für 1911 als Privatdruck aufführt, fand ich trotz vieler Recherchen
keine Spur. Wahrscheinlich liegt Pöckl (Rezeption, S. 164-166, sowie
167) richtig mit seiner Vermutung, wonach die 1928 erschienene „Umdichtung“ des
Testament von Jakob Haringer, die Zech nachweislich als eine Quelle benutzt
hat, ein entscheidender Anstoß war. Ein anderer war zweifellos der erwähnte
Plagiatstreit um die Villon-Songs von Brecht.
[13] En passant sei vermerkt, dass
Villon nur ein einziges seiner knapp 50 Gedichte als „Lied“ etikettiert.
[14] Zu Beginn der o.g. „Notwendigen
Anmerkung“ (S. 50) gibt Zech an, er habe das Kleine Testament um neun
und das Große um elf Strophen gekürzt. Diese Zahlen sind auch dann
unzutreffend, wenn man die Textmenge abzieht, die schon bei Klammer fehlt.
[15] Die einzige Ausnahme ist Die
Ballade von den Vogelfreien, für die Zech auf Dehmel zurückgreift.
[16] Neu ist dort lediglich eine
fünfseitige Einführung, die Zechs eigenen, fast fünzigseitigen
Einführungstexten vorangeht und „G.-K.“ gezeichnet ist. Die Begleittexte zu den
sukzessiven Editionen des Zechschen Villon wären ein reizvolles Thema
für eine eigene Studie.
[17] Aufnahmen der Rezitationen Kinskis
zeigen, dass er Zechs Texte kaum verändert hat. Nur einige der wenigen
Abweichungen sind sichtlich gewollt, die meisten erklären sich als Gedächtnisfehler.
[18] Das „Handexemplar“ ist Teil des
Zech-Konvoluts der Berliner Akademie der Künste und hat dort die Signatur
54/66/21. Ein gebundener kompletter Durchschlag mit dem Vermerk „Exemplar No.
2“ ist Teil des Zech-Konvoluts im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Wie ich
vermute, hat Zech sogar noch einen weiteren Durchschlag angefertigt (s.u.).
[19] Vgl. das Kapitel „François Villon
im Spiegel von fünf Jahrhunderten“ in: Sturm, Villon, Bd. II, S. 23-167,
hier S. 156. Vor allem wohl auf den aus Russland stammenden Juden Chapiro reagiert Zech im Vorwort zum Handexemplar
mit seinem Hieb auf ungenannt bleibende „sehr östlich geborene Skorpione“, die
mit ihrem „Kauderdeutsch“ über ihn „hergefallen“ seien.
[20] Sie hätte ihn auch überfordert, denn seine Französischkenntnisse waren wohl letztlich nur mäßig und die ältere Sprache beherrschte er allenfalls so weit, dass er sich per Intuition ein Bild vom Inhalt kürzerer Texte machen konnte.
[21] Die Quelle für die hinzugekommenen
Gedichte mit Pendant bei Villon ist sichtlich die eher hölzerne, aber komplette
Übertragung Martin Löpelmanns von 1937. An dessen Texten (S. 111, 143, 169 und
185 ) inspirieren sich Zechs neue Gedichte Ballade an eine treulose Freundin,
Ballade von den Lästerzungen, Rondell und Ballade von den
allgemeinen Redensarten. Pendants zum zweiten und dritten Gedicht hätte
Zech übrigens auch bei Klammer finden können.
[22] In meinen Augen ist das weitgehend
ohne Rückgriff auf Villon ausgesponnene Kleine Testament der
persönlichste Text in Zechs Büchlein geworden.
[23] Sie
wurde 1959 in Stuttgart als Lizenzausgabe nachgedruckt. Der sonst sehr zuverlässige Sturm (Villon,
Bd. I, S. 184) verzeichnet den Nachdruck schon für 1952. Später spricht er aber
(nach meinen Recherchen korrekt) nur von 1959 (Bd. II, S. 156).
[24] Im Archiv des dtv scheint die
Druckvorlage nicht mehr vorhanden zu sein.
[25] François mit „Franzose“ zu übersetzen ist in
der Tat möglich. Wie die meisten Interpreten glaube aber auch ich, dass Villon hier
(mit welchen Hintergedanken auch immer) seinen Vornamen meint.
[26]
Auch Pöckl (Rezeption) zitiert in seinem Zech-Kapitel (S. 167-177) die
hier besprochene Ballade als besonders augenfälliges Beispiel von Zechs
inhaltlichen und stilistischen Abweichungen von Villon. Er berücksichtigt aber
nur die dtv-Version und bezieht den Text von Klammer in seine Überlegungen
nicht ein.